We can’t breathe
Sieben Nächte lang schon widerstehen die Demonstrierenden in US-amerikanischen Städten allen Versuchen der Staatsgewalt die Bewegung zu brechen. Und es sind auffällig viele Weiße Seite an Seite mit Afroamerikaner_innen auf den Straßen. In Minneapolis, der Stadt, in der George Floyd vom Polizisten Derek Chauvin ermordet wurde, trotzen sie der Ausgangssperre und liefern sich heftige Schlachten mit der Polizei. Diese Standhaftigkeit ist einer der Faktoren, die zur weltweiten Ausbreitung der Protestwelle beigetragen haben. Das inspiriert und macht Hoffnung auf einen entscheidenden Durchbruch im Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung.
The whole world is watching
In Idlib, dem von Assads Truppen noch nicht eroberten Gebiet in Syrien, tauchte ein Graffiti mit dem Konterfei von George Floyd und dem Slogan „I can’t breathe“ (Ich kann nicht atmen) auf. Wie gespenstisch und unheimlich passend das ist! In London, Berlin, Kopenhagen, Paris, Auckland und vielen anderen Städten außerhalb der USA gingen am Wochenende Tausende auf die Straßen. Das sind nicht bloß Solidaritätsproteste, die ganze Welt ist polarisiert: Eine Seite identifiziert sich mit den Unterdrückten in den USA und teilt ihre Gegnerschaft zu Präsident Trump, und die andere Seite steht hinter Trump. Dazwischen ist noch Platz, aber immer mehr Menschen drängen aus der unentschlossenen Mitte zu einem der beiden Pole. Trump ist sich dieser Polarisierung vollends bewusst und treibt sie zum Entsetzen seiner liberalen Gegner immer weiter voran. Er hält die Mobilisierung des rechten Pols am Laufen, auch zum Preis eines Beinahe-Bürgerkriegs. Von seiner Drohung an die Gouverneure, die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken, oder er werde die Armee einsetzen, kann er sich nur mit Gesichtsverlust zurückziehen. „Ich bin euer Präsident für Recht und Ordnung“, sagte Trump. „Ich mobilisiere alle verfügbaren zivilen und militärischen Ressourcen des Bundes, um die Unruhen und Plünderungen zu beenden, die Zerstörung und Brandstiftung zu beenden und die Rechte gesetzestreuer Amerikaner zu schützen, einschließlich ihrer Rechte nach dem Zweiten Verfassungszusatz“. Das klingt nach Showdown, nach Bürgerkrieg.
Polizei-Morde in Österreich
Ungerechtigkeit und Polizeigewalt hatten allerorts den Charakter eines unterschwelligen Bürgerkriegs von oben entwickelt, das ist mit ein Grund, warum sich weltweit Menschen den Protesten in den USA anschließen, und warum sie sich so mühelos mit der schwarzen Bevölkerung in den USA identifizieren können.
Die konservative österreichische Tageszeitung Die Presse hat 2010 eine Chronologie von Polizeigewalt gegen Schwarze veröffentlicht. Darunter Marcus Omofuma, der im Mai 1999 auf dem Abschiebeflug mit Klebeband über Mund und Nase erstickt wurde, und Cheibane Wague, der im Juli 2003 durch das Gewicht seiner Peiniger erdrückt und erstickt wurde. Florian Klenk, der Chefredakteur des Falter, fügte der langen Liste noch den Fall des 14-jährigen Florian Pirker hinzu, der im August 2009 in Krems bei einem unbewaffneten Einbruch in einen Supermarkt von einem Polizisten aus zwei Meter Entfernung durch einen Schuss in den Rücken getötet wurde.
Die Forderung nach Gerechtigkeit für Marcus Omofuma wurde mit unfassbarer Brutalität niedergemacht. Die Polizei reagierte auf die Proteste, die von der „Black Community“ in Wien angeführt wurden, mit Massenverhaftungen und großteils konstruierten Anklagen wegen organisierter Drogenkriminalität. Das Ganze nannte sich Operation Spring und führte zu Gerichtsverfahren gegen über 100 Personen, meist aus Afrika stammend, und zu haarsträubenden Verfahren mit anonymen Zeugen und rechtswidrigen Urteilen ohne Beweismittel.
