Lenin, Imperialismus und der Austromarxismus

Der von den herrschenden Klassen Europas losgetretene Erste Weltkrieg endete in der größten revolutionären Massenerhebung der Weltgeschichte. Die österreichische Arbeiter_innenbewegung wurde von den revolutionären Ereignissen in Russland und Ungarn radikalisiert. Trotzdem kam es in Österreich zu keiner sozialistischen Revolution; einer der Gründe hierfür liegt in der Politik des Austromarxismus.
13. November 2018 |

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war eine strikte Ablehnung imperialistischer Kriege innerhalb der organisierten Arbeiter_innenbewegung selbstverständlich. Trotzdem unternahmen die sozialdemokratischen Parteien 1914 nichts um den Krieg zu verhindern, sondern stellten sich hinter Krone, Vaterland und Kapital. Diese verräterische Politik wurde von dem russischen Revolutionär Lenin scharf attackiert. Dem Sozialpatriotismus der Sozialdemokratie schleuderte Lenin die Forderung nach der „Niederlage der eigenen Regierung“ entgegen. Er und seine Partei, die Bolschewiki, arbeiteten darauf hin, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg der Arbeiter_innen aller Länder gegen die herrschende Klasse zu verwandeln. Lenins radikale Forderungen waren kein bloßes Wunschdenken, sondern er und sein Kampfgefährte Nikolai Bucharin entwickelten jeweils eine Imperialismustheorie, welche als Grundlage für seine Forderungen gesehen werden müssen.

Imperialismus

Lenin argumentierte in seinem Werk Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus (1917), dass der gegenwärtige Kapitalismus durch zwei widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet ist: die Internationalisierung (heute Globalisierung) der Produktion und Investition von Unternehmen, sowie, dem entgegengesetzt, die Verschmelzung von privatem Kapital und dem Nationalstaat. Vereinfacht ausgedrückt, Unternehmen werden immer globaler und bekommen durch diese ökonomische Macht einen immer stärken Einfluss auf die Staaten, in denen sie angesiedelt sind. Daraus ergibt sich, dass – in einer immer mehr vernetzten Weltwirtschaft – Konflikte zwischen unterschiedlichen Unternehmen die Tendenz haben, zu geopolitischen Kriegen zwischen Staaten zu werden.

Imperialismus ist also die Verschmelzung von wirtschaftlichen Konflikten zwischen Unternehmen und geopolitischen Konflikten zwischen Staaten, wie der britische Marxist Alex ­Callinicos darlegt. Die Politik der k.u.k. Monarchie am Balkan entspricht diesem imperialistischen Schema. Ab 1878 verfolgte Österreich das Ziel einer „Orientbahn“, die Wien mit der Türkei verbinden würde. Dadurch wollten sich die Habsburger einerseits die Kontrolle über den Orienthandel sichern und andererseits ihren geopolitischen Einfluss am Balkan – Eisenbahnen ermöglichten schnelle Truppentransporte – gegen Russland behaupten. Aus dieser Perspektive betrachtet war der Erste Weltkrieg keine „Urkatastrophe“, ausgelöst durch das Attentat eines serbischen Nationalisten und der falschen Reaktion der europäischen Großmächte darauf, sondern die imperialistische Phase des Kapitalismus lieferte die ökonomische Grundlage für die politische Eskalation.

Brest Litowsk

Die russische Oktoberrevolution 1917 führte zur Machtübernahme der Arbeiter_innenräte, an ihrer Spitze die Bolschewiki. Getreu ihrer Theorie versuchten sie die Machtübernahme in Russland zu nützen, um im Rest Europas Revolutionen auszulösen. Ein erster Schritt hierfür war ein Friedensangebot an alle kriegsführenden Nationen. Lenin verfasste einen Appell an die Arbeiter_innen Österreichs und Deutschlands, sich mit dem sofortigen Friedensschluss zu solidarisieren.

Verhandlungen von Brest Litowsk: Auf der linken Seite die russische Delegation, rechts die deutsche und österreichische © Library of Congress

 

In Wien veranstalteten am 11. November 20.000 Arbeiter_innen eine riesige Solidaritätsdemonstration mit den Bolschewiki. Am 15. Jänner 2018, während die Verhandlungen von Brest-Litowsk noch liefen, kam es zum größten Massenstreik der österreichischen Geschichte. Eine der Forderungen des Jännerstreiks war der sofortige Friedensschluss zwischen Österreich und Russland. Die Eisenbahner_innen verlangten, dass Vertreter_innen der Arbeiter_innenklasse bei den Verhandlungen zugegen sein sollten. Österreichische und russische Arbeiter_innen sollten gemeinsam den Frieden aushandeln.

