Kinderseelen im Lockdown: (K)ein Grund zur Panik?

Kinder und Jugendliche haben es aktuell nicht leicht, und sie werden von allen Seiten als Argumente für und wider Eindämmungsmaßnahmen missbraucht. Wie schätzen Pädagog_innen ihre Widerstandskräfte ein und ihre seelische Gefährdung?
17. Mai 2021 |

Medial werden Kinder als Hauptverlierer der Pandemie dargestellt. Das ist falsch, am meisten leiden Angehörige von Verstorbenen und stark isolierte Bevölkerungsgruppen. Wie wer durch die Krise kommt, hängt von der biographischen Ausgangslage ab.

Struktur und Rückhalt

Resilienz ist psychische Widerstandskraft; die Fähigkeit auch schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Kinder mit grundsätzlichen gutem familiären Rückhalt können viel Resilienz entfalten. Je stigmatisierter und isolierter eine Bevölkerungsgruppe ist, desto schwieriger hat sie es, in der aktuellen Gesundheitskrise. Geplante Schutzmaßnahmen und Gesetze sollten auf Auswirkungen auf diese Menschen ohne Lobby geprüft werden.

Unberechenbarkeit zermürbt

Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, die Belastung durch die Pandemie entfaltet nicht nur in Lockdowns ihre Wirkung: Der erste strenge Lockdown im Frühling 2020 hatte viel moderatere Auswirkungen auf die Familien als der im November/Dezember, wo Schulen und Kindergärten von viel mehr Familien genutzt wurden als zu Beginn der Pandemie.
Der Intensivpädagoge Menno Baumann erklärt erklärt im NDR-Podcast Synapsen: „Im ersten Lockdown hatten wir ja ein Ziel vor Augen: Flatten-the-curve, die Kurve runter zu kriegen. Jeder hat den Sinn verstanden und so wurde in den Familien viel Resilienz entwickelt. Mit einem klaren Ziel vor Augen kann ich Resilienzen ganz anders aktivieren, wie wenn ich mich in einer never-ending-story befinde.“ Es macht einen großen Unterschied, ob wir das Gefühl haben, wir können gemeinsam den Virus besiegen oder meinen, der Kampf sei ohnehin halbherzig oder verloren.

Wenn Eltern leiden

Studien wie die deutsche COPSY-Studie zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie zeigen eine deutliche Zunahme von Unsicherheit, Ängsten und Sorgen. Dafür gibt es nicht die eine einzige Ursache. Die Lebensrealitäten der Eltern spielen ebenso eine Rolle wie die Einschränkung sozialer Kontakte mit Gleichaltrigen. Denn Eltern mit Zukunftsängsten, wie etwa vor Arbeitsplatzverlust und Schlimmerem, oder durch reißerische Meldungen über Psychoschäden der Kinder, übertragen ihre eigene Ängste meist auf die Kinder.

Die Regierung hat Bildungs- und Betreuungseinrichtungen immer noch nicht zu sicheren Plätzen gemacht. Kinder aus bildungsfernen Schichten und Familien mit wenig Ressourcen bleiben, auch ohne Pandemie, häufiger auf der Strecke.

Je stärker Eltern unter Isolation und finanzieller Unsicherheit leiden, umso mehr verändern sie ihr Erziehungsverhalten in Richtung Strenge und manchmal hin zur Gewalt. Baumann meint, dass Familien, in denen Gewalttätigkeit zuvor schon ein Thema war, oder Familien mit einem psychisch instabilen Mitglied, einem besonders hohem Risiko ausgesetzt sind. Der oder die Instabile muss dabei nicht zwangsläufig die Gewalt ausüben. Außerdem steigen Konfliktpotentiale bei Alkoholmissbrauch, der sich während der Pandemie stark erhöht hat.

Bildungseinrichtungen unsicher

Unsicherheit ist psychisch besonders belastend. Die Folgen von überraschend verordneten Quarantänen sind daher laut Erkenntnissen von Professor Baumann für Kinder und Jugendlichen schlimmer als jene in strukturierten Lockdowns. Lockerungen mit steigenden Ansteckungszahlen als Folge bedeuten mehr gestresste Menschen in Quarantäne. In jeder Ausnahmesituation hilft eine klare Struktur durch die Erwachsenen im Tagesablauf. Mitzudenken sind Freiräume für die Kinder.
Die Regierung hat Bildungs- und Betreuungseinrichtungen immer noch nicht zu sicheren Plätzen gemacht. Kinder aus bildungsfernen Schichten und Familien mit wenig Ressourcen bleiben, auch ohne Pandemie, häufiger auf der Strecke. Nicht wenige Kinder und Jugendliche verzweifeln am österreichischen Bildungssystem. Hoffentlich überdauert das Interesse an der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen die Pandemie.

Quellen und Links zum Weiterlesen:

-COPSY-Studie zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie | Ulrike Ravens-Sieberer, Anne Kaman, Michael Erhart, Janine Devine, Robert Schlack & Christiane Otto: Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany 

-Universität Hildesheim | JuCo-Studie 
Robert Koch-Institut | Sozioökonomischen Daten und Studien zur Ungleichverteilung des Infektions- und Erkrankungsrisikos in Deutschland 

-Corona Hospitalisierung und Arbeitslosigkeit | Nico Dragano, Christoph J. Rupprecht, Olga Dortmann, Maria Scheider, Morten Wahrendorf - Higher risk of COVID-19 hospitalization for unemployed: an analysis of 1,298,416 health insured individuals in Germany 
Verhalten im Lauf der Corona-Pandemie | Daniel Lüdecke, Olaf von dem Knesebeck: Protective Behavior in Course of the COVID-19 Outbreak - Survey Results From Germany 

-Preprint zu Pandemiefolgen für Kinder und Jugendliche mit besonderer Schulsituation | David Scheer, Désirée Laubenstein: The Impact of COVID-19 on Mental Health and Psycho-social Conditions of Students with and withound Special Educational Needs in Emotional and Behavioral Disorders in German 

-Studie zum Zusammenhang der Corona-Krise und häuslicher Gewalt | Shawna J. Lee, Kaitlin P. Ward, Joyce Y. Lee, Christina M. Rodriguez: Parental Social Isolation and Child Maltreatment Risk during the COVID-19 Pandemic 

-Lockdown-Folgen-Review | Gabriele Prati, Anthony D. Mancini: The psychological impact of COVID-19 pandemic lockdowns: a review and meta-analysis of longitudinal studies and natural experiments 

-Menno Baumann | Folgen von Quarantäne für Kinder und Familien 

-Reviews zu den psychologischen Folgen von Quarantäne | Kelsey M. Graber, Elizabeth M. Byrne, Emily J. Goodacre, Natalie Kirby, Krishna Kulkarni Christine O'Farrelly Paul G. Ramchandani: A rapid review of the impact of quarantine and restricted environments on children's play and the role of play in children's health 

-Quarantäne, Isolation und die Effekte auf die Gesundheit | Jonathan Henssler, Friederike Stock, Joris van Bohemen, Henrik Walter, Andreas Heinz, Lasse Brandt: Mental health effects of infection containment strategies: quarantine and isolation - a systematic review and meta-analysis 

-Menno Baumann: Familiäre Gewalt in der Coronazeit. Entwurf eines empirisch fundierten Modells dynamischer Risiko- und Ressourcenfaktoren In: Zeitschrift für Sozialpädagogik Jg. 2020/H. 3 

-Menno Baumann et al. | Strategiepapier für ein kindgerechtes Pandemiemanagement 

- "Toolbox" der No-Covid-Initiative zur Pandemiekontrolle in Schulen und Kitas 
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