Islamophobie ist der falsche Säkularismus

Im Namen des Säkularismus – der Trennung von Kirche und Staat – soll kopftuchtragenden Musliminnen eine Karriere im Staatsdienst verboten werden; ein offensichtlicher Missbrauch dieser Idee. Sozialist_innen, die den Kampf des Proletariats gegen das Bürgertum voranbringen wollen, haben einen völlig anderen Zugang zu Religion und ein anderes Verständnis von Säkularismus.
10. März 2017 |

Die ÖVP-Minister Sebastian Kurz und Wolfgang Sobotka führen einen Kreuzzug gegen Musliminnen unter dem Banner des Säkularismus. Wirklich jeder fortschrittliche Mensch sollte die rassistischen Absichten dahinter durchschauen können und das geplante Kopftuchverbot rundweg ablehnen.

Natürlich unterstützt jede Sozialistin und jeder Sozialist die Grundsätze des Säkularismus: Staat und Kirche sollten vollständig getrennt sein. Die Ausübung der Religion sollte jedem Menschen frei gestellt sein, aber als private Angelegenheit. Keine Religion sollte im Staat bevorzugt behandelt werden oder den Staat beeinflussen dürfen, umgekehrt sollte keine Religion gegenüber anderen benachteiligt werden.

Fremdwort Säkularismus

Man muss darauf hinweisen, dass diese Prinzipien in Österreich in keinster Weise umgesetzt worden sind. Besonders die katholische Kirche genießt endlose Privilegien und millionenschwere staatliche Unterstützung, staatliche Förderung für Personal und katholische Privatschulen, und sie ist im Gerichtssaal genauso präsent wie in der Bundesheerkaserne und in den öffentlichen Schulen. Es war immer die ÖVP und ihre Vorgängerparteien, die für eine mächtigere Katholische Kirche im österreichischen Staat kämpften.

Die ÖVP-Vorgänger und der katholische Prälat Ignaz Seipel (Mann mit Blick in die Kamera) installierten von 1933 bis 1938 ein klerikalfaschistisches Regime. Foto: ÖNB

 

Gemeinsam mit der Kirche hat sie den faschistischen Staatsstreich von 1934 organisiert und die spezielle österreichische Variante des Klerikalfaschismus eingeführt. Der katholische Priester und zweimalige Bundeskanzler Ignaz Seipel war einer der wichtigsten Förderer der faschistischen Heimwehrverbände. Viel zynischer als durch ÖVP-Minister kann man den Kampfbegriff Säkularismus gegen eine religiöse Minderheit wohl kaum mehr einsetzen.

Nationalstaat versus Kirche

Säkularismus hatte seine Blütezeit in den Jahrzehnten vor und nach der Französischen Revolution. Mit den Mitteln des Säkularismus sollte der Einfluss der Katholischen Kirche auf Staat, Politik und Gesellschaft zurückgedrängt werden – ihr bekanntester Verfechter ist wahrscheinlich der Parade-Philosoph der französischen Aufklärung, Voltaire (1694-1778). Säkularismus präsentierte sich als Mittel im Kampf um den Fortschritt der westeuropäischen Staaten. Allerdings stand hinter dieser Bewegung die bürgerliche Klasse, die dem Adel die Vorherrschaft im Staat streitig machte. Sie stritt darum, die neue herrschende Klasse zu werden, nicht darum, das einfache Volk von Herrschaft und dazugehöriger Ideologie zu befreien.

Die Kirche war eine ungemein einflussreiche Institution, aber sie hatte ihre eigenen Interessen und trotz des engen Bündnisses mit den europäischen Herrscherhäusern verteidigte sie ihre Macht und ihre Unabhängigkeit. Und so kam sie in scharfen Widerspruch zu den absolutistischen Herrscherhäusern, die im 18. Jahrhundert die jeweiligen Nationalstaaten modernisieren mussten.

Die Enthauptung des französischen Königs Ludwig XVI. Die Bourgeoisie stürzte die alte herrschende Aristokratenklasse und schrieb sich Säkularismus auf die Banner. Gemeinfreies Bild.

 

Der Aufstieg Großbritanniens zur ersten imperialistischen Supermacht nach der bürgerlichen Revolution von 1651 zwang sie zu Modernisierungen, deren sich die Kirche unterordnen musste. Wer meint, dass dies im Interesse des gemeinen Volkes geschah, der muss einen Blick hinter die Kulissen werfen. Joseph von Sonnenfels (1848-1932), ein Berater des Kaiserhauses und wichtiger Vertreter der Aufklärung in Wien, schrieb: „Die Kirche ist eine Abteilung der Polizei, die den Zielen des Staates zu dienen hat, bis die Aufklärung des Volkes soweit gediehen ist, dass sie ihre Ersetzung durch die weltliche Polizei erlaubt.“

Eine relative Entmachtung der Kirche war nicht dazu gedacht, die Bevölkerung zu ermächtigen, sondern sie sollte ihre Loyalität dem Staat zuwenden – sie sollten sich von kirchlichen zu staatlichen Untertanen entwickeln.

