Wer ist Putin?

Wladimir Putin bezieht sich oft und gerne auf die UdSSR, gleichzeitig verabscheut er die russische Revolution von 1917. Seine Herrschaft ähnelt mehr der des zaristischen Russlands oder dem, das die Weißen Garden aufgebaut hätten – aggressiv imperialistisch nach außen und autokratisch nach innen.
14. Juni 2022 |

Einige Linke, vor allem aus der stalinistischen Tradition, sehen in Putin einen Krieger des antiimperialistischen Lagers. Russland heute, so wie das Russland unter Stalin und seinen Nachfolgern, wird nicht als imperialistischer Staat begriffen, sondern als Bollwerk gegen (westlichen) Imperialismus. Der anti-westliche Reflex, der dieser Haltung zugrunde liegt, ist verständlich, aber er macht blind für die tatsächliche Natur des russischen Staats und seines Regimes.

Putins Helden

Putins Russland ähnelt auf vielfache Weise dem, was die konterrevolutionären „Weißen“ aufgebaut hätten, hätten sie, nicht die Rote Armee, den Bürgerkrieg gewonnen: er stützt sich auf die Kirche als Legitimation seiner Macht, er erträgt keine Opposition, er steht für sozialen Konservatismus, er hält 100 Jahre nach dem Ende der Romanows am zaristischen Ideal von „Autokratie, Orthodoxie und dem Willen des Volkes“ fest.

Seine Haltung zur russischen Revolution ist ohnedies bezeichnend. Laut Matthew Owens „verehrt er die Sowjetunion, der er als Mitglied der Kommunistischen Partei und als KGB-Offizier diente, verabscheut aber den Volksaufstand, der sie geschaffen hat. In den letzten Jahren hat sich der Kreml auf verschiedene Teile der russischen Geschichte berufen, um Putins Legitimität zu stärken. So wurden Statuen für Prinz Wladimir von Kiew und Iwan den Schrecklichen errichtet und Geschichtsbücher umgeschrieben, um Stalin als heldenhaften Kriegsführer und nicht als Völkermörder darzustellen. Es gibt jedoch keine moderne Parteilinie zur Revolution – keine ‚offizielle‘ oder ‚patriotische‘ Version.

Der konservative vorrevolutionäre Ministerpräsident Pjotr Stolypin – berühmt für das Erhängen von Revolutionären an ‚Stolypin-Krawatten‘ – kommt einem offiziellen Helden der Epoche wohl am nächsten. Stolypin wurde 2008 in einer Telefonumfrage im TV zum ‚größten Russen der Geschichte‘ gewählt (eine manipulierte Abstimmung, wie sich herausstellte – Stalin erhielt mehr Stimmen).“

Putin sieht die Bolschewiki als gefährliche Verräter. Lenin hätte „die nationalen Interessen Russlands verraten“, sagte er 2015 vor jungen Aktivist_innen auf dem jährlichen vom Kreml organisierten nationalen Seliger-Jugendforum. Die Bolschewiki „wollten ihr Vaterland besiegt sehen, während heldenhafte russische Soldaten und Offiziere an den Fronten des Ersten Weltkriegs ihr Blut vergossen“. Nach Putins Ansicht führte die Revolution dazu, dass im Ersten Weltkrieg „Russland als Staat zusammenbrach und sich für besiegt erklärte“.

Die russische Revolution von 1917 ist das Schreckgespenst beider Seiten: Washingtons und Moskaus. Es war der spontane Februaraufstand, der das Regime des Zaren wegfegte und in den ersten zwei Jahr nach der Oktoberrevolution schwappte eine revolutionäre Welle über den halben Globus.

Konterrevolutionär wie Stalin

Auch die westlichen Mainstream-Medien porträtieren Putin gerne als Stalin-Nachfolger und damit als eine Ausgeburt des so gefürchteten Kommunismus. Einige Parallelen sind offensichtlich: Stalin hatte dasselbe ambivalente Verhältnis zur Revolution von 1917. Er hatte alle Erinnerungen an die Revolution und die frühen revolutionären Jahre tilgen lassen, so wie er praktisch alle ihre führenden Vertreter verfolgen und ermorden ließ. Trotz der Millionen Toten, die auf sein Konto gehen, betrachteten beide verfeindeten Lager – die Verfechter des westlichen und des russischen Imperialismus – Stalin und sein Teufelswerk als praktizierten Kommunismus. Die Irrmeinungen über das stalinistische Regime zeigen bis heute ihre Wirkung.

