Mindestsicherung nicht an Deutschkenntnisse knüpfen!

H. Friedrich arbeitet seit fast 20 Jahren in der Alphabetisierung/Basisbildung mit Personen mit Migrationshintergrund und schreibt in ihrem Leserbrief darüber, wie entsetzt sie über die Pläne der Regierung ist, Geldleistungen an Sprachkenntnisse zu knüpfen.
16. Juli 2018 |

Als die ersten Nachrichten zur künftigen Mindestsicherung in den Medien thematisiert wurden, brachte mich dies so auf, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Leserbrief schreibe.

Die Mindestsicherung an die Sprachkenntnisse zu knüpfen, halte ich für äußerst problematisch. Diesen Zugang zur finanziellen Absicherung des Lebensunterhaltes schließt eine Gruppe von Menschen aus, die bereits einmal eine eklatante Benachteiligung in ihrem Leben erfahren haben – ALLE PRIMÄREN ANALPHABETEN. Das sind Menschen, die auch in ihrer Erstsprache nicht, bzw. nicht ausreichend, alphabetisiert wurden.

Seit fast 20 Jahren arbeite ich in der Alphabetisierung/Basisbildung mit Personen mit Migrationshintergrund und ich weiß, dass ALLE diese Menschen sehr gerne eine Schule besucht hätten und ihnen die fehlende Bildung sehr wohl bewusst ist. Ursachen für den fehlenden Schulbesuch sind u.a. Kriege, Flucht und Vertreibung im Herkunftsland, lange Schulwege, fehlendes Schulgeld, frühe Arbeit um das Überleben der Familie zu ermöglichen („ich habe schon mit neun Jahren gearbeitet“), das Los die älteste Tochter zu sein („ich musste meine Mutter bei der Versorgung der Familie unterstützen“).

Durch die derzeit herrschenden Kriege und die Flucht von tausenden Menschen, die dann in Lager dahin vegetieren, produzieren WIR wieder Menschen, die nicht alphabetisiert und bildungsfern sind. Die Alphabetisierung im Erwachsenenalter und in einer fremden Sprache ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Teil des Alphabetisierungsprozesses ist es auch, Strategien zu erlernen, wie ich mit gestellten Aufgaben umgehe, was „ankreuzen“ bedeutet, usw.

In der Alphabetisierung mit Erwachsenen geht es nicht nur um das Erlernen der Buchstaben und des Lesens, sondern auch darum, die Sprache zu betrachten und zu analysieren. All das soll geschafft werden in einer fremden Sprache, obwohl ich das in der eigenen Sprache noch nie gemacht habe. Trotzdem beobachte ich seit Jahren, mit welchem Eifer, welcher Freude und Dankbarkeit die meisten Menschen die Angebote der Alphabetisierung annehmen. Natürlich sind die Lernfortschritte der TeilnehmerInnen unterschiedlich.

So wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein junger Afghane beim entsprechenden Kursangebot die Alphabetisierung/Basisbildung und den Hauptschulabschluss schaffen, während die 62-jährige, traumatisierte Syrerin vielleicht nie das B1-Niveau erreichen wird. Allerdings haben alle Menschen für die Prüfung dieselbe Zeit; egal ob sie in ihrem Heimatland studiert haben oder keine Schule besuchen konnten. Analphabeten bekommen nicht mehr Zeit für das Lesen und Schreiben von Texten zugestanden.

In den Medien wird vermittelt, dass es möglich ist, in eineinhalb Jahren die B1-Prüfung abzulegen. Das ist meist fern jeder Realität. So wird eine Gruppe von Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend von Bildung ausgeschlossen wurde, noch ein weiteres Mal diskriminiert und vom Zugang zu Sozialleistungen ausgeschlossen.

Und ich glaube nicht, dass höhere Deutschkenntnisse automatisch bessere Integration bedeuten. Im Gegenteil, ich erlebe täglich in meiner Arbeit Dankbarkeit für meine Bemühungen, meine Zeit und meine Kompetenz, Menschen das Lesen und Schreiben zu vermitteln!

H. Friedrich

Leser_innenbriefe spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider