Wie die Russische Revolution die Gesellschaft radikal veränderte

Die Russische Revolution war die erfolgreichste soziale Bewegung, die die Welt je gesehen hat. Sie beendete den Ersten Weltkrieg, stürzte das auf Profit, Ausbeutung und Unterdrückung basierende kapitalistische System und inspirierte Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter auf der ganzen Welt. Die Fortschritte, die das russische Proletariat in einem der rückständigsten Länder der damaligen Zeit erkämpfte, sind 100 Jahre danach noch immer wert, studiert zu werden.
22. Oktober 2017 |

Die Russische Oktoberrevolution markiert den bisherigen Höhepunkt der Menschheitsgeschichte. „Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke“, schrieb der russische Revolutionär und Organisator des Aufstands im Oktober, Leo Trotzki, in seinem Monumentalwerk Die Geschichte der Russischen Revolution. Die Bewegung war auch im Westen stark genug, den schrecklichen Ersten Weltkrieg zu beenden und den deutschen und österreichischen Kaiser, den türkischen Sultan und den russischen Zar zu stürzen.

Arbeiter_innen, Bauern, Frauen, Soldaten und Matrosen fegten 1917 nicht bloß die zaristische Schreckensherrschaft hinweg und leiteten damit das Ende des Ersten Weltkriegs ein. „Die Roten“ brachten das kapitalistische System selbst zum Einsturz und die einfachen Menschen regierten sich zum ersten Mal in der Geschichte von Klassengesellschaften selbst. Sie selbst veränderten sich im Prozess der Revolution und ihre Vorstellungen, wie eine neue, sozialistische Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung aufgebaut werden sollte.

Frieden

Unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Sowjets begannen die Bolschewiki ein radikales, noch nie dagewesenes Programm in einem der rückständigsten Länder Europas umzusetzen. Der Krieg sollte sofort mit einem Friedensschluss beendet werden, die Produktion wurde unter die Kontrolle der Werktätigen gestellt und die Bauern sollten das Land unter sich aufteilen.

Die Bevölkerungen der kriegsführenden Nationen und vor allem die Soldaten waren voller Hoffnung. Kriegsheimkehrer erzählten von der Russischen Revolution und begeisterten die Arbeiter_innen im Hinterland. Das Oberkommando der k.u.k. Armee war nach der Oktoberrevolution zunehmend über die Stimmung unter den Soldaten besorgt (dokumentiert von Verena Moritz in 1917 – Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution): „Die Leute erklärten, dass es ihnen gleich sei, wer regiere. Sie würden jedoch nur diejenige Regierung anerkennen, die sofort Frieden bringe.“

Deutsche und russische Soldaten an der Ostfront feiern den Friedensschluss 1918.

Panik erfasste die Regierungen in Europa. Kriegsminister Winston Churchill schickte britische Truppen, um die konterrevolutionäre Armee der „Weißen“ zu unterstützen, und erklärte, der Bolschewismus müsse „bereits in der Wiege erwürgt werden“. Österreichs Kaiser Karl telegrafierte an den österreichischen Außenminister Graf Ottokar Czernin: „Ich muss nochmals eindringlichst versichern, dass das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluss [abhängt] … Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, auch wenn noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit.“

Sowjetmacht

Die Herrschenden hatten überall auf der Welt eine große Sorge – dass auch ihr Herrschaftssystem gestürzt werden könnte. Die Oktoberrevolution übergab den Sowjets – den Selbstorganisationen der Arbeiterklasse, der Bauern, Soldaten und Matrosen – die Macht. Erstmals übten die Massen in der Menschheitsgeschichte wirkliche Demokratie von unten aus. Die Sowjets funktionierten völlig anders als die parlamentarische Demokratie wie wir sie kennen – mit einmal in vier oder fünf Jahren ein Kreuzerl machen. Die Sowjets bestimmten täglich die Politik und die Wirtschaft, die Grundlage jeder Gesellschaft. Nicht Konzernbosse und Profitkalkulationen entschieden über die Produktion, sondern die Massen organisierten die Herstellung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen selbst. Die in die Sowjets gewählten Delegierten waren ihren Wähler_innen stets rechenschaftspflichtig.

Ende Mai arbeiteten in Russland 300 Sowjets, im August 700 und im Oktober bereits 1200. Trotzki erzählte dem US-amerikanischen Journalisten John Reed (nachzulesen in seinem fantastischen Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten): „Die Sowjets sind die denkbar vollkommenste Vertretung des Volkes, vollkommen in ihrer revolutionären Erfahrung wie in ihren Ideen und Zielen. Direkt basierend auf der Armee in den Schützengräben, den Arbeitern in den Fabriken, den Bauern auf ihren Feldern, sind sie das Rückgrat der Revolution.“ Die Sowjets waren die Grundlage für die gewaltigen gesellschaftlichen Fortschritte der Oktoberrevolution.

