1918: Die Provinz in Aufruhr „Klostergründe für die Bauern“

Die Republik wurde am 12. November 1918 in Wien gegründet, so steht es in den Geschichtsbüchern. In Oberösterreich aber waren die Menschen der Monarchie so überdrüssig, dass sie einen Beschluss der „provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich“ vom 30. Oktober als Auflösung der Monarchie uminterpretierten. Während in Wiener Hinterzimmern über Österreichs Zukunft debattiert wurde, riefen die Menschen auf Massendemonstration schon am 1. November in Linz die Republik aus.
19. Juli 2018 |

Viele Historiker_innen behaupten, was sich November 1918 in Österreich abspielte, wäre keine echte Revolution, sondern ein Zusammenbruch gewesen. Gestützt wird diese Behauptung mit dem Verweis darauf, dass es im November 1918 zu keinen größeren Kämpfen zwischen Revolutionär_innen und Konterrevolutionären kam.

Der Historiker Fritz Dittlbacher erklärt die Defensive der Rechten als dafür verantwortlich: „Das manchmal als „unrevolutionär“ interpretierte Fehlen von Barrikadenkämpfen war Ergebnis des Mangels an Reaktionären, nicht an Revolutionären.“

Die Landbevölkerung unterstützte vor dem Krieg größtenteils die konservative Christlichsoziale Partei und galt in linken Kreisen als das reaktionäre Rückgrat des Habsburgerstaates. Allerdings zeigen die selbständige Ausrufung der Republik, der Aufrufe „Klostergründe für die Bauern“, Plünderungen und die Gründung von Volksräten, wie falsch diese Einschätzung war und wie allumfassend sich der Wunsch nach radikaler Veränderung ausbreitete.

Jännerstreik 1918

Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft

Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft

Zeitgleich mit der Rätebewegung während des Jännerstreiks entstanden am Land sogenannte „Deutsche Volksräte“. Die Volksräte entstanden im Gegensatz zu den Arbeiter_innenräten nicht durch direkte Wahl von unten, sondern Christlichsoziale und Deutschnationale bestimmten Parteifunktionäre, welche in ihnen tätig sein sollten.

Doch genauso wie die Arbeiter_innenräte nicht einfach Organe der Sozialdemokratie waren, entwickelten auch die „Deutschen Volksräte“ ein Eigenleben. Die Parteivertreter in den Räten waren den einfachen Menschen deutlich näher als die Parteiführungen, deshalb waren sie für Druck von unten empfänglicher.

Novemberumsturz

Am 1. November kam es in Linz zu einer Großdemonstration. Zehntausende Menschen marschierten unter Hochrufen auf die russische Revolution zum Hauptplatz. Am Ende der Demonstration wurde die Gründung der Republik verkündet. Reihenweise Verurteilungen wegen Diebstahl und Wilderei wurden aufgehoben, die Urteile waren im Namen des Kaisers gefällt worden, und diesen gab es nicht mehr!

Am Morgen des 2. November traten die Arbeiter_innen der Firma Hinterschweiger in Lichtenegg in den Streik, ganz Wels solidarisierte sich mit den Streikenden. Während einer Solidaritätsdemonstration wurden Offizieren die kaiserlichen Abzeichen von den Uniformen gerissen, Gefangene aus den Gefängnissen befreit und mehrere Munitionsdepots von den Soldaten beschlagnahmt.

1918: Massenkundgebung am Linzer Hauptplatz zur Ausrufung der Republik © Archiv der Stadt Linz

Im kleineren Ausmaß kam es zu Plünderungen von Kirchen und Lebensmittelgeschäften; die Volksräte gingen gegen diese Plünderungen mit dem Argument vor, es werden Gesetze über die Verteilung der Lebensmittel beschlossen werden. Auf dem Land wurden ehemals verbotene Aktivitäten wie wildes Holzfällen oder Wildern zur tagtäglichen Praxis.

Volksräte

Am 2. November übernahm der „Volksrat“ in Wels die Regierungsgewalt über die Stadt und das Umland. Obwohl er nur 3 Tage über Wels herrschte, setzte er radikale Maßnahmen durch. Der „Volksrat“ bestand aus Vertretern aller drei Parteien, Vertretern des Soldaten- und des Arbeiter_innenrates, dem Bezirkshauptmann und einem Beamten. Der Soldatenrat wurde als offizielles Sicherheitsorgan eingesetzt.

Der Volksrat schritt zur Enteignung von Lebensmittellagern. Luxuriöse Kaffeehäuser wurden geschlossen, „Wirtshauskarten“ eingeführt (dadurch konnten auch ärmere Menschen in Wirtshäusern essen) Sogar eine Enteignung der Fabriken stand im Raum. Die Radikalität des Volksrates war Ausdruck der Stimmung unter den Massen. Die Volksräte hatten das Ziel, „Ruhe und Ordnung“ aufrecht zu erhalten; hätten sie nicht zu radikalen Maßnahmen wie Enteignung gegriffen, hätten die Massen diese Schritte selbständig gesetzt.

