Joshua Cohen: Buch der Zahlen
„Was ich gerne tetrieren würde: Wenn ich meine Karte in einen Automaten stecke und den Kontostand checke und Geld abhebe, wissen die dann, wo ich bin? Wer sind ‚die‘?“ Mit Buch der Zahlen ist dem US-amerikanischen Autor Joshua Cohen ein Fundamentalwerk einer ganzen Epoche gelungen. Auf gewaltigen 750 Seiten breitet Cohen eine fantastische Geschichte des digitalen Zeitalters auf. Er spannt den Bogen von der Herstellung des ersten Mikroprozessors 1971 bis zum Berühmtwerden der ersten großen Leak-Plattformen 2011.
Der Roman verfolgt zwei Stränge. Der Protagonist, der gescheiterte Autor Joshua Cohen, soll als Ghostwriter eine Biografie des gleichnamigen „Großen Vorsitzenden“ des Suchmaschinen-Riesen Tetration verfassen. Cohen jagt den fiktiven Cohen quer über den Globus, schickt ihn auf Sexparties, Drogenexzesse und Buchmessen und zeichnet dabei den radikalen Wandel in der Schriftstellerei durch die Digitalisierung nach. Die Arbeit, die in der Entstehung eines modernen Textes steckt, macht Cohen in Form von Buchfahnen im Korrekturmodus [samt nicht gelöschten Kommentaren] und ganzen gestrichenen Passagen sichtbar. „Computer zeichnen alles auf, nur die Mühen der Arbeit nicht, und auf den Seiten, auf die ihre Drucker die Tinte setzen, bleibt keine Spur davon. Die Bildschirme bewahren keinen Makel, kein Scheitern. Die Bildschirme bewahren nichts Menschliches.“
Im zweiten Erzählstrang lässt Cohen über die Biografie des „Großen Vorsitzenden“, des Milliardärs Joshua Cohen, die rasante Entwicklung von Hardware und Software nachzeichnen – kriminelle Firmenpraktiken, Erpressung, Umweltzerstörung, Viren und mysteriöse Tode inklusive. Alles fiktiv freilich, so finden sich in der Person des Großen Vorsitzenden Züge der Internetmoguln Bill Gates und Steve Jobs; der fiktive Gründer der Plattform „b-Leaks“, Thor Ang Stören, erinnert unweigerlich an Julian Assange und Edward Snowden.
Buch der Zahlen liest sich wie ein literarischer Overkill, Stream, Datenstrom, hypermoderner Joycescher Bewusstseinsstrom. Der Leser wird mit Eindrücken und Meldungen bewusst überfordert und verwirrt, als ob irgendjemanden des anderen Fruchtbarkeitsarzttermine, vegane Ernährungspläne oder das gerade erworbene Abführmittel interessieren würde. Cohen spielt mit der ständigen Erreichbarkeit und dem Facebook-Exhibitionismus, der freiwilligen Auflösung der Privatsphäre, in der Menschen ihr intimstes Privatleben im Netz ausspinnen und jeden noch so nervtötenden Gedanken in Blogs und der Cloud ausscheiden.
Die digitale Technologie hat eine nie dagewesene Überwachung ermöglicht und die kapitalistische Verwertungslogik auf die Spitze getrieben. Buch der Zahlen ist eine ernste Warnung über die Verwundbarkeit des Einzelnen im Netzzeitalter und Lesegenuss zugleich.