Salvador Allende: Ein radikales Regime

Vor 50 Jahren, am 3. November 1970 kam in Chile die Regierung Salvador Allende ins Amt. Sein Name steht bis heute für eines der radikalsten Experimente, das je von einer sozialdemokratischen Regierung gestartet wurde.
21. Dezember 2020 |

Allende bezeichnete sich selbst stolz als Marxist, und stand seit Jahren offen für den chilenischen Weg zum Sozialismus. Das Parteienbündnis Unidad Popular (UP) aus Sozialisten, Kommunisten und mehreren kleineren linken Parteien erreichte bei den Wahlen mit 36,3 Prozent der Stimmen zwar nur ganz knapp die Mehrheit, löste damit aber eine ungeheure Aufbruchsstimmung bei den Arbeiter_innen, den Landlosen und den zahlreichen Arbeitslosen aus. Die Eliten des Landes begannen mit Unterstützung der USA noch vor Amtsantritt das Land zu destabilisieren und schworen sich auf einen Bürgerkrieg ein. Drei Jahre später stürzten sie die Regierung mit einem brutalen Militärputsch.

Allende war ein außergewöhnlicher Politiker, ehrlich, herzlich, mit einem Hang zur Naivität. Er glaubte fest daran, dass die rechten Parteien den Wahlsieg der UP respektieren würden, und dass die staatlichen Institutionen – Armee, Polizei, Justiz – neutral wären, und von der Linken genauso wie von der Rechten für die Verwirklichung ihrer Ziele eingesetzt werden könnten. „Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung“, mit diesem berühmten Zitat lässt sich der große historische Irrtum der UP treffend beschreiben.

Ehrlicher radikaler Reformismus

Die Regierung Allende war weitaus radikaler als moderne Anhänger des „parlamentarischen Wegs zum Sozialismus“, wie SYRIZA in Griechenland, Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn. Ihr erklärtes Ziel war eine tiefgreifende Umverteilung der Reichtümer des Landes. Allendes erste Reformen waren Lohnerhöhungen, eine Landreform und die teilweise Verstaatlichung der Wirtschaft. Dazu gehörten die Kupferminen, die den größten Teil der ausländischen Einkünfte Chiles einbrachten. Die gemäßigten Reformen der UP gaben den Armen des Landes enorme Hoffnung. Die Bauern beschlagnahmten Land der Großgrundbesitzer. In den Städten nahmen die Armen Brachflächen in Besitz, um darauf Häuser zu bauen. Das war es, was den Reichen wirklich Angst machte. Der Christdemokrat Radomiro Tomic beklagte sich: „Illegale Besetzungen sind nicht nur das Werk der Ultralinken; sie sind auch die spontane Aktion von Gruppen von Bauern, Arbeitern und Bergarbeitern“.

Die Rechte formiert sich

Allendes Politik war sowohl für die chilenische herrschende Klasse als auch für die US-Führer unerträglich. Von Henry Kissinger, damals nationaler Sicherheitsberater der USA, stammt das Zitat: „Ich sehe nicht ein, warum wir ein Land marxistisch werden lassen müssen, nur weil seine Bevölkerung verantwortungslos ist.“ Aber der Putsch in Chile ging nicht hauptsächlich von den USA aus. Das Land hat seine eigene herrschende Klasse, und die war immer entschlossen, ihre Interessen zu verteidigen.
Die einfachen Leute erkannten die Bedrohung viel früher als die Regierung. Um sich gegen die Schlägertrupps der Reichen zu verteidigen, entstanden Selbstverteidigungskomitees der Kleinbauern, der Armenviertel, und in vielen Betrieben. Dazu kam die Notwendigkeit soziale Fortschritte zu verteidigen. Kapitalisten schafften Unmengen an Devisen außer Landes, sie schlossen Fabriken und boykottierten das Wirtschaftsleben. Geschäftsleute schlossen ihre Läden um Waren auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Das trieb die Radikalisierung erst recht voran: Nachbarschaftskomitees öffneten die Läden und organisierten die Verteilung der Waren auf Basis des Bedarfs der Familien. Arbeiter_innen sprengten die Tore ihrer Fabriken und brachten die Produktion wieder in Gang. Allendes Politik des Ausgleichs und des Kompromisses mit den besitzenden Klassen wurde zusehends unmöglich.