Fritz Dittlbacher analysiert die Rolle der Räte in seiner Doktorarbeit Die Revolution auf dem Lande treffend als beruhigende und nicht als weiter treibende Kraft. Einer der Gründe hierfür war der politische Unwille der SDAP die Revolution auf eine sozialistische Grundlage zu stellen, das hätte die Enteignung der Betriebsbesitzer und die Machtübernahme der Räte in ganz Österreich bedeuten müssen. Der Volksrat traute sich nicht die Machtfrage zu stellen, als er von der Landesregierung am 5. November zur Auflösung aufgefordert wurde, kam er dem nach.

Rätefrühling  1919

Arbeiter_innen versuchten Anfang Jänner das Rathaus in Steyr zu stürmen. In ganz Oberösterreich radikalisierte sich die Stimmung; es kam zu Massenprotesten gegen die Steyrer Zeitung, welche immer wieder kaisertreue Artikel veröffentlichte. Reihenweise kam es zu Plünderungen und Verteilungen von Lebensmitteln. In Molln wurden am 14. März fünf verhaftete Wilderer befreit.

Nach der Befreiung wurde gemeinsam im Wirtshaus gefeiert, die Polizei umstellte das Wirtshaus und ermordete 3 Wilderer. Ein weiterer wurde schlafend in der Nacht erstochen. Das Tagblatt schrieb am 15. März: „Sofort verließen die Arbeiter ihre Fabriken, scharten sich zusammen und suchten nach Waffen, die Holzknechte begannen von den Bergen zu steigen, die Waffe in der Hand.“ Der „Linzer Arbeiterrat“ schickte eine Kommission nach Molln, welche den Rücktritt des Bürgermeisters und die Freilassung der Wilderer erzwang.

Bauernräte

Ab April 1919 wurden vermehrt „Bauern- und Landarbeiterräte“ gegründet, diese waren Christlichsozial dominiert. Innerhalb der Sozialdemokratie und der Arbeiter_innenräte kam es zu einer Debatte, ob mit den „Bauern- und Landarbeiterräten“ kooperiert werden sollte, um sie für den Sozialismus zu gewinnen, oder ob sie für den Sozialismus aufgrund ihrer Klassenposition nicht zu gewinnen seien.

Abstimmung in eimem russischen Bauernrat. Den Bolschewiki gelang ein Bündnis zwischen Arbeiter_innen und Landbevölkerung © Arkady Shaikhet

Zu einer politischen Lösung dieser Frage kam es nicht, die Arbeiter_innenräte setzten auf eine pragmatische Kooperation. Die „Bauern- und Landarbeiterräte“ lieferten Getreide an die Arbeiter_innenräte, welche es dann selbständig zermahlen und zu Brot backen ließen um es unter der Bevölkerung zu verteilen.

In Ortschaften wie Wels, Puchberg, Thalheim, Lichtenegg, Steyr  und vielen mehr wurden eigenen „Lebensmittelaufbringungskommissionen“ gebildet, die aus Vertretern der Arbeiter_innen-, Soldaten- und Bauernräten bestanden. Der Kooperation der Räte gelang, woran Staat und Wirtschaft gescheitert waren, die Ernährung der Bevölkerung!

Im Gegensatz zu Russland konnte dieses praktische Bündnis nicht auf eine politische Grundlage gestellt werden. Zu einer Diskussion zwischen den unterschiedlichen Räten über die Abschaffung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus kam es nicht. Ein Problem war, die einfachen Landarbeiter_innen, Knechte und Mägde waren in den „Bauern- und Landarbeiterräten“ unterrepräsentiert.

Im „Landesausschuss der Bauern- und Landarbeiterräten“ saß ein einziger landwirtschaftlicher Arbeiter 14 Bauern, einem Gastwirt und einem Nationalratsabgeordneten gegenüber. In Oberösterreich gab es in etwa 200.000 Landarbeiter_innen, sie waren die gigantische Mehrheit der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung.

Die Landarbeiter_innen waren von der Sozialversicherung genauso wie vom Betriebsrätegesetz ausgeschlossen. Die SDAP konzentrierte sich in ihrer Agitation auf die Arbeiter_innenklasse in den Großstädten, die Landarbeiter_innen ignorierte sie. Das ermöglichte der radikalen Rechten, die Landarbeiter_innen für ihre Ziele zu gewinnen.

Selbstbefreiung ist möglich

Wie die Russische Revolution die Gesellschaft radikal veränderte

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Nach dem russischen Revolutionär Lenin muss der Sozialismus „jeder Köchin lehren, den Staat zu lenken“. Konservative, Liberale und Sozialdemokraten lachen über dieses Zitat. Den Arbeiter_innen wird im Kapitalismus tagtäglich eingeredet, sie können sich nicht selbst regieren. Es brauche eine Unternehmensführung, Polizei, Richter, Politiker usw. Herrscht der Pöbel, herrscht das Chaos: diese Verachtung für die einfachen Menschen ist eine ideologische Grundlage unserer Gesellschaft.

Die oberösterreichische Rätebewegung war der lebendige Gegenbeweis. Es waren einfache Arbeiter_innen, Bauern und Bäuerinnen, welche die Ernährung der Bevölkerung organisierten. Diese Tatsache ist der Beweis, dass Sozialismus keine Utopie bleiben muss, sondern verwirklicht werden kann!