Frauenbefreiung

Innerhalb weniger Wochen wurden radikale Maßnahmen verabschiedet. Beide Ehepartner bekamen das Recht sich scheiden zu lassen, Ehebruch und Homosexualität wurden entkriminalisiert. Georgi Tschitscherin, der offen schwul lebte, wurde Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Russland wurde das erste Land, in dem Abtreibung legalisiert wurde. Sie konnte auf Antrag in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt werden. Verhütungsmittel wurden kostenlos zur Verfügung gestellt. Stillenden Müttern wurde per Gesetz eine bezahlte Arbeitspause von 30 Minuten pro drei Arbeitsstunden garantiert. Überstunden und Nachtarbeit wurde für schwangere und stillende Mütter verboten.

Die Bolschewiki gründeten eine spezielle Abteilung für die politische Arbeit unter Frauen (bekannt unter der Abkürzung „Zhenotdel“). Geleitet wurde diese von Inessa Armand und Alexandra Kollontai, der ersten Volkskommissarin für soziale Fürsorge. Ausgesprochenes Ziel war, schrieb Lenin, die Frauen von der „häuslichen Sklaverei“ zu befreien. Als Trotzki gefragt wurde, ob es wahr sei, dass man sich im revolutionären Russland einfach auf Anfrage scheiden lassen konnte, antwortete er, eine „bessere Frage wäre: ist es wahr, dass es noch Länder gibt, wo das nicht der Fall ist?“

Jane McDermid beschreibt in ihrem Buch Midwives of the Revolution, dass die Bolschewiki im Oktober die Macht nicht ohne die werktätigen Frauen hätten ergreifen können. Sie zitiert Lenins Schwestern Anna und Marija, die zu Beginn der Februarrevolution in der Prawda, der Zeitung der Bolschewiki, berichteten: „Am internationalen Frauentag am 24. Februar wurden die Textilfabriken in St. Petersburg bestreikt. Die Frauen waren in militanter Stimmung. Nicht nur die Arbeiterinnen, sondern auch die Masse von Frauen, die sich in langen Schlangen für Brot und Sozialleistungen anstellten. Sie hielten politische Treffen ab, dominierten die Straßen … Sie gingen zu den Fabriken und forderten die Arbeiter auf, die Arbeit niederzulegen.“

Gegen Antisemitismus

Nicht nur Frauen befreiten sich vom Joch der Unterdrückung. Unter dem Zarismus grassierte hässlicher Rassismus gegen Jüdinnen und Juden. In den 1890er-Jahren und zu Beginn des 20. Jahrhunderts rüstete die russische Geheimpolizei unter Innenminister W.K. von Plehwe die sogenannten „Schwarzhundertschaften“ aus und organisierte blutige Pogrome an der jüdischen Bevölkerung in Polen und der Ukraine. 1903 fielen diese Horden in die Stadt Kischinew (heutige Hauptstadt von Moldawien) mit „Tötet die Juden“-Rufen ein, ermordeten hunderte Jüdinnen und Juden auf offener Straße, vergewaltigten Frauen und rissen Kinder regelrecht in Stücke.

Die Revolution und die Bolschewiki sagten dem Antisemitismus den Kampf an. Leo Trotzki, Vorsitzender des Petrograder Sowjets, Leiter des Revolutionären Militärkomitees und spätere Führer der Roten Armee im Bürgerkrieg, war selbst Jude. Das Berufsverbot für Jüdinnen und Juden im öffentlichen Dienst wurde aufgehoben und 650 Gesetze, die Juden als Bürger zweiter Klasse deklassierten, abgeschafft. Juden konnten erstmals als Anwälte tätig sein.

Die Bolschewiki intensivierten den Kampf gegen Antisemitismus besonders während des Bürgerkriegs. Die konterrevolutionäre Weiße Armee benutzte antisemitische Propaganda gegen die Revolution und ermordete während des Bürgerkriegs schätzungsweise zwischen 50.000 und 100.000 Jüdinnen und Juden in Pogromen. Sie wollten die Uhr zurückdrehen. In der Ukraine zogen die jüdischen Familien mit der Roten Armee hinter den Frontlinien mit, zogen sich mit ihnen zurück und gingen mit ihnen in die Offensive. Das war der beste Schutz, den sie vor den mordenden Truppen der weißen Armee und der anarchistischen Machnotruppen hatten.