Die Störungen durch die Rechten führten schließlich zu ernsthaften wirtschaftlichen Problemen. Ende 1971 waren die Rechten in der Offensive und versuchten, die Popularität der Regierung zu stören. Hausfrauen aus der Mittelschicht demonstrierten auf der Straße gegen den Mangel, indem sie mit leeren Töpfen winkten, die nicht selten von ihren Dienstmädchen getragen wurden.

Ein angekündigter Putsch

1972 war endgültig Schluss mit dem wackeligen Frieden. Die Unternehmer organisierten weitreichende Betriebsschließungen. Ihre stärkste Waffe war der Boykott der Wirtschaft durch die Transportunternehmer, denen es gelang, den Warenfluss beinahe vollständig zu lähmen. Auf diese Kriegserklärung antworteten die Belegschaften mit der Gründung von „cordónes industriales“, der chilenischen Version von Arbeiterräten oder Sowjets auf regionaler Basis. Die cordónes brachten Fabrikarbeiter_innen, Landarbeiter_innen, Stadtteilorganisationen und Verteilungskomitees zusammen, um die Versorgung der Bevölkerung zu organisieren.
Jetzt war der entscheidende Moment der Geschichte gekommen. Allende konnte nicht gleichzeitig beide Seiten bedienen – die Klasse der Arbeiter_innen und die Herrschenden. Er entschied sich falsch und ermutigte damit seine Feinde immer weiter zu gehen.

Der Wiener Verlag Bahoe Books hat 2020 die Graphic Novel Die Jahre von Allende herausgegeben.

Er entließ den Wirtschaftsminister, der für die Ausweitung der Verstaatlichungen stand und forderte von den Cordònes die Rückgabe der besetzten Betriebe. Mit dem Angriff auf die Selbstorganisation der Arbeiter_innen schwächte er das einzige Element, das einen Putsch hätte niederringen können. Im Juni startete das Militär einen ersten Putschversuch, den Tanquetazo, der aber rasch niedergeschlagen werden konnte. Trotzdem wurde den Herrschenden bei der Gelegenheit so richtig klar, dass die Selbstverteidigungskräfte der Arbeiter_innenbewegung schon geschwächt waren.

Ein weiterer Putsch zeichnete sich ab. Sozialistische Soldaten warnten die Regierung, wurden aber von dieser an die Militärgerichte übergeben. Die radikale Linke, vor allem die MIR (Bewegung der revolutionären Linken), fand keinen klaren Weg zwischen den Fronten und konnte die Bewegung auch nicht aus der Sackgasse führen. Am 11. September 1973 putschte schließlich das Militär unter der Führung von General Pinochet, der von Allende kurze Zeit vorher zum Oberbefehlshaber der Armee ernannt wurde. Das Militär bombardierte den Präsidentenpalast, wo sich Allende mit Gefolgsleuten verschanzt hatte. Allende nahm sich in einem letzten Heldenakt das Leben.

Lehren aus der Tragödie

Bis zu 30.000 Menschen dürften von der Militärjunta ermordet worden sein. Viele mehr kamen in Lager und wurden gefoltert. Die USA unterstützten die Militärjunta, und Chile wurde zum Testlabor für das Wirtschaftsmodell, das wir heute Neoliberalismus nennen. Chilenische Anhänger des österreichischen Ökonomen Friedrich von Hayek, der seine Ideen als Gegenreaktion auf das Rote Wien entwickelte, und die an der Universität von Chicago studiert hatten, konnten unter den Bedingungen der Diktatur Hayeks Ideen in die Praxis umsetzen. Keine von den Sozialisten geführte Regierung, die nach dem Ende der Militärdiktatur regierte, wagte es damit zu brechen. Es dauerte bis 2019, bis eine Massenbewegung in Chile dieses Gesellschaftsmodell ernsthaft herausforderte.

Die Lehren aus der tragischen Niederlage der Regierung Allende dürfen wir nie vergessen. Die Arbeiter_innenbewegung kann die Macht nicht über das Parlament erobern, indem sie den Staat von innen umbaut. Sie muss den Staat frontal angreifen und ihre eigenen, unabhängigen Formen der klassenweiten Organisation aufbauen, und sie braucht dazu eine zielstrebige revolutionäre Führung