Mai 1920: Lenin hält eine Rede vor der Roten Armee am Swerdlow-Platz in Moskau.

Putin spielt auf dieser Klaviatur, wenn er den Überfall auf die Ukraine als reinen Abwehrkampf gegen die NATO-Expansion beschreibt und als Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung vor den Faschisten in der Ukraine! Nun, die NATO ist tatsächlich bis an die Grenzen Russlands expandiert und es gibt auch wirklich faschistische Kräfte in der Ukraine, aber Putin handelt als Imperialist und nicht als Verteidiger der Freiheit. Wie zu Zeiten Stalins sind Gegner und Anhänger blind für die imperialistische Natur des russischen Staats.

Blutige erste Amtszeit

Putin wurde 1999 während des Zweiten Tschetschenien-Kriegs von Boris Jelzin zum Premierminister ernannt und folgte ihm ein Jahr später als Präsidenten nach. Putin ließ die kleine Kaukasusrepublik verwüsten und die Hauptstadt komplett zerstören. Seine Truppen wüteten weitere acht Jahre um jeglichen Widerstand gegen das von Russland installierte Marionettenregime Kadyrows zu brechen.

Zwei Geiselnahmen sollten der Welt die Brutalität Putins vor Augen führen. Tschetschenische Freischärler nahmen im Oktober 2002 im Moskauer Dubrowka-Theater etwa 700 Geiseln, um den Abzug des russischen Militärs aus Tschetschenien zu erzwingen. Putin ließ den Einsatz eines Nervengases im Theater zu: 41 Terroristen und 129 Geiseln kamen dabei ums Leben. Zwei Jahre später stürmten wieder tschetschenische Freischärler eine Schule in Beslan und nahmen mehr als 1100 Geiseln. Die Schule wurde von der russischen Armee gestürmt, was beinahe 400 Menschen, vor allem Kindern, das Leben kostete.

Kapitalistisch und imperialistisch

Dass Putin tatsächlich ein imperialistisches großrussisches Projekt verfolgt, bestätigt auch der russische Sozialist Ilya Budraitskis von der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften: „Er betrachtet sie (die Ukraine) als eine künstliche Schöpfung Lenins und der Bolschewiki, die er verachtet. Er ist der Ansicht, dass ihre Revolution und ihre Anerkennung des Rechts unterdrückter Völker auf Selbstbestimmung eine Bedrohung für den russischen Staat darstellt.“

Natürlich werden Stalinverehrer solche Einsichten nicht aus dem Konzept bringen. Stalin hat schon zu Beginn seiner Herrschaft den Internationalismus der russischen Kommunisten durch russischen Patriotismus und Nationalismus ersetzt. Und so wurde die Verteidigung russischer Interessen von Kommunisten auf der ganzen Welt gleichbedeutend mit der Verteidigung des Sozialismus gegen den imperialistischen Westen. Was sie als Antifaschist_innen nach der prominenten Rolle der Roten Armee beim Sieg über Hitlers Armeen nie verstehen wollten oder konnten: Russland war mit der UdSSR seit Stalin ein staatskapitalistischer und imperialistischer Block ohne einer Spur von Arbeiter_innendemokratie, völlig zu Recht vergleichbar mit dem Westen unter Führung der USA.

Russland unter Putin ist bei weitem kein so gefährlicher Herausforderer der Vormachtstellung der USA als mächtigste Militärmacht der Welt. Dennoch kann dieser Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und Washington jederzeit katastrophal eskalieren – mit konventionellen Waffen und mit Nuklearwaffen. Die größte Hoffnung liegt deshalb in einer massenhaften Opposition gegen diesen Krieg durch die Bevölkerungen in Ost und West.

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