Interview mit einer Sozialpädagogin: „Wir sind an unseren Belastungsgrenzen!“

Eine Sozialpädagogin berichtet im Gespräch mit Linskwende von den besorgniserregenden Zuständen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe in Wien.
2. Oktober 2022 |

Du bist Sozialpädagogin. Warum hast du dich für diesen Beruf entschieden?

Ich habe sechs Jahre als Hilfskraft in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft (WG) und in Krisenzentren gearbeitet. Ich war sehr gerne mit den Kindern in Kontakt und habe deshalb dann die Ausbildung zur Sozialpädagogin gemacht. Ich war so froh, endlich das Richtige für mich gefunden zu haben. Zuletzt habe ich dann in einer WG für Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung gearbeitet. Mein Anliegen war es, Kindern, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen, zu einem besseren Leben zu verhelfen. Kinder können nichts für die Belastungen ihrer Eltern. Ich wollte ihnen neue Zukunftsperspektiven eröffnen und Zugang zu Ausbildung, Job usw. schaffen. Als Betreuer*innen sind wir Vorbilder für die Kinder und können ihnen so neue Impulse mitgeben.

Was waren deine Aufgaben als Sozialpädagogin und wie ließen sie sich umsetzen?

Als Sozialpädagogin in der WG begleitest du den Alltag der Kinder, je nach WG sind das 6-8 Kinder. Dazu gehören zum Beispiel die Morgen- und Abendroutine, die Vorbereitung für die Schule und Hausübung, Freizeitgestaltung, auch Wäsche machen und je nach Bedarf putzen oder kochen. Und natürlich wollen wir uns für die einzelnen Kinder und ihre Bedürfnisse Zeit nehmen, aber man muss auch viel Administratives und Organisatorisches abwickeln, wie Arzttermine, Materialien für die Kinder besorgen, Medikamente zeitgerecht verabreichen, Protokollieren von Vorfällen. Da bleibt für qualitative Einzelbetreuung wenig Zeit. Es war oft nicht einmal Zeit, um ein paar Minuten Pause zu machen. Schlafen im Nachtdienst war nicht immer möglich, weil das erledigt werden musste, was tagsüber liegen geblieben ist oder ich habe Dinge für den nächsten Tag vorbereitet, damit dieser weniger stressig verläuft. Und um halb sechs Uhr morgens war dann wieder bereits das erste Kind zu wecken. 

Was war für dich die größte Belastung?

Für mich persönlich war es das fremdaggressive Verhalten. Regelmäßig kam es zu Gewalt unter den Kindern oder von Kindern gegen Betreuungspersonal, wir hatten Polizei- und Rettungseinsätze und ich bin des Öfteren mit Blutergüssen nach Hause gegangen. Das hat auch psychisch Spuren bei mir hinterlassen, wie ich jetzt merke. Auch wenn es nicht immer mich getroffen hat, musste ich doch oft Gewalt beobachten, ständig in Alarmbereitschaft sein, um mögliche Konflikte vorauszusehen. Das ist auf Dauer eine große Belastung. 

Wie erklärst du dir, dass es zu so viel Gewalt kommt?

Das hat individuell unterschiedliche Gründe. Dazu kommt, dass es in der Hektik des Arbeitsalltags kaum möglich ist, sich länger als 15-30 Minuten für ein Kind Zeit zu nehmen, zu spielen, ein Buch zu lesen oder spazieren zu gehen, v.a. wenn man aufgrund von Personalmangel oder häufigen Krankenständen zeitweise alleine im Dienst ist. Und natürlich reicht das nicht aus. Jedes Kind braucht Zuwendung. Und sie holen sich die Aufmerksamkeit notfalls durch auffälliges Verhalten wie Fremdaggression. Dabei bleiben vor allem diejenigen Kinder auf der Strecke, die zurückhaltender oder nonverbal sind und ihre Bedürfnisse nicht so deutlich kommunizieren können. Auch wenn die Grundversorgung aller Kinder gewährleistet war – sie hatten ein Dach über dem Kopf, Kleidung, täglich frisches Essen  – so waren manche doch emotional vernachlässigt. Oder sie litten unter den Impulsdurchbrüchen der anderen Kinder, die sie teilweise beobachten mussten.

