Ökosozialismus oder Degrowth

Sollte die ökologische Linke darauf abzielen, den gesamten Konsum zu reduzieren oder die vorherrschende Art des Konsums radikal zu verändern? Mit dieser Frage beschäftigt sich Michael Löwy, Autor von Ecosocialism: A Radical Alternative to Capitalist Catastrophe und emeritierter Forschungsdirektor für Sozialwissenschaften am CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) in Paris. Der Artikel wurde auf dem Online Blog Climate & Capitalism veröffentlicht und von Marilen Lorenz ins Deutsche übersetzt.
5. Januar 2021 |

Der Ökosozialismus und die Degrowth-Bewegung gehören zu den wichtigsten Strömungen der ökologischen Linken. Ökosozialist_innen sind sich einig, dass ein signifikantes Maß an Degrowth (Wachstumsstopp bzw. negatives Wachstum) in Produktion und Konsum notwendig ist, um einen ökologischen Kollaps zu vermeiden. Aber sie haben eine kritische Einschätzung zu den Degrowth-Theorien, weil:

  1. das Konzept des „Degrowth“ nicht ausreicht, um ein alternatives Programm zu definieren;
  2. es nicht deutlich macht, ob „Degrowth“ im Rahmen des Kapitalismus erreicht werden kann oder nicht;
  3. es nicht zwischen Aktivitäten, die reduziert werden müssen, und solchen, die entwickelt werden müssen, unterscheidet.
    Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Degrowth-Strömung, die in Frankreich besonders einflussreich ist, nicht homogen ist: inspiriert von den Kritikern der Konsumgesellschaft – Henri Lefebvre, Guy Debord, Jean Baudrillard – und des „technischen Systems“ – Jacques Ellul – enthält sie unterschiedliche politische Perspektiven. Es gibt mindestens zwei Pole, die ziemlich weit voneinander entfernt sind, wenn nicht sogar gegensätzlich: auf der einen Seite die Kritiker der westlichen Kultur, die dem Kulturrelativismus (alle Kulturen werden als gleichwertig gesehen) zugeneigt sind (Serge Latouche), auf der anderen Seite die universalistischen linken Ökologen (Vincent Cheynet, Paul Ariés).

Umstrittene Ansätze

Serge Latouche, der weltweit bekannt ist, ist einer der umstrittensten französischen Degrowth-Theoretiker. Sicherlich sind einige seiner Argumente legitim: die Entmystifizierung der „nachhaltigen Entwicklung“, die Kritik an der Religion des Wachstums und des „Fortschritts“, der Ruf nach einer kulturellen Revolution. Aber seine pauschale Ablehnung des westlichen Humanismus, der Aufklärung und der repräsentativen Demokratie sowie sein Kulturrelativismus (keine universellen Werte) und seine maßlose Zelebrierung der Steinzeit sind sehr kritikwürdig. Aber das ist nicht das Schlimmste. Seine Kritik an ökosozialistischen Entwicklungsvorschlägen für Länder des Globalen Südens – mehr sauberes Wasser, Schulen und Krankenhäuser – als „ethnozentrisch“, „verwestlichend“ und „zerstörerisch für lokale Lebensweisen“ ist ganz und gar unerträglich. Nicht zuletzt ist sein Argument, dass es nicht nötig sei, über den Kapitalismus zu sprechen, da diese Kritik „von Marx bereits formuliert wurde, und zwar gut formuliert“, nicht seriös: Es ist, als würde man sagen, dass es nicht nötig sei, die produktivistische Zerstörung des Planeten anzuprangern, weil dies bereits von André Gorz (oder Rachel Carson) gemacht wurde, „und zwar gut gemacht“.

Näher an der Linken ist die universalistische Strömung, die in Frankreich durch die Zeitschrift La Décroissance (Degrowth) vertreten wird, auch wenn man den französischen „Republikanismus“ einiger seiner Theoretiker (Vincent Cheynet, Paul Ariès) kritisieren kann. Im Gegensatz zum ersten hat dieser zweite Pol der Degrowth-Bewegung – trotz gelegentlicher Polemik ¬– viele Überschneidungspunkte mit der Bewegung für globale Gerechtigkeit (ATTAC), den Ökosozialist_innen und den linksradikalen Parteien: Ausweitung der Sonderzuwendungen (Güter, Dienstleistungen oder Einrichtungen, die kostenlos angeboten werden), Priorität des Gebrauchswertes gegenüber dem Tauschwert, Verkürzung der Arbeitszeit, Kampf gegen soziale Ungleichheiten, Entwicklung von „nicht-marktorientierten“ Aktivitäten, Reorganisation der Produktion entsprechend den sozialen Bedürfnissen und Schutz der Umwelt.

