Revolutionärer Defätismus: Gegen Krieg und Vaterland

Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Vladimir Lenin – sie alle haben eine stolze Tradition eingeläutet, die des „revolutionären Defätismus“. Sie gaben der Niederlage der eigenen Armee den Vorzug über einen Triumph des Patriotismus. Jakob Zelger stellt sich der Frage, inwieweit eine „defätistische“ Haltung auch im Stellvertreterkrieg zwischen Russland und NATO in der Ukraine angebracht ist.
14. Juni 2022 |

Kriege werden immer von patriotischer Propaganda begleitet: Wir – „die Guten“ – gegen die anderen, „die Bösen“. Gerade ein Krieg, der „gerecht“ wirkt, weil er sich gegen einen Diktator richtet, findet bis in die Linke hinein Zustimmung. Für uns Sozialist_innen muss eine klare Anti-Kriegs-Position unverhandelbar bleiben, denn jede Anbiederung an die herrschende Regierung ist fatal für die Linke und die Arbeiter_innenbewegung.

In imperialistischen Kriegen werden immer die Interessen der herrschenden Klasse vertreten, niemals jene der Mehrheitsbevölkerung. Die Unterstützung der eigenen Eliten bedeutet somit die Aufgabe aller sozialistischen Positionen und deren Unterordnung unter die Kriegslogik. So wurden schon Streikbewegung in Kriegszeiten von Sozialdemokratischen Parteien abgedreht.

Dagegen unterstützen wir (bedingungslos aber nicht kritiklos) antiimperialistische Befreiungskriege oder solche gegen Diktaturen und die proletarische Seite in Bürgerkriegen. Wir sind dezidiert keine Pazifisten.

Keine Eskalation im Ukraine-Krieg!

Im aktuellen Ukraine-Krieg unterstützen wir natürlich die ukrainische Seite gegen Putin, bzw. gegen die russische Armee. Putin haben wir bereits in der Vergangenheit als Autokrat und Unterdrücker demokratischer Bewegungen angegriffen. Wir können aber nicht die NATO unterstützen und die Augen vor der drohenden Eskalation bis hin zum Atomkrieg verschließen. Beide Seiten, Russland und die NATO, scheinen diese Möglichkeit für ihr Machtkalkül in Kauf zu nehmen.

Biden stellte am 27. Mai die Aufrüstung der Ukraine mit Langstreckenraketen in den Raum – Offensivwaffen, die russisches Territorium erreichen können. Das wäre die vor kurzem von liberalen Kommentatoren noch „undenkbare“ Eskalation Richtung Atomkrieg.
Wir sind stolz einer Strömung anzugehören, die schon im Kalten Krieg den Slogan „Weder Washington noch Moskau“ hochgehalten hat. Dieser Haltung sind wichtige Strategien und Thesen zu imperialistischen Kriegen von zahlreichen aufrechten Sozialist_innen vorangegangen.

Linke dürfen sich nie zum Werkzeug der imperialistischen Kriegstreiberei machen lassen.

Die Strategie des „revolutionären Defätismus“ gibt Linken bzw. Arbeiter_innen die Möglichkeit sich aus der Spirale des Sozialpatriotismus zu befreien, weil sie die eigene Regierung als den Hauptgegner versteht. Und sie erlaubt es den Antikriegsbewegungen beider Seiten sich im Kampf gegen ihre jeweiligen Herrscher zu vereinen. In dem wir den Fokus auf Widerstand gegen die NATO legen, kommen russische Kriegsgegner_innen nicht in die Verlegenheit, als Unterstützer_innen der NATO oder als Verräter_innen verbrämt zu werden, wenn sie gleichzeitig gegen Putin protestieren. „Wir kämpfen gegen unsere eigenen Herrscher, kämpft ihr gegen eure, das ist die beste gegenseitige Unterstützung“, die wir uns geben können. Die gewöhnlichen Russen sind nicht unsere Feinde, Nehammer, Biden, von der Leyen und Co. sehr wohl.