Säkularismus von oben

Die „wirklichen“ Verfechter des Säkularismus in Österreich, der fortschrittliche Flügel des Bürgertums (Freimaurer und Jakobiner), waren zu Zeiten Josephs II. im 18. Jahrhundert nicht mächtig genug für eine unabhängige Bewegung und Rebellion gegen das Herrscherhaus. Sie versuchten im Windschatten der Reformen von oben zu lavieren: sie gingen mit Joseph nach links und wieder nach rechts. Wer dabei nicht mitkonnte wurde gnadenlos fallen gelassen, Mozarts Schicksal ist dafür wohl das beste Beispiel.

Säkularismus war in Österreich also hauptsächlich von oben durchgeführt worden – durch Kaiser Joseph II. Er löste hunderte Klöster auf, die er „Quellen des Aberglaubens und des religiösen Fanatismus“ nannte und zwang Bischöfe und Priester dem Staat die Loyalität zu schwören. Es ging ihm nicht um eine Überwindung des katholischen Glaubens, sondern um die Überwindung eines Hindernisses beim Ausbau eines zentralistischen Staates. Der wahre Antrieb dazu war der Wettlauf zwischen den europäischen Monarchien. Die Nachfolger Josephs II. schraken vor den großen Erwartungen zurück, die dieser bei den Untertanen hervorgerufen hatte. Franz II. führte ab 1792 nach dem Schock, den die Französische Revolution bei den europäischen Monarchien auslöste, wieder strenge Zensur und Überwachung ein.

Kurz’ und Sobotkas Vorstoß

Der Vorstoß zu einem Berufsverbot für kopftuchtragende Frauen von Kurz und Sobotka hat seinen Ursprung mit Sicherheit nicht im Wunsch nach stärkerer Trennung von Kirche/Religion und Staat. Es ist ziemlich offensichtlich ein Angriff von eher militanten Vertretern der im Staat dominanten katholischen Religion gegen die Angehörigen einer Minderheit. Das Kopftuchverbot soll eine aufmüpfige Minderheit auf ihre Plätze verweisen. Als aufmüpfig werden kopftuchtragende Musliminnen deshalb gesehen, weil sie das Kopftuch trotz aller Kritik tragen und sehr oft wegen aller öffentlichen Verunglimpfungen. Das Kopftuch wird so tatsächlich zu einem Symbol der sichtbaren Identifikation mit der von der herrschenden Elite verteufelten Kultur.

Eine kopftuchtragende Richterin, Staatsanwältin oder Polizistin stellt für die herrschenden Eliten deshalb einen Affront dar, weil alle Kampagnen der Vergangenheit gegen das Kopftuch eben dazu dienten, Muslime zu unterdrücken und zu demütigen. Das entspricht dem klassischen Muster von Rassismus, nur das anstelle der Hautfarbe ein Stück Stoff getreten ist.

Alana Lentin, Assistenzprofessorin für kulturelle und gesellschaftliche Analysen an der Western Sydney University, hat überzeugend dargestellt, wie das Tragen einer bestimmten „Tracht“ zu einem „rassischem“ Merkmal gemacht wurde, obwohl es nicht einmal ein körperliches Merkmal ist. Das Kopftuch, obwohl es abgelegt werden kann, wird als untrennbar vom Charakter dargestellt, es definiert die Frau gesamtheitlich. In der Folge sei Islamophobie die einzige Form rassistischer Gewalt, wo die Mehrheit der Opfer Frauen sind.

FPÖ geht weiter

Wie beim klassischen Rassismus lässt sich damit auch Politik machen. Angehörige der Mehrheit können gegen die Minderheit mobilisiert werden. Im Fall von Kurz und Sobotka wird mittels Kopftuchverbot das rechtere Lager in der ÖVP gestärkt und Druck auf den Koalitionspartner SPÖ gemacht. Der aktuelle Anlass ist in der Krise der ÖVP zu suchen, in ihrem Abstieg in der Gunst der Wähler_innen und dem Druck von weiter rechts durch die FPÖ.

Die FPÖ selbst wird weiter gehen und den so gestärkten islamfeindlichen Rassismus auf die ihr eigene Art nutzen, sie baut mit diesem Rassismus eine politische Bewegung auf, deren Kernthema und deren Kleber dieser Rassismus ist. Die FPÖ hat diesen Rassismus nicht erschaffen (auch nicht den gegen Flüchtlinge), sie weiß ihn aber für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Geschaffen beziehungsweise wieder erneuert wurde der islamfeindliche Rassismus für die Rechtfertigung der US-Kriege im Mittleren Osten.