Ist Wachstumsstopp ausreichend?

Viele Degrowth-Theoretiker_innen scheinen zu glauben, dass die einzige Alternative zum Produktivismus darin besteht, das Wachstum ganz zu stoppen oder durch negatives Wachstum zu ersetzen, d.h. den zu hohen Verbrauch der Bevölkerung durch Halbierung der Energieausgaben, Verzicht auf einzelne Wohnhäuser, Zentralheizung, Waschmaschinen usw. drastisch zu reduzieren. Da diese und ähnliche Maßnahmen Gefahr laufen als drakonische Sparpolitik recht unpopulär zu sein, spielen einige von ihnen – darunter ein so bedeutender Autor wie Hans Jonas in „Principle Responsibility“ – mit der Idee einer Art „ökologischer Diktatur“.
Entgegen solchen pessimistischen Ansichten glauben sozialistische Optimist_innen, dass der technische Fortschritt und die Nutzung erneuerbarer Energiequellen ein unbegrenztes Wachstum und einen unbegrenzten Überfluss ermöglichen werden, der jedem/r „nach seinen oder ihren Bedürfnissen“ zuteil wird.

Es scheint mir, dass diese beiden Schulen eine rein quantitative Auffassung von – positivem oder negativem – „Wachstum“ oder von der Entwicklung der Produktivkräfte teilen. Es gibt eine dritte Position, die mir angemessener erscheint: eine qualitative Transformation der Entwicklung. Das bedeutet, der ungeheuerlichen Ressourcenverschwendung des Kapitalismus ein Ende zu setzen, die auf der Produktion von nutzlosen und/oder schädlichen Produkten in großem Maßstab beruht: Die Rüstungsindustrie ist ein gutes Beispiel, doch ein großer Teil der im Kapitalismus produzierten „Güter“ mit ihrer eingebauten Veralterung haben keinen anderen Nutzen, als den großen Konzernen Profit zu verschaffen.

Die Frage nach dem Konsum

Es geht nicht abstrakt um „exzessiven Konsum“, sondern um die vorherrschende Art des Konsums, der auf beachtlichem Erwerb, massiver Verschwendung, Entfremdung von der Produktion, zwanghafter Anhäufung von Gütern und dem zwanghaften Kauf von Pseudo-Neuheiten beruht, die von der „Mode“ auferlegt werden. Eine neue Gesellschaft würde die Produktion auf die Befriedigung authentischer Bedürfnisse ausrichten, beginnend mit jenen, die man als „biblisch“ bezeichnen könnte – Wasser, Nahrung, Kleidung, Wohnung –, aber auch einschließlich der grundlegenden Dienstleistungen: Gesundheit, Bildung, Transport, Kultur.
Wie kann man die authentischen von den künstlichen, faktischen (künstlich geschaffenen) und behelfsmäßigen Bedürfnissen unterscheiden?

Letztere werden durch geistige Manipulation, d.h. Werbung, hervorgerufen. Das Werbesystem ist in alle Bereiche des menschlichen Lebens in den modernen kapitalistischen Gesellschaften eingedrungen: nicht nur Nahrung und Kleidung, sondern auch Sport, Kultur, Religion und Politik werden nach seinen Regeln gestaltet. Sie ist dauerhaft, aggressiv und heimtückisch in unsere Straßen, Briefkästen, Fernsehbildschirmen, Zeitungen und Landschaften eingedrungen und trägt entscheidend zu extremen und zwanghaften Konsumgewohnheiten bei. Darüber hinaus verschwendet sie eine astronomische Menge an Öl, Elektrizität, Arbeitszeit, Papier, Chemikalien und anderen Rohstoffen – alles von den Verbraucher_innen bezahlt – in einem Zweig der „Produktion“, der nicht nur aus menschlicher Sicht nutzlos ist, sondern auch in direktem Widerspruch zu den wirklichen sozialen Bedürfnissen steht.

Obwohl die Werbung eine unverzichtbare Dimension der kapitalistischen Marktwirtschaft ist, hätte sie in einer Gesellschaft im Übergang zum Sozialismus keinen Platz, wo sie durch Informationen über Waren und Dienstleistungen ersetzt würde, die von Verbraucher_innenverbänden bereitgestellt werden. Das Kriterium, um ein authentisches von einem künstlichen Bedürfnis zu unterscheiden, ist sein Fortbestehen nach der Unterdrückung der Werbung (Coca Cola!). Natürlich würden über einige Jahre alte Konsumgewohnheiten fortbestehen, und niemand hat das Recht, den Menschen zu sagen, was ihre Bedürfnisse sind. Die Veränderung von Konsummustern ist ein historischer Prozess, aber auch eine bildungstechnische Herausforderung.

Umweltsünder Verkehr

Einige Güter, wie zum Beispiel das Privatauto, werfen komplexere Probleme auf. Privatautos sind ein öffentliches Ärgernis, das weltweit jährlich Hunderttausende von Menschen tötet und verstümmelt, die Luft in den großen Städten verschmutzt, mit schrecklichen Folgen für die Gesundheit von Kindern und älteren Menschen, und erheblich zum Klimawandel beiträgt. Sie entsprechen jedoch einem echten Bedürfnis, indem sie die Menschen zu ihrer Arbeit, nach Hause oder in die Freizeit befördern. Lokale Erfahrungen in einigen europäischen Städten mit umweltbewussten Verwaltungen zeigen, dass es möglich ist und von der Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wird, den Anteil von Privatautos im Verkehr schrittweise zu begrenzen, zum Vorteil von Bussen und Straßenbahnen.

In einem Übergangsprozess zum Ökosozialismus, in dem die öffentlichen Verkehrsmittel, ob über- oder unterirdisch, stark ausgebaut und für die Benutzer_innen kostenlos wären, und in dem Fußgänger_innen und Radfahrer_innen über geschützte Spuren verfügen würden, hätte das Privatauto eine viel geringere Rolle als in der bürgerlichen Gesellschaft, in der es zu einer fetischisierten Ware geworden ist, die durch hartnäckige und aggressive Werbung gefördert wird, zu einem Prestigesymbol, einem Zeichen der Identität. In den USA ist der Führerschein der anerkannte Ausweis – und das Auto ist ein Zentrum des persönlichen, gesellschaftlichen und erotischen Lebens.

Im Übergang zu einer neuen Gesellschaft wird es viel einfacher sein, den Transport von Gütern durch Lastwagen – die für schreckliche Unfälle und eine hohe Umweltverschmutzung verantwortlich sind – drastisch zu reduzieren und ihn durch Züge zu ersetzen oder durch das, was die Franzosen „ferroutage“ nennen (Lastwagen, die auf Zügen von einer Stadt in die andere transportiert werden): Nur die absurde Logik der kapitalistischen „Wettbewerbsfähigkeit“ erklärt das gefährliche Wachstum des LKW-Netzes.

Besitz ist kein „natürliches Bedürfnis“
Ja, werden die Pessimisten antworten, aber die Individuen werden von unendlichen Sehnsüchten und Wünschen getrieben, die kontrolliert, überprüft, eingedämmt und wenn nötig unterdrückt werden müssen, und dies kann einige Einschränkungen der Demokratie erfordern. Nun basiert der Ökosozialismus auf einer Wette, die bereits Marx eingegangen war: die Überlegenheit des „Seins“ über das „Haben“ in einer klassenlosen und von kapitalistischer Entfremdung befreiten Gesellschaft, d.h. der freien Zeit für persönliche Erfüllung durch kulturelle, sportliche, spielerische, wissenschaftliche, erotische, künstlerische und politische Aktivitäten, anstatt des Wunsches nach unendlichem Besitz von Produkten. Das zwanghafte Besitzstreben wird durch den dem kapitalistischen System innewohnenden Warenfetischismus, durch die herrschende Ideologie und durch die Werbung herbeigeführt: Nichts beweist, dass es Teil einer „ewigen menschlichen Natur“ ist, wie der reaktionäre Diskurs uns glauben machen will.

Wie Ernest Mandel betonte: „Die ständige Anhäufung von immer mehr Gütern (mit abnehmendem ‚Grenznutzen‘) ist keineswegs ein universelles und sogar vorherrschendes Merkmal des menschlichen Verhaltens. Die Entwicklung von Begabungen und Neigungen um ihrer selbst willen; der Schutz von Gesundheit und Leben; die Betreuung von Kindern; die Entwicklung reger/reichhaltiger sozialer Beziehungen … all dies wird zu einer Hauptmotivation, sobald die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt sind“. Dies bedeutet nicht, dass es insbesondere während des Übergangsprozesses nicht zu Konflikten kommen kann zwischen den Erfordernissen des Umweltschutzes und den sozialen Bedürfnissen, zwischen ökologischen Imperativen und der Notwendigkeit der Entwicklung grundlegender Infrastrukturen, insbesondere in den armen Ländern, zwischen den populären Konsumgewohnheiten und der Ressourcenknappheit. Solche Widersprüche sind unvermeidlich: Es wird die Aufgabe demokratischer Planung sein, sie in einer ökosozialistischen Perspektive, befreit von den Imperativen des Kapitals und der Gewinnerzielung, durch eine pluralistische und offene Diskussion zu lösen, die zur Entscheidungsfindung durch die Gesellschaft selbst führt. Eine solche basisdemokratische und partizipative Demokratie ist der einzige Weg, nicht Fehler zu vermeiden, sondern eine kollektive Selbstkorrektur ihrer eigenen Fehler durch die Gesellschaft zu ermöglichen.

