Helmut Dahmer: Freud, Trotzki und der Horkheimer Kreis
Der Erbe eines Millionenimperiums, Felix Weil, beschließt, sein Geld nicht im individuellen Hedonismus zu verschwenden, sondern finanziert Marxist:innen. Ausgehend von der ersten marxistischen Arbeitswoche 1923, hier trafen sich für den Marxismus des 20. Jahrhunderts bedeutsame Namen wie Karl Korsch, Georg Lukács und Friedrich Pollock, formierte sich die Kritische Theorie im von Weil finanzierten Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Der erste Institutsvorsteher war der Austromarxist Carl Grünberg. Ein Meilenstein war die von Henryk Grossmann herausgegebene Schrift Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Gleichzeitig wurde an der ersten Gesamtausgabe der Schriften von Marx und Engels (MEGA) gearbeitet. Die eigentliche Geschichte der Kritischen Theorie beginnt mit der Übernahme des Instituts durch Max Horkheimer im Jahr 1931.
Ausgangspunkt für Horkheimer war ein interdisziplinäres Forschungsprogramm, welches ökonomische und psychoanalytische Theoriebildung vor dem Hintergrund sozialphilosophischer Reflexionen verbinden wollte. Neben empirischen Studien wie Erich Fromms Text Arbeiter und Angestellte am Vorabend des dritten Reichs finden sich sozialphilosophischen Aufsätze wie Horkheimers Text zu Traditionelle und kritischer Theorie.
Insbesondere die Darstellung der Psychoanalyse als Schnittstelle zwischen „Außenwelt“ (Über-ich) und triebhaftem „Innenleben“ (Es), welche miteinander in Konflikt stehen und dadurch das Individuum (Ich) erzeugen, ist Dahmer beeindruckend gelungen. In der Interpretation der Kritischen Theorie geht es der Psychoanalyse nicht nur um Therapie in einer falschen Gesellschaft, sondern sie sollte es ermöglichen, Menschen als von Konflikten durchzogene Individuen zu begreifen.
Bolschewistischer Kern
Zumindest marxistisch geprägten Anhänger:innen der Kritischen Theorie ist ihr bolschewistischer Kern nicht entgangen. Immer wieder taucht die bolschewistische Politik als Bezugspunkt auf: 1956 spekulierten Adorno und Horkheimer über die Notwendigkeit eines neuen „streng leninistischen Manifests“. Der siegreiche Kampf gegen den Faschismus hing für Adorno davon ab, „Lenins Fähigkeit, den gesellschaftlichen Hebelpunkt zu entdecken und zu nutzen: mit minimaler Kraft die unermessliche Last des Staates zu heben“, wieder zu erlernen. Auch theoretische Begriffe der Kritischen Theorie wie „Staatskapitalismus“, „verwaltete Welt“ oder „Rackets“ haben Anleihen in den bolschewistischen Monopolkapitalismustheorien.
Dahmer streicht nun hervor, dass ein Name in den Reflexionen fehlt: Trotzki. Paradox ist das nicht nur aufgrund der geteilten jüdischen Herkunft, sondern vor allem aufgrund der teilweise ähnlichen theoretischen Ansätze: Die Auseinandersetzung mit Freud, die dissidente Position innerhalb der Arbeiter:innebewegung, die Theorie des Faschismus. Es ließen sich viele Verbindungslinien zwischen Trotzki und der Kritischen Theorie finden. Diesen spürt Dahmer nach und zeigt, dass die Kritische Theorie in ihren Faschismusanalysen die Lektüre Trotzkis „stillschweigend voraussetzte“.
Trotzki und die Kritische Theorie
Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Trotzki hätte offene Kritik an der Sowjetunion bedeutet, zu welcher Adorno und Horkheimer aus taktischen Gründen nicht bereit waren. Erstens hatten sie sich verständigt, dass die Sowjetunion den Krieg gewinnen muss und darum nichts publiziert wird, was ihr schadet. Zweitens wurden sie als Juden und Antifaschisten von den Nazis gejagt und als Marxisten im US-Exil vom Geheimdienst überwacht. Eine Kritik der Sowjetunion hätte sie auf die Abschussliste dieser dritten globalen Supermacht gesetzt. Man kann diese Position als feige interpretieren, aus damaliger Sicht und im Bewusstsein, dass sie bürgerliche Intellektuelle und keine Straßenkämpfer waren, ist die Position nachvollziehbar.
„Im Falle einer wirklich sozialistischen Revolution in Russland würden sich Chamberlain und Hitler in 24 Stunden verständigen“ – in diesem Satz offenbart Adorno seine anti-liberale Position: Wenn auch versteckt, widersprüchlich und kritikwürdig, die Texte der Kritischen Theorie gehören in die Bibliotheken des revolutionären Marxismus. Die Grundlage für eine Diskussion hat Dahmer in seinem Buch erarbeitet.