Ideologie und Realität

Die US-Kriege gegen Afghanistan und Irak, die regelmäßigen Bombardements von Syrien, Irak, Libyen, Jemen, Somalia und Pakistan – sieben mehrheitlich muslimischen Ländern – geschehen aus geopolitischen Interessen der USA. Anders gesagt entstehen sie aus den Widersprüchen und Konflikten, die aus den Schwierigkeiten der herrschenden kapitalistischen Weltordnung unter der militärischen Führungsmacht der USA resultieren.

Mit Religion haben diese Kriege nur insofern zu tun, als die öffentlichen Kampagnen, mit welchen die Kriege gerechtfertigt werden, religiös aufgeladen sind und dementsprechend ist auch die Ideologie des Widerstands religiös untermauert. Weder die Invasionen muslimischer Nationen noch der Widerstand geschehen, um die christliche Version des Gottglaubens gegenüber der mohammedanischen Version durchzusetzen oder umgekehrt. Religion ist nur die Ebene, auf welcher uns der Konflikt aufbereitet wird.

Ursache und Ideologie

Karl Marx schrieb dazu, dass man stets unterscheiden muss „zwischen der materiellen … Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen und philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“

Religion (Christentum gegen Islam) ist also nur die Ebene auf der uns der Konflikt erklärt, beziehungsweise bewusst gemacht wird. Die Basis des Konflikts ist aber eine wirtschaftliche – nämlich Kontrolle über die Erdöl-fördernden Regionen zu behalten.

Kampf der Kulturen

Genau umgekehrt erklären unsere Herrschenden die Konflikte zwischen dem Westen und Teilen der islamischen Welt. Nicht Öl oder imperiale Machtinteressen liegen zugrunde, sondern kulturelle Differenzen. Meistens wird der 11. September 2001 als Ausgangspunkt der modernen Islamophobie angegeben. Das Schlüsselwerk der Islamophobie Der Kampf der Kulturen von Samuel P. Huntington wurde aber schon 1996 publiziert und 1993 als Vorlesung gehalten.

Samuel P. Huntington ist der Darling der Weltelite, hier 2004 am World Economic Forum (WEF) in Davos. Er lieferte seit den 1990er-Jahren mit seinen rassistischen Thesen über einen angeblichen „Kampf der Kulturen“ die Rechtfertigung für die globale wirtschaftliche und geopolitische Dominanz des Westens über mehrheitlich muslimische Länder. Foto: Peter Lauth (WEF, Wikimedia Commons)

 

In einer Schlüsselstelle im Kampf der Kulturen heißt es: „Die wichtigsten Konflikte der Zukunft werden an kulturellen Frontlinien auftreten … Die Unterschiede zwischen den Kulturen sind nicht nur real, sondern auch fundamental. Die einzelnen Kulturen unterscheiden sich sowohl in ihrem Verhältnis von Gott und Mensch, Individuum und Gruppe, Bürger und Staat, Eltern und Kindern, Mann und Frau als auch in ihrer Einschätzung von Rechten und Pflichten, Freiheit und Autorität, Gleichheit und Hierarchie. Diese Unterschiede sind das Ergebnis von Jahrhunderten. Sie werden so bald nicht verschwinden. Sie sind weit fundamentaler als etwa die Gegensätze von Ideologien oder Regierungssystemen. Im Lauf der Jahrhunderte haben sie die längsten und gewalttätigsten Konflikte hervorgebracht.“

Huntington ist so etwas wie der Hofphilosoph des Weißen Hauses: er war Direktor des Zentrums für internationale Angelegenheiten an der Harvard Universität und Koordinator für Sicherheitspolitik im Weißen Haus unter Präsident Jimmy Carter. Er ist gern gesehener Referent auf dem jährlichen Weltwirtschafts-Gipfeltreffen der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt in Davos. Seine „Theorie“ ist dementsprechend maßgeschneidert für die Bedürfnisse der herrschenden Eliten in den USA.

Religiöse und Atheisten

Ideologien – die systematischen Überzeugungen, die sich die Menschen über die Welt bilden – können nur vom Standpunkt ihrer Rolle im Klassenkampf verstanden werden. Säkularismus ist eine Ideologie des Bürgertums, die im Kampf gegen den Adel und Kirche dienlich war.

Sozialist_innen, die den Kampf des Proletariats gegen das Bürgertum voranbringen wollen, haben einen völlig anderen Zugang zu Religion und ein anderes Verständnis von Säkularismus. Auch wenn wir wie Marx nicht religiös sind, so sind wir keinesfalls antireligiös. Wir verstehen Religiosität als Antwort auf „Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“

Islam und Aufklärung

Islam und Aufklärung

Wir kämpfen für eine Welt ohne diese herz- und geistlosen Zustände, eine Welt ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung. Dafür stehen wir immer aufseiten der Unterdrückten, ob diese religiös sind oder nicht, ist dabei nicht ausschlaggebend. Außer ihre Religiosität ist der spezielle Vorwand zur rassistischen Unterdrückung. Dann stehen wir wegen ihrer Religion auf ihrer Seite.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.