Antiimperialismus historisch

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts rief Aufrüstung und Militarisierung zahlreiche Sozialist_innen auf den Plan, die der Ideologie der Herrschenden ihre absolute Gegnerschaft zu imperialistischen Kriegen gegenüberstellten.
Als Imperialismus hatte der revolutionäre Marxist Lenin die jüngste Stufe des Kapitalismus bezeichnet, in der einzelne große Konzerne den Wirtschaftsmarkt beherrschen und die Territorien der Erde vollständig unter den kapitalistischen Großmächten aufgeteilt sind. Als Folge der ungleichmäßig schnellen industriellen Entwicklung drängten manche Mächte erst später auf den Markt und wollten dann auch ihren Anteil haben. Dies führte in der Folge zum Ersten und später zum Zweiten Weltkrieg.

Verrat durch die Sozialdemokratie

Die Zweite Internationale war 1889 durch das Bestreben Friedrich Engels‘ als Zusammenschluss marxistischer Organisationen gegründet worden. Im Laufe der Jahre verabschiedeten sich manche von ihnen vom marxistischen Grundsatz der sozialistischen Revolution, und begannen sich an die bürgerlichen Haltungen der Eliten anzupassen. Das führte zu zunehmenden Spannungen innerhalb der Internationalen, die sich auch in Debatten über Krieg äußerte. Gegen die Vorschläge im Falle eines Kriegsausbruchs mit Generalstreiks und Aufständen den Kriegsfortschritt der eigenen Seite zu sabotieren, brachten die deutschen Delegierten die Angst vor Verbot und Verfolgung ein.

Die Alternativen zu Aufrüstung und Krieg sind die internationale Solidarität mit den Arbeiter_innen aller Länder und der Sturz der Regierungen.

Der daraus resultierende Kompromiss der Resolution von Stuttgart 1907 lautete aber immerhin noch: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um durch Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern oder, falls ein solcher dennoch ausbrechen sollte, für seine rasche Beendigung einzutreten.“

Ähnliche Manifeste wurden auf den Konferenzen 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel einstimmig beschlossen. Als im August 1914 der Weltkrieg ausbrach, erwarteten die aufrechten Kriegsgegner_innen Massenstreiks und Aufstände gegen die Regierungen. Doch die sozialdemokratischen Parteien warfen allen noch vorhandenen Anstand über Bord und unterstützten in ihren Ländern nicht nur Kriegskredite, sondern riefen aktiv zur „Verteidigung“ des Vaterlandes auf.

Widerstand in der SPD

Karl Liebknecht, der Sohn des Gründers der SPD und ein aufrechter revolutionärer Marxist, setzte Zeitlebens sein Ansehen und seine rhetorischen Fähigkeiten dazu ein, die Arbeiter_innenbewegung voranzubringen. Dazu gehörten in der Zeit der Aufrüstung zahlreiche Auftritte in diversen Ländern, wo er vor zehntausenden Arbeiter_innen gegen Krieg und Militarisierung mobilisierte. Er war auch der einzige SPD-Politiker, der im Parlament gegen die Bewilligung von Kriegskrediten stimmte.

Ausrufung der Republik am 9. November 1918 am Berliner Schloss durch Karl Liebknecht: „Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. […] Durch dieses Tor wird die neue sozialistische Freiheit der Arbeiter und Soldaten einziehen. Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!“

Seine wichtigste Aussage verschriftlichte er im Mai 1915 in einem Flugblatt. Er argumentierte: „Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land!“ Er machte darin klar, dass Arbeiter_innen nichts mit den Herrschern und Bossen ihres Landes gemein haben, aber alles mit den Arbeiter_innen der anderen Länder.

Die revolutionäre SPD-Politikerin Rosa Luxemburg hat mit ihrer Broschüre Junius einen entscheidenden Beitrag zur revolutionären Anti-Kriegsbewegung geleistet. Darin greift sie die Burgfrieden-Politik der SPD an und macht klar, dass die Losung „Sieg oder Niederlage“ eine Frage der Herrschenden ist, die Gebiete und Machtsphären gewinnen und verlieren können. Denn „für das europäische Proletariat im Ganzen sind heute von seinem Klassenstandpunkt Sieg und Niederlage jedes der kriegführenden Lager gleich verhängnisvoll. Es ist eben der Krieg als solcher und bei jedem militärischen Ausgang, der die denkbar größte Niederlage für das europäische Proletariat bedeutet, es ist die Niederkämpfung des Krieges und die schleunigste Erzwingung des Friedens durch die internationale Kampfaktion des Proletariats, die den einzigen Sieg für die proletarische Sache bringen kann.“

Revolutionärer Defätismus

Wie Luxemburg stellte sich der russische Revolutionär Vladimir Lenin gegen den Ersten Weltkrieg, und bekämpfte die diversen Ausformungen von Sozialpatriotismus und Sozialchauvinismus. Er beschränkte sich hierbei nicht auf eine reine theoretische Grundlage der Imperialismus-Kritik, er setzte diese im Krieg aktiv um.