Freiheit für Muslime

Das Zarenreich war vor der Revolution als „Gefängnis der Nationen“ berüchtigt. Über die Hälfte der Bevölkerung war nicht-russisch. 1917 gab es im gesamten russischen Kaiserreich rund 16 Millionen Musliminnen und Muslime (10 Prozent der Bevölkerung). Der Zarismus herrschte über sein riesiges Herrschaftsgebiet mit einer Kombination aus teilweise brutaler nationaler und religiöser Unterdrückung. Die Zaren ließen bei ihren Eroberungsfeldzügen Moscheen plündern und raubten islamische Denkmäler und Literatur.

Ein Orchester spielt für die Delegierten am Kongress der Völker des Ostens 1920 in Baku auf.

Die Bolschewiki gingen immer davon aus, dass die Revolution nur international siegen könnte. Sie gestanden deshalb allen Völkern Selbstbestimmung und Religionsfreiheit zu. Im Süden und Osten Russlands konnten islamische Schulen frei eröffnet werden und die Scharia wurde parallel zum offiziellen sowjetischen Rechtssystem eingeführt und toleriert. Raubgut aus den imperialistischen Eroberungen wurde zurückgegeben. 1920 riefen die Bolschewiki auf dem Kongress der Völker des Ostens in Baku zum „heiligen Krieg“ gegen den Imperialismus auf. In der Roten Armee kämpften bis zu 250.000 Muslime gegen die „Weißen“, obwohl die Wehrpflicht für Muslime aus Rücksicht auf die religiösen Gepflogenheiten ausgesetzt wurde.

Die Sowjetregierung schrieb einen Monat nach der Oktoberrevolution an „alle muslimischen Arbeiter Russlands und des Ostens: An euch alle, deren Moscheen und Gebetshäuser zerstört wurden, deren Glauben und Bräuche von den Zaren und Unterdrückern Russlands mit Füßen getreten wurden: Euer Glaube und eure Praktiken, eure nationalen und kulturellen Einrichtungen sind für immer frei und unantastbar. Ihr sollt wissen, dass eure Rechte, genauso wie die aller Menschen in Russland, unter dem mächtigen Schutz der Revolution stehen.“

Kultur

„Das Kostbarste, weil Bleibende“, schrieb Rosa Luxemburg Jahre vor der Russischen Revolution über die Selbstbefreiung der Arbeiter_innenklasse, ist „das sprungweise intellektuelle, kulturelle Wachstum des Proletariats“. 1917 und in den folgenden Jahren blühten das kulturelle Leben, die Wissenschaft und die Architektur in einer nie dagewesen Größe auf. Im Monat der Oktoberrevolution versammelten sich 30.000 bis 40.000 Arbeiter_innen auf Massenkundgebungen in Petrograd, um den Vorträgen des späteren Volkskommissars für Bildungswesen, ­Anatoli Lunatscharski, über Shakespeare und das griechische Drama zu lauschen.

Simon Behrman schreibt in seinem Buch über den sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch: „Jahrzehnte vor allen westlichen liberalen Demokratien wurden Schulen für Kinder mit Lernschwierigkeiten und Erwachsenenbildung eingeführt. Frauen wurden Männern gleichgestellt und das Recht auf Abtreibung und Scheidung beschlossen. Ohne ein Verständnis des gesellschaftlichen Fortschritts der jungen Sowjetrepublik ist es unmöglich, das folgende künstlerische Aufblühen zu verstehen. Das Goldene Zeitalter in der russischen Kultur und Architektur wurde zur Hauptinspiration für Schostakowitsch’ erste Meisterwerke.“

Wie verändert

Vor der Revolution konnte ein großer Teil der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Mit der Aussicht auf eine radikale Transformation der Gesellschaft veränderten sich die Menschen grundlegend: Der Hunger nach Lesestoff schien unersättlich. In einer der stärksten Passagen seines Buches beschreibt John Reed das neue Bewusstsein der Massen: „Ganz Russland lernte lesen … In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn … Russland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis.“

Link: Chronologie der Revolution

Wir sollten uns daran erinnern, dass diese gewaltigen Fortschritte in einem der rückständigsten Länder der damaligen Zeit erkämpft wurden. Arbeiter_innen können sich selbst regieren, dazu müssen sie ihre eigenen Kräfte durch eine Serie von Kämpfen entdecken und an Selbstvertrauen gewinnen. Die Russische Oktoberrevolution lässt uns nur erahnen, wozu die Menschheit heute fähig wäre.

Hinweis: Wie Stalins Konterrevolution die großen Errungenschaften der Revolution zunichtemachen konnte, haben wir in unserer Serie zur Russischen Revolution behandelt.