Mächtigster Streik seit Mai 68
Linda (Universitätsangestellte)
Die zwei für die heutige Streikbewegung entscheidenden Momente waren die Bewegungen gegen das „Loi Travail“ (ein geplantes neues Arbeitsgesetz in Frankreich 2016) und die Gelbwesten-Revolte 2019. War die Bewegung gegen das „Loi Travail“ jugendlich und linksradikal motiviert, hatten wir es bei den Gelbwesten mit dem „frühaufstehenden Frankreich“ zu tun. Auf jeden Fall waren beides klassische soziale Bewegungen um ökonomische Fragen, die getrennt von den Gewerkschaften entstanden. Dass sich die CGT aktuell so kampfbereit zeigt, ist Ergebnis dieser Angst vor einer Bewegung, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Gleichzeitig gehen die aktuellen Streiks über klassische Gewerkschaftsprotest hinaus. Alleine, dass die Streiks in vielen Branchen über einen Tag hinaus verlängert wurden, ist Ergebnis von Basisabstimmungen und dem selbstständigen organisieren von Streikgeldern. Wir organisierten bspw. Zusammenkommen von Hafenarbeiter_innen, Studierenden und sympathisierenden Intellektuellen, mit dem Ziel Streikfonds unabhängig von den Gewerkschaften aufzubauen. Natürlich ist das noch keine Gegenstruktur zum bürokratischen Monster CGT, aber es sind Ansätze, eigene selbstverwaltete Strukturen aufzubauen. Ohne einer relativen ökonomischen Unabhängigkeit werden wir in Kämpfen immer dem Willen der linken Bürokratie ausgeliefert sein.
Lili (arbeitet in einer Bäckerei)
Die aktuellen Streiks können von niemanden ignoriert werden. Unsere Manager drohten uns seit Beginn der Bewegung mit Kündigung, falls wir uns an Streiks beteiligen. Auch wenn dies arbeitsrechtlich nicht eindeutig ist, funktionierte die Drohung. Streiks werden auch in Frankreich tendenziell als Sache der Industriearbeiter_innen oder der Arbeiter_innen im Staatsbetrieb gesehen. Während es im Logistik-Sektor gelang, dieses Verhältnis zu durchbrechen, gibt es trotzdem noch massenhaft Branchen, in denen streiken ungewöhnlich ist. Hier als Anarchistin für Streiks zu intervenieren ist schwierig „Du jagst nur deinem Traum von der Revolution nach“. Darum gelang es uns am 7. März nicht wirklich zu streiken. Wir hatten aber das Glück, dass die massiven Blockaden von Straßen und Betrieben jeden geregelten Warenverkehr unmöglich machten. Darum hatten wir wenig zu arbeiten, weil das Material nicht da war, oder nicht abgeliefert werden konnte. Keiner meine_r Kollegin_innen hat sich darüber beschwert. Darum glaube ich, dass es kann gelingen kann, eine neue Selbstverständlichkeit für Streiks zu schaffen, die in den kommenden Jahren auch in offensive Aktionen umschlagen kann
Tahar (Hafenarbeiter)
Marseille ist mit Abstand der größte Hafen Frankreichs. Wenn ich es richtig im Kopf habe, werden hier jährlich über 80. Millionen Tonnen Waren umgeschlagen. Hier arbeitet man also an einer globalen Pulsader des Kapitalismus. Das bedeutet für uns einerseits eine unfassbare Macht, globale Lieferketten zu stören. Wir streiken erst den zweiten Tag und schon jetzt steht die Hafenlogistik vor massiven Herausforderungen. Die Verluste müssen in die Millionen gehen. Aber nicht nur die Arbeiter_innen sind sich der Bedeutung des Hafens bewusst, sondern auch die Regierung. Auch, weil die Hafenarbeiter_innen in Marseille immer einer der militantesten Flügel der französischen Arbeiter_innenbewegun waren. Jeder, der hier arbeitet, kennt die Geschichte, wie 2009 Arbeiter_innen das Managerbüro der Hafengesellschaft GPMM stürmten, um eine geplante Reform zu verhindern. In den 50er-Jahren war dieser Hafen zentraler Umschlagplatz für illegale Waffenlieferungen an die algerische und andere anti-koloniale Bewegungen. Was ich damit sagen will, ist dass Klassenkampf in diesem Bereich direkter mit dem Staat konfrontiert ist, als bspw. Streiks in Schulen. Heute ist es uns wieder gelungen, mit Streikposten den gesamten Hafen stillzulegen und direkt kam es zu Attacken vonseiten der Polizei. Den Streik aufrechtzuerhalten, bedeutet einen fortwährenden Kampf gegen die Macht des Staates.