Lenin hatte zu Kriegsbeginn 1914 noch keine ausformulierte Theorie, hielt sich aber im Vergleich zu den Führern der sozialdemokratischen Parteien an das zuvor erwähnte Basler Manifest und entwickelte daraus seine Strategie des „revolutionären Defätismus“.

Momentan steht uns der Papst mit seinen klaren Aussagen zur NATO und ihrer aggressiven Haltung in Osteuropa näher als SPÖ-Politiker wie Franz Vranitzky, der gleich nach dem Angriff Russlands die Aufgabe der Neutralität Österreichs und den Beitritt zu einer EU-Armee anregte.

Defätismus bezeichnet einerseits einen „Zustand der Mutlosigkeit oder Schwarzseherei. Ursprünglich bezeichnete er die Überzeugung, dass keine Aussicht (mehr) auf den Sieg besteht.“ Der politische Defätismus bezeichnet hingegen eine Strategie. In der Abhandlung The Myth of Lenin’s „Revolutionary Defeatism unterscheidet Hal Draper zwischen Krieg befürwortendem und ablehnendem Defätismus.

Jede Krieg führende Regierung befürwortet die Niederlage des gegnerischen Landes. Leider schwenkten die sozialdemokratischen Parteien im Ersten Weltkrieg auf diese Linie ein. Eine andere Ausformung des Krieg befürwortenden Defätismus entstand während des Zweiten Weltkriegs in Hitler-Deutschland, wo viele die Niederlage der Nazis durch den Sieg der Alliierten herbeisehnten. Doch schlussendlich wird dabei stets die Niederlage entweder der gegnerischen, oder der eigenen Seite durch Akteure imperialistischer Kriege herbeigesehnt.

Für Lenin waren die Anhänger dieser Strategie keine Defätisten. Er bezeichnete sie als Sozialpatrioten, die auf der einen oder anderen Seite der imperialistischen Mächte stehen.

Lenins Defätismus unterscheidet sich auch von dem seiner engsten Weggefährten, Anti-Kriegs-Revolutionär_innen wie Trotzki und Luxemburg, die den Fokus auf das Verhindern von Kriegskrediten, Klassenkampf während des Kriegs und die Umwandlung der Anti-Kriegsbewegung in eine sozialistische Bewegung legten. Dem Sieg ihrer Regierungen stellten sie den sozialistischen Sieg der Arbeiter_innenbewegung gegenüber. Sie betonten nicht die Niederlage der eigenen Regierung, sondern den Sieg der sozialistischen Bewegung.

Lenin vereinte die Strategie der Anti-Kriegs-Revolutionär_innen mit der des Defätismus. Doch auch er musste die Theorie dazu erst entwickeln. Den „Bürgerlichen Frieden!“ der Sozialpatrioten konterte er mit dem Schlagwort „Bürgerkrieg!“. Der „Verteidigung des Vaterlands!“ stellte er die „Niederlage des eigenen Vaterlands!“ gegenüber. So formulierte er 1914 zunächst im Schweizer Exil in einem Brief an einen Genossen: „Zarismus ist hundert Male schlimmer als der Kaiserismus [Deutschlands].“ Diese erste Formulierung verstand er als Schlagwort für Russland und diente nicht der Befeuerung des deutschen Patriotismus. Er hatte zuvor schon in diversen Texten den Deutschen Imperialismus angegriffen.

Den größten Widerspruch gegen seine Strategie des Defätismus bekam Lenin sofort aus seiner eigenen Partei, den Bolschewiki. Ungeachtet dessen wiederholte er die Losung in den Kriegsjahren immer wieder und schaffte damit einen Ankerpunkt für revolutionäre Politik in Kriegszeiten. Er stellte dem Sozialpatriotismus, der natürlich auch in der Arbeiterschaft um sich gegriffen hatte eine wichtige Alternative gegenüber.