Staatlicher Rassismus
Noch präsenter ist uns heute die systematische Misshandlung von Asylwerber_innen durch die Staatsorgane. In Österreich sind es hunderttausende Flüchtlinge und ihre Helfer_innen, die hautnah den ganzen Sadismus und die Herabwürdigung der Persönlichkeiten der Asylsuchenden erleben müssen.
Aber Empörung ist nicht die einzige Motivation, warum die aktuellen Proteste eine solch beeindruckende Dynamik entwickeln. Es ist doch faszinierend, dass die zahlreichen Protestbewegungen der vergangenen Jahre zwar nach einer gewissen Zeit wieder abebbten, aber sie sind ganz offensichtlich nicht verschwunden und ihre Protagonist_innen sind nicht einfach demotiviert.
Die „Black Lives Matter“ Bewegung hat ab 2013 über drei Jahre lang große Präsenz auf den Straßen und in den internationalen Medien erlebt. Angefacht wurden sie durch den Mord an Trayvon Martin, respektive den Freispruch für seinen Mörder George Zimmerman. Offensichtlich war diese Bewegung nie ganz weg und, so als hätte sie einen Lernprozess durchgemacht, ist sie heute mit neuer Qualität wieder da.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Staatsgewalt nicht auf die Forderungen der Protestbewegung eingegangen ist – oder gar nicht darauf eingehen kann, wie Systemkritiker feststellen. Schließlich ist Rassismus ein entscheidendes Werkzeug um die Opposition gegen das kapitalistische System zu schwächen. Die Polizei muss man dabei als Gewaltmittel des Staats verstehen, die diesen Rassismus in die Praxis umsetzt. Indem sie Mitglieder bestimmter Minderheiten oder Ethnien verfolgt, werden diese zum legitimen Ziel für weitere Diskriminierung. Der Staat ist ein zentraler Akteur in der Praxis von „Teile und Herrsche“, ohne die Kapitalismus nicht überleben kann. Der Staat, darunter versteht man im Marxismus die Gewaltorgane Polizei, Militär und Justiz, sowie den Beamtenapparat und seine Anhängsel, ist aber nicht nur wegen seiner rassistischen Praxis im Visier der Demonstrierenden. Er wird auch zurecht als Beschützer der Reichen und ihrer Interessen wahrgenommen. Der Staat wirft sein ganzes Gewicht in die Waagschale gesellschaftlicher Kämpfe, um unerträgliche Ungerechtigkeiten aufrecht zu erhalten.
Klassenkampf betonen
Im Falle der USA ist das Versagen dieses Systems, das die Staatsgewalt mit solcher Gewalt verteidigt, besonders eklatant. 47 Millionen US-Bürger_innen, ein Siebtel der Bevölkerung, haben dauerhaft keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Suppenküchen werden überrannt. Dazu kommt ein Präsident, der inmitten dieser Not die komplette Verachtung seiner Klasse für die Ärmsten völlig ungeniert, ja stolz vor sich herträgt. Die Pandemie hat bisher schon über 106.000 Menschen das Leben gekostet und 41 Millionen haben seit Ausbruch der Krise ihren Job verloren. „Die ‚Black Community‘ ist auch am stärksten von COVID-19 betroffen. Diese Dinge fließen alle zusammen, man kann sie nicht getrennt betrachten“, erzählt Hans Lee, der Pastor einer Lutheranischen Kirche, die nur einen Block von der Stelle entfernt liegt, an der George Floyd ermordet wurde. „Es war ein Pulverfass.“
Und diese Ausweglosigkeit des Systems ist ein weiterer Motivator für die weltweiten Proteste. Eine revolutionäre Situation entsteht, wenn die Herrschenden eingestehen müssen, sie wissen nicht mehr weiter, und die Unterdrückten sagen, wir können so nicht mehr weiter. Wenn die Herrschenden das System nicht mehr anders am Laufen halten können als mit brutaler und ungeschminkter Gewalt gegen ihre eigene Bevölkerung, dann sind solche Aufstände, wie wir sie jetzt erleben, unausweichlich. Aus Aufständen entsteht nicht zwangsweise eine weltweite Revolution, aber wir können und müssen uns darauf vorbereiten, dass die Eskalation weiter gehen wird. Organisieren wir uns!