Vicent (Hilfslehrer an einer Schule)
3,5 Millionen Menschen demonstrierten in ganz Frankreich gegen die Rentenreform, das ist eine gigantische Zahl. Noch wichtiger, es wird gekämpft, das bedeutet gestreikt, besetzt und blockiert. Wir erleben die größten Streiks seit Jahrzehnten. Die Müllabfuhr wie die Verbrennungseinrichtungen streiken den zweiten Tag in ganz Frankreich. Ähnlich sieht es bei den Häfen und den Raffinerien aus, genauso wird die Produktion der Atomkraftwerke heruntergefahren. Halten die Arbeiter_innen durch, steht Frankreich spätestens in zwei Wochen vor einer echten Energiekrise. Die Streikenden lernten von den Gelbwesten und legten in Kooperation mit LKW-Fahrer_innen nahezu alle Autobahnen lahm. Dadurch, dass auch ein Großteil der Zugfahrer_innen streikt, treffen die Autobahnblockaden besonders. An meiner Schule wurde am 7. März gestreikt, jedoch verloren wir die Abstimmung ums Weiterstreiken. Aber wenigstens kam es zu einer Abstimmung. Davon abgesehen sind auffällig wenig Schüler_innen im Unterricht. Innerhalb der Arbeiter_innenklasse ist die Vorstellung dem jeweils anderen Bereich den Kampf zuzuschieben präsent. Die Hafenarbeiter_innen sind viel wichtiger als das Bildungspersonal, darum müssen sie den Kampf gewinnen, ist eine präsente Vorstellung. Dass die Hafenarbeiter_innen nur ihren Kampf aufrechterhalten können, wenn sie Unterstützung finden, die über Spenden und gute Worte hinausgeht, dieses Argument müssen wir vorantreiben. Bis jetzt konzentrieren sich die Streiks primär auf die Logistik und die Infrastruktur des Kapitals wie auch den Bildungssektor. Was noch nicht gelungen ist und schwierig zu erreichen sein wird, ist das Übertragen der Streiks auf den produktiven Sektor, die klassische Industriearbeit.
Justine (arbeitslos)
Seit Jahren sagen wir, dass alle Gründe für eine Revolution objektiv vorhanden sind. Klimawandel, die grenzenlose Arroganz unserer Regierenden – Macron lebt in einem Palast mit Bunker für den Atomkrieg, natürlich schaut er optimistisch in die Zukunft, die zunehmende Ausbeutung, die um sich greifende Depression. Mittlerweile gewinnen bei jeder Wahl die Nicht-Wähler_innen haushoch. Darum, materiell und ideologisch ist dieses System am Ende, was fehlt, ist dem Klassenkrieg von oben einen Krieg von unten entgegenzusetzen. Mit dem 7. März ist es in Ansätzen gelungen. Die Kombination aus echten Streiks, Masse und Militanz schafft neue Möglichkeiten. Während der Gelbwesten-Proteste wurden 67 Menschen Gliedmaßen von Tränengasgranaten zerfetzt, hunderte mussten in Krankenhäuser und tausende landeten im Gefängnis. Aktuell sind die Zahlen an Verhafteten und Verwundeten auf unserer Seite minimal. Nicht einfach, weil es gesellschaftlich akzeptierte Proteste sind – das waren die Gelbwesten auch – sondern weil wir gelernt haben uns zu wehren. In Lyon hat der offizielle Gewerkschaftsdienst der CGT die Polizei aus der Demonstration verjagt. Also wenn es eine Erfahrung aus der aktuellen Bewegung gibt, dann dass wir offensiver sein müssen. Nicht dass die kleinen Auseinanderzersetzungen um Löhne, besetzte Häuser, oder Nachbarschaftsinitiativen nicht wichtig wären, aber wenn wir uns ernsthaft als Kommunist_innen oder Anarchist_innen verstehen, müssen wir uns die Frage stellen: Wie kann, es trotz der historisch gescheiterten Versuche gelingen, eine Revolution zu machen.“