Lebensfeindlicher Kapitalismus

Wie könnten die Beziehungen zwischen den Ökosozialist_innen und der Degrowth-Bewegung aussehen? Kann es trotz der Meinungsverschiedenheiten eine aktive Allianz für gemeinsame Ziele geben? In einem vor einigen Jahren veröffentlichten Buch, La décroissance est-elle souhaitable? (Ist Degrowth wünschenswert?), schlägt der französische Ökologe Stéphane Lavignotte ein solches Bündnis vor. Er räumt ein, dass es zwischen beiden Standpunkten viele kontroverse Fragen gibt. Sollte man die sozialen Klassenbeziehungen und den Kampf gegen Ungleichheiten oder das Anprangern des unbegrenzten Wachstums der Produktivkräfte hervorheben? Was ist wichtiger: individuelle Initiativen, lokale Erfahrungen, freiwillige Bescheidenheit oder die Veränderung des Produktionsapparates und der kapitalistischen „Megamaschine“? Lavignotte weigert sich, zu wählen und schlägt vor, diese beiden sich ergänzenden Praktiken miteinander zu verbinden. Die Herausforderung besteht seiner Meinung nach darin, den Kampf für das ökologische Klasseninteresse der Mehrheit, d.h. der Nicht-Besitzer des Kapitals, und die Politik der aktiven Minderheiten für eine radikale kulturelle Transformation zu verbinden.

Mit anderen Worten, um, ohne die unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten zu verbergen, einen „politischen Zusammenschluss“ all derer zu erreichen, die verstanden haben, dass das Fortdauern des Lebens auf dem Planeten und insbesondere der Menschheit im Widerspruch zum Kapitalismus und Produktivismus steht, und die deshalb den Ausweg aus diesem zerstörerischen und unmenschlichen System suchen. Als Ökosozialist und Mitglied der Vierten Internationale teile ich diesen Standpunkt. Die Zusammenführung aller Spielarten antikapitalistischer Ökologie ist ein wichtiger Schritt zu der dringenden und notwendigen Aufgabe, den selbstmörderischen Kurs der gegenwärtigen Zivilisation zu stoppen.

Lesetipps:

- Im Angesicht des Anthropozäns
Der Begriff des Anthropozäns versucht darzustellen, dass die Eingriffe der Menschen in die Natur im ein solches Ausmaß erreicht haben, dass wir ein neues Erdzeitalter erreicht haben. Ian Angus mischt sich mit seinem Buch Im Angesicht des Anthropozäns Klima und Gesellschaft in der Krise in die naturwissenschaftlichen Debatten ein und zeigt, dass es eben nicht die Menschheit ist, die das Anthropozän erzeugte, sondern die im kapitalistischen Wachstumszwang gefangene Menschheit.
Erschienen im Unrast Verlag.

- Ökosozialismus
Michael Löwy argumentiert in seinem lesenswerten Buch Ökosozialismus: Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe dafür, dass die die „Produktion nach den sozialen Bedürfnissen und den Forderungen des Umweltschutzes' organisiert wird“. Genauso stellt Löwy dar, dass dem Marxismus eben kein simpler Glaube in den technologischen Fortschritt zu eigen ist. Erschienen im LAIKA-Verlag.

- Der ökologische Bruch
John Bellamy Foster, Brett Clark und Richard York erklären in ihrem Meisterwerk Der ökologische Bruch: Der Krieg des Kapitals gegen den Planeten, dass eine Versöhnung zwischen Natur und Kapital unmöglich ist. Dafür greifen sie auf die ökonomischen Kategorien, welche Karl Marx im Kapital entwickelte, zurück. Die permanente Inwertsetzung der Natur durch das Kapital gefährdet die menschliche Zivilisation. Erschienen im LAIKA-Verlag.