Es gelang der SDAP jedoch, den Streik zu vereinnahmen und abzusagen. Otto Bauer der führende „linke“ Theoretiker der SDAP rechtfertigte die Absage des Streiks: „Im Falle einer Revolution wären deutsche Truppen in Österreich einmarschiert.“ Bauer verschweigt die Tatsache, dass sich der Jännerstreik auch auf Deutschland ausgeweitet hatte und der Einmarsch deutscher Truppen darum mehr als fraglich war. Der österreichische Marxist Roman Rosdolsky fasst die Politik der SDAP treffend zusammen: „Die Entscheidung hing von der Sozialdemokratie ab. In der äußerst zugespitzten außen- und innenpolitischen Lage gab es zwei Möglichkeiten: entweder Revolution, oder aber vorübergehende Rettung der Monarchien auf Kosten des militärisch wehrlosen Sowjetrusslands. Die Sozialdemokratie entschied sich für das zweite.“

Das Scheitern des Jännerstreiks stärkte die Position der österreichischen und deutschen Verhandler. Nachdem sie keine Angst vor Aufständen im eigenen Land haben mussten, konnten sie Russland ihre Bedingungen aufzwingen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk zeigt wieder eine Mischung aus ökonomischen und geopolitischen Interessen. Russland musste über 50% seiner gesamten Industriebetriebe, angesiedelt in der Ukraine, Finnland und Weißrussland abgeben.

Ungarn 1919

Doch die Sozialdemokratie konnte das Habsburgerreich nicht retten. Im November 1918 zerbrach der mächtige Staat. Im ganzen Land entstanden Arbeiter_innen- und Soldatenräte, welche, wie Otto Bauer schreibt, „jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten könnten. Es gab keine Gewalt, sie daran zu hindern.“ Am 21. März 1919 errichten die ungarischen Arbeiter_innen und Soldaten eine Räterepublik, einen Monat später erfolgte die Gründung der „Münchner Räterepublik“.

Österreich befand sich zwischen zwei Räterepubliken, kombiniert mit einer Hungersnot und explodierender Arbeitslosigkeit führte das zu einer einzigartigen Radikalisierung der Arbeiter_innen. Innerhalb der österreichischen Rätebewegung gab es eine offene Diskussion über die Frage, ob genauso wie in Ungarn eine Räterepublik errichtet werden sollte. Die beiden Austromarxisten Friedrich Adler und Otto Bauer verwendeten ihren gesamten Einfluss, um die Ausrufung einer Räterepublik zu verhindern. Ihr zentrales Argument war: „Österreich konnte ohne die Nahrungsmittel- und Kohlenzuschübe der Entente nicht leben.“ Im Falle der Ausrufung einer Räterepublik würden diese Lieferungen eingestellt werden.

Der ehemalige Kaiser Karl musste während der Revolution aus Österreich flüchten © ÖNB

 

Die Wirtschaft des Habsburgerreiches beruhte vor dem Ersten Weltkrieg darauf, dass aus der ungarischen Reichshälfte Nahrungsmittel und Kohle nach Österreich geliefert werden, während die österreichische Reichshälfte Industrieprodukte in die ungarische exportierte. Bauers Argument übergeht die Tatsache, dass in der imperialistischen Phase des Kapitalismus kaum ein Land ohne Importe auskommt, die schon bestehenden Handelsverbindungen zwischen Österreich und Ungarn hätten im Falle eine Revolution genützt werden können. Österreich wäre also nicht verhungert wie er meint, sondern gemeinsam mit der ungarischen Räterepublik hätte eine solidarische Wirtschaftsordnung zum beidseitigen Vorteil aufgebaut werden können.

Das zweite Argument Bauers war wieder einmal die Angst vor dem Einmarsch ausländischer Truppen im Falle einer Revolution. Es ist unklar, ob er wirklich an diese Bedrohung glaubte; immerhin hatte ihn der Vertreter der Siegermächte, Cunningham, darauf hingewiesen, dass sich die Truppen der Entente weigern würden, auf österreichische Arbeiter_innen zu schießen.

Lenin gegen Bauer

Trotzdem, mit diesen zwei Argumenten plus der komplett falschen Politik der Kommunistischen Partei konnte die SDAP die Räte davon überzeugen, sich hinter den Parlamentarismus zu stellen, anstatt den Aufstand zu wagen.

Die Zerstörung des Habsburgerreiches

Die Zerstörung des Habsburgerreiches

Der „Austromarxismus“, zu dem Bauer gehört, zeichnete sich in seinen Werken durch ein geschichtsdeterministisches Bild aus, das bedeutet der Übergang von Kapitalismus zum Sozialismus war für ihn eine naturgeschichtliche Notwendigkeit. Durch diese Annahme konnte der Austromarxismus eine revolutionäre Sprache mit einer zutiefst konterrevolutionären Praxis zusammenbringen. Diese Strategie führte die österreichische Arbeiter_innenbewegung in den Untergang.

Die Marxistin Ilona Duczyńska resümiert: „Die Absage an die Revolution im März 1919 wurde zum Prototyp in einer langen Reihe unausgetragener Kämpfe der Sozialdemokratie, die sie im Nachhinein als von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt darstellten. In ihrem Bemühen, den Bürgerkrieg, wenn nicht zu vermeiden, so doch wenigstens hinauszuschieben, wich sie Schritt für Schritt vor den Kräften der Reaktion und des Faschismus zurück.“