Jacqueline Woodson: Ein anderes Brooklyn
Die junge Anthropologin und Weltenbummlerin August kehrt zur Beerdigung ihres Vaters zurück an den Ort ihrer Jugend: Brooklyn, New York. Unweigerlich drängen sich durch die vertraute Umgebung Erinnerungen auf, schöne ebenso wie schmerzhafte. Erinnerungen, die die Ich-Erzählerin langsam zu einer Geschichte verschmelzen lässt.
Der Vater zieht mit der achtjährigen August und ihrem kleinen Bruder von Tennessee nach Brooklyn. Während die Kinder durch das Fenster die gefährlichen Straßen Brooklyns beobachten, malen sie sich aus, zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Zur Mutter, die am Tod ihres Bruders in Vietnam zerbrach. Zu ihrem Haus mit Garten. Doch nach und nach wird ihnen bewusst, dass das Vergangenheit ist.
Hier, im Brooklyn der 70er-Jahre, gehören Drogen, Prostitution und Bandenkriege zum Alltag. Die wohlhabenderen weißen Familien ziehen weg, entfliehen dem Viertel der traumatisierten Kriegsveteranen und Junkies. Während Vater und Bruder Trost und Rückzugsort bei der Nation of