Defätismus als Strategie

Lenin hatte mit seinem revolutionären Defätismus keine universell anwendbare Strategie entwickelt, aber darum ging es letztendlich auch nicht. Das Ziel seiner oft verwendeten Methode des „Ruder Herumreisens“ (bending the stick), war die Ausrichtung der Partei auf das relevante Thema. Er hatte davon immer wieder Gebrauch gemacht, wenn er den Konservatismus innerhalb der Partei oder der Internationalen Linken überwinden musste. So überbetonte er beispielsweise die Notwendigkeit einer geeinten Partei, als Radikale in Deutschland die KPD spalteten und gegen Gewerkschaften und Parlamentarismus hetzten. In der Zeit des Ersten Weltkriegs, als viele in der Linken ins sozialpatriotische Lager abdrifteten, richtete er seine Partei durch den Defätismus neu aus.

Der Gründer der Strömung der Internationalen Sozialisten IST, Tony Cliff, prägte den Slogan „Weder Washington noch Moskau“ in einer Zeit, als ein Atomkrieg jederzeit hätte ausbrechen können. Damals war die Linke gespalten in Unterstützer des westlichen Imperialismus – vor allem sozialdemokratische Parteien – und des stalinistischen, staatskapitalistischen Ostblocks – hauptsächlich kommunistische Parteien. Verteidiger_innen einer sozialistischen Anti-Kriegs-Haltung waren die geistigen Nachkommen Trotzkis, welcher nach der Machtübernahme Stalins die aufrechten Revolutionär_innen um sich sammelte und seine Theorien weiterentwickelte.

Damals wie heute

Heute sehen wir wieder das Erstarken von westlichem Patriotismus in den Reihen der Linken. Deswegen sind die Schlüsse, die Lenin zu Beginn des Weltkrieges zog, für uns heute so wichtig: „Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen, sie kann den Zusammenhang zwischen militärischen Misserfolgen der Regierung und der Erleichterung ihrer Niederringung nicht übersehen.“

Linke dürfen sich nie zum Werkzeug der imperialistischen Kriegstreiberei machen lassen. Wir müssen uns aktiv gegen jede Kriegshetze stellen und zeigen, dass Aufrüstung in kapitalistischen Ländern nie der Verteidigung der Demokratie dient. Sie stärkt die Position der herrschenden Klasse und schwächt die der werktätigen Klassen. Mit einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft werden Rechte abgebaut und rechtsextreme Strukturen gefördert.

Wir wollen keine Ausweitung des Krieges – wir wollen keine NATO und keine Aufrüstung in Europa! – Linkswende interviewte Andy Zebrowski, Sozialist aus Polen. Weiterlesen…

Die Gefahr eines Atomkrieges war seit Jahrzehnten nicht mehr so hoch wie heute. Die nuklearen Waffen wurden seit dem Kalten Krieg weiterentwickelt und könnten bei Ausbruch eines Weltkrieges die komplette Vernichtung ganzer Kontinente bedeuten. Deshalb müssen Sozialist_innen die eigenen Eliten bekämpfen, wenn die einen Atomkrieg riskieren, das heißt im Westen auf die Niederlage der NATO, der USA, der EU usw. hinarbeiten.

Hierzu müssen neue Bündnisse geschmiedet werden, die über die klassische Linke hinausgehen. Momentan steht uns der Papst mit seinen klaren Aussagen zur NATO und ihrer aggressiven Haltung in Osteuropa näher als SPÖ-Politiker wie Franz Vranitzky, der gleich nach dem Angriff Russlands die Aufgabe der Neutralität Österreichs und den Beitritt zu einer EU-Armee anregte. Die Alternativen zu Aufrüstung und Krieg sind die internationale Solidarität mit den Arbeiter_innen aller Länder und der Sturz der Regierungen. Militärische Niederlagen schwächen die Herrschaftsstrukturen und können Bewegungen von unten stärken.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Monarchien in Deutschland und Österreich gestürzt. In Russland wurde innerhalb eines Jahres zunächst der Zar gestürzt und wenige Monate später die erste Räterepublik ausgerufen. In zahlreichen anderen Ländern kam es zu sozialistischen Revolutionen. Ähnliche Situationen konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten, als an vielen Orten die Bevölkerung selbstorganisiert die Entnazifizierung startete.

Sobald die Pro-NATO und Pro-Kriegs-Euphorie einer massenhaften Ablehnung des Kriegs weichen wird – und darauf müssen wir hinarbeiten – wird das wieder möglich!

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Wer ist Putin?