Marxismus und Feminismus: Eine „unglückliche“ Beziehung?
Karl Marx sah die Stellung der Frauen als ein Maß für die Ungleichheit in der Gesellschaft als Ganzes. In seiner Schrift Die heilige Familie zitiert er Charles Fouriers Vorhersage, dass „der Grad der weiblichen Emanzipation“ das „natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation“ ist, und stimmt mit ihm überein. Gemessen an diesem Maßstab wird klar, wie weit uns die Unterdrückung der Frauen im modernen Kapitalismus von dieser „allgemeinen Befreiung“ trennt.
Die Situation für Millionen Frauen auf der ganzen Welt hat sich durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise verschlimmert. Trotz der Verbesserungen, die sich Frauen erkämpft haben, sind wir von Gleichstellung und gar von Befreiung noch weit entfernt. Schlechte Bezahlung und Armut, sexuelle Gewalt und Kommodifizierung (zur Ware gemacht werden) sind weitverbreitet, und noch immer gilt: Je höher die gesellschaftliche Stellung, desto weniger Frauen sind vertreten.
Lebhafte Diskussion
Über ein Jahrhundert dauern die Debatten zwischen Marxist_innen und Feminist_innen über die Wurzeln von Unterdrückung an. Während der letzten Jahre gibt es wieder ein stärkeres Interesse an älteren feministischen Theorien. Akademiker_innen und Aktivist_innen versuchen, die Unterdrückung der Frau zu erklären – Ideen der Intersektionalität und Privilegientheorie tauchen dabei wieder auf.
Solche Debatten finden aber vor einem ganz anderen Hintergrund statt als in den 1970er-Jahren. Heutzutage arbeiten die meisten erwachsenen Frauen und eine Minderheit ist in die höchsten Ebenen von Unternehmen und Regierungen vorgedrungen. Viele, die sich heute der Politik zuwenden, sehen keine Lösung innerhalb des Systems.
Feminist_innen, sozialistische Feminist_innen und andere Aktivist_innen sind also Verbündete im Kampf gegen Sexismus und Unterdrückung. Es gibt auch großes Interesse für sozialistische Ideen, aber die Politik der Unterdrückung war immer ein umkämpftes Feld. Feminismus ist keine einheitliche Denkschule, in Großbritannien beispielsweise war der Einfluss sozialistischer Ideen immer stark.
Kritik am Marxismus
Die dominierende Vorstellung ist aber, dass sozialistische oder marxistische Politik nicht genügt, um Unterdrückung zu erklären oder zu untersuchen. Viele sozialistische Feministinnen vertreten stattdessen die Ansicht, dass es auf der einen Seite Ausbeutung gäbe, und dass auf der anderen etwas anderes, für gewöhnlich das Patriarchat, die Unterdrückung erzeugt. Dieser Ansatz der „doppelten Systeme“ hat große Anziehungskraft, da er widerzuspiegeln scheint, wie die Gesellschaft aussieht: Unterdrückung trifft Menschen über Klassengrenzen hinweg.
Diese Kritik behauptet, dass Marxist_innen „reduktionistisch“ seien, weil wir sagen, dass Ausbeutung die entscheidende soziale Beziehung ist, die die Gesellschaft lenkt und formt. Natürlich scheint es, als wäre Unterdrückung separat und unabhängig von Klassengrenzen. In Großbritannien etwa sind die zukünftige Königin und die weiblichen Regierungsmitglieder einer medialen Besessenheit über ihre Kleidung und ihr Aussehen ausgesetzt, die klar sexistisch ist. Aber ist das vergleichbar mit einer Schichtarbeiterin, die versucht, leistbare Kinderbetreuung zu organisieren?
Arbeiter_innen-Macht
Es ist in Wirklichkeit unmöglich, die wahre Last der Unterdrückung einzuschätzen, ohne die tiefste Kluft in der Gesellschaft anzusprechen – die zwischen den Klassen. Um die materiellen Wurzeln der Unterdrückung der Frau zu finden, müssen wir die ökonomische und ideologische Rolle verstehen, die die Arbeiter_innenfamilie in der Gesellschaft spielt.
Mit den Auswirkungen des Sparkurses wird von den Familien erwartet, noch mehr der Betreuungslast und der Kosten des Aufziehens der nächsten Generation zu tragen. Betrachten wir das System als Ganzes, erkennen wir, dass die Rolle der Frau in der Familie den Interessen des Kapitals und nicht den einzelnen Männern zugutekommt.
Heute gibt es ein Risiko der Zersplitterung unter jenen, die Unterdrückung bekämpfen wollen. Im Gegensatz zu diesen Spaltungen sieht der marxistische Ansatz, dass Frauen ein Teil der mächtigsten kollektiven Kraft der Gesellschaft, der Arbeiter_innenklasse, sind. Hier, an der Seite der Männer, können Frauen wirksam aktiv werden; sind sie nicht nur Opfer sondern Klassenkämpferinnen.
Revolutionäre Perspektive
Letztendlich brauchen wir, um Frauenunterdrückung zu beseitigen, revolutionären Wandel. Das heißt aber nicht, dass wir auf die Revolution warten, um Veränderung herbeizuführen. Sozialist_innen stellen sich gegen Unterdrückung und Diskriminierung, wo immer sie stattfindet.
Unsere Tradition bietet in den täglichen Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung einen Weg nach vorne. Sie hat aber auch eine Vision einer sehr anderen Gesellschaft, einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Emanzipation der Frau ein Teil der Emanzipation der gesamten Menschheit ist.
Judith Orr ist Mitautorin der Broschüre "Wie frei ist die Frau?" und Herausgeberin der englischen Zeitung "Socialist Worker". Sie spricht am antikapitalistischen „Kongress Marx is Muss“. Weitere Infos: www.marxismuss.at
Übersetzung aus dem Englischen von Tine Bazalka