Verletzungen durch die Kinder führten auch zu mehreren Langzeitkrankenständen unter meinen Kolleg*innen, was das Team noch mehr belastet hat, weil Krankenstände vertreten werden müssen. Wir wollten die Kolleg*innen ja nicht im Stich lassen. Doch dieses ständige Einspringen ist sehr belastend und sorgt mit der Zeit auch für schlechte Stimmung im Team.

Welche Auswirkungen hatte diese Arbeitssituation auf Dauer für euch Mitarbeiter*innen?

Wir waren alle erschöpft und haben trotzdem versucht, auszuhelfen wo es nötig war, z.B. früher zu kommen oder länger zu bleiben. Dadurch haben wir viele Überstunden gemacht, dabei hatten manche Kolleg*innen selbst eigene Kinder, um die sie sich kümmern mussten. Ich habe zuletzt bereits am Tag vor einem Dienst gemerkt, dass ich diesen Druck auf dem Brustkorb spüre und mir Sorgen mache wie der morgige Dienst wohl verlaufen wird.

In der Arbeit hatte ich in letzter Zeit  Konzentrationsschwierigkeiten. Eine andere Kollegin hat im Dienst begonnen zu weinen, weil sie einfach nicht mehr konnte.

Wie wurde im Team mit den Belastungen umgegangen?

Wenige haben sich getraut, offen anzusprechen, dass sie etwas nicht schaffen oder an ihre Grenzen kommen, weil das viele als Schwäche empfinden und die Vorstellung haben, wenn du dich für diesen Job entscheidest, musst du bereit sein alles auszuhalten. Aber ich sehe das anders. Wir sind alle Menschen, mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen und können nur so lange anderen helfen, wie es uns auch selbst gut geht.

Die Teamleitungen bemühen sich, mehr Personal zu finden, doch das ist nicht immer leicht. Und wenn neue Mitarbeiter*innen kommen, bleiben sie oft nur kurze Zeit.

Diese ständige Fluktuation im Team ist sowohl für die Kinder anstrengend, denn es dauert, eine Beziehung aufzubauen, als auch für die Pädagog*innen, die immer wieder neu einschulen müssen.

Wie erklärst du dir den Personalmangel in der Sozialpädagogik und was müsste sich ändern, um den Job attraktiver zu machen?

Es ist diese Überlastung, der du ausgesetzt bist und der Druck Überstunden zu machen, das hältst du nicht ewig durch, auch wenn du die beste Motivation hast und engagiert bist. Es bräuchte dringend mehr Personal und dabei kürzere Arbeitszeiten und mehr Teilzeitstellen. Das wäre vor allem in Ferienzeiten hilfreich, wo die Kinder nicht in der Schule sind und 24h Betreuung brauchen. Gäbe es mehr Teilzeitkräfte wären auch Krankenstände und Urlaube leichter zu vertreten. Und wenn die Belastung besser verteilt werden kann, gäbe es wahrscheinlich auch gar nicht erst so viele oder lange Krankenstände und es wäre möglich, die Arbeit länger zu machen und dabei gesund zu bleiben.

Du hast dich entschieden zu kündigen. Wie ging es dir mit dieser Entscheidung und was war letztlich ausschlaggebend dafür?

Ausschlaggebend war meine gesundheitliche Situation, ich wollte so nicht weiter machen. Ich bin bereit, viel zu geben, aber nicht um jeden Preis. Es war eine schwierige Entscheidung, weil die Kinder in den WGs viele Beziehungsabbrüche erleben und du willst ihnen keinen weiteren Verlust zumuten. Es ist auch schade, du arbeitest ein halbes Jahr daran, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, investierst viel und tust das gerne und mit der Intention, mehrere Jahre für das Kind da zu sein. Ich wäre gerne länger geblieben, ich habe mir diesen Beruf ja bewusst ausgesucht und gerne gemacht, aber die Bedingungen waren zu belastend. Es war für mich die richtige Entscheidung und gleichzeitig weiß ich, dass es dadurch für die verbleibenden Mitarbeiter*innen noch schwieriger wird und alle sind an ihren Belastungsgrenzen. Es ist ein Teufelskreis.

Danke, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst. Weshalb ist dir das wichtig?

Mir ist eine offene, angstfreie Kommunikation wichtig, wir müssen darüber reden wie es uns geht und gemeinsam nach Lösungen suchen. Wenn wir diese Arbeit jahrelang machen möchten, muss sich etwas verbessern und ich hoffe, dass ich hiermit einen kleinen Beitrag dazu leisten kann.

Das Interview führte Marilen Lorenz