Razzien gegen Muslimbrüder, ein rassistisches Ablenkungsmanöver

Gestern wurden 60 Wohnungen von muslimischen Mitmenschen gestürmt, 30 Menschen wurden festgesetzt, gegen 70 wird ermittelt. Das Ganze ist erstens eine Eskalation von islamfeindlicher Stimmung, zweitens eine gezielte Provokation der muslimischen Bevölkerung, und drittens ein hoffentlich misslungenes Ablenkungsmanöver von den schwerwiegenden Ermittlungspannen im Zusammenhang mit dem Attentat vom 2. November.
10. November 2020 |

Einen Schlag gegen die Muslimbruderschaft und die Hamas und damit gegen religiös motivierten, politischen Extremismus wollte die Behörde angeblich führen. Dabei ist Kennern der Szene, und die sollten auch in der Polizei existieren, durchaus bekannt, dass die Muslimbruderschaft und ihre palästinensische Tochterorganisation Hamas noch nie terroristische Aktivitäten in Europa entwickelt haben. Die Muslimbruderschaft setzt auf Wahlen und den Gang durch die Institutionen. Sie wird vom ägyptischen Diktator al-Sisi und dem Militär verteufelt. Ihre Anhänger werden zu zigtausenden eingesperrt und gefoltert. Ihr Vertreter Mohammed Mursi, der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens, wurde 2013 durch einen Putsch gestürzt, er starb 2017 in Polizeigewahrsam.

Innenministerium will ablenken

Bezeichnend ist das Timing der „Aktion Luxor“ der Staatsanwaltschaft Graz – eine Woche nach dem Terroranschlag von Wien. Es herrscht immer noch große Trauer und Betroffenheit bei der Bevölkerung, aber es macht sich auch Empörung über das unfassbare Versagen der Behörden breit. Es wird der Öffentlichkeit zunehmend klar, dass das Attentat ganz einfach hätte verhindert werden können, davon versuchen die ÖVP und besonders Karl Nehammer, der als Innenminister für die Katastrophe verantwortlich gemacht werden muss, abzulenken. Deshalb ist die Behauptung der Staatsanwaltschaft, die Razzien würden „in keinem Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Wien vom 2. November stehen“, völlig unglaubwürdig.

Der Attentäter K. F. wurde im Dezember 2019 aus der Haft entlassen und im Auftrag des Gerichts vom Verein Derad in einem Deradikalisierungs-Programm betreut, bei dem er alle zwei Wochen zu einem Gespräch erscheinen musste. Den Betreuern bei Derad „war aber klar, dass er nach wie vor problematisch ist.“ Und sie haben deshalb auch regelmäßig eine Warnung ausgesprochen.

Außerdem warnten die Geheimdienste der Nachbarländer Slowakei, Deutschland und Schweiz, dass K. F. etwas im Schilde führt. Er versuchte Munition für ein Sturmgewehr zu besorgen, lud Dschihadisten aus Deutschland und der Schweiz zu sich nach Hause ein, und intensivierte seine Kontakte.

ÖVP gegen die „muslimische“ Justizministerin

Hinter der ersten Reaktion der ÖVP stand schon ein hinterhältiges Kalkül: Sie schoben die Verantwortung auf die grüne Justizministerin Alma Zadić ab. Sie ist gebürtige Muslimin, stammt aus Bosnien und ist ein Hassobjekt der extremen Rechten in Österreich. Dieses Manöver lief ins Leere, weil die vorzeitige Haftentlassung den gepflegten Standards entspricht. Nur bei vorzeitiger Enthaftung kann man Straffällige dazu verpflichten, an Wiedereingliederungsprogrammen teilzunehmen, und das über die eigentliche Haftdauer hinaus. Zadić wird man da nichts anlasten können, aber man mag eine Mitverantwortung im „System Gefängnis“ selbst suchen, da es ganz offensichtlich nicht zur Läuterung von Delinquenten beiträgt.

Verhinderbar

Vor allen Dingen aber haben die dem Innenministerium unterstehenden Behörden, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) komplett versagt. Noch ist völlig schleierhaft, weshalb diese Stellen keine Informationen mit den Justizbehörden ausgetauscht haben, die dann K. F. wegen Verstoßes gegen die Auflagen der vorzeitigen Haftentlassung erneut in Gewahrsam hätten nehmen müssen.

Mehr Rassismus als Antwort

Schwerer wiegt, dass mit diesen Razzien weiter an den Schrauben der Eskalation gedreht wird. Je unverschämter die pauschale Kriminalisierung von muslimischen Organisationen und Einzelpersonen betrieben wird, desto wahrscheinlicher entsteht Gewalt. Zum einen ist das die ideologische Nahrung für faschistische und fremdenfeindliche Attentäter, die als bare Münze nehmen, was hier als Bedrohung aufgebaut wird. Die Attentäter von Christchurch und Oslo waren Überzeugungstäter. Sie haben den ganzen Dreck geglaubt, der über Muslime verbreitet wird. Die vielen kleinen Attentate auf muslimische Menschen, meist Frauen mit Kopftuch, werden von Menschen begangen, die den Mythen glauben, die von der ÖVP, der FPÖ und anderen Kulturkriegern verbreitet werden.

Zum anderen kann man den Zustrom zum Islamischen Staat (IS) nicht erklären, wenn man die ständige Demütigung und Ausgrenzung ausblendet, die junge Muslime viel zu oft erfahren. Die „Aktion Luxor“ und die Begleitmusik stellen eine weitere (gewollte?) Eskalation der gesellschaftlichen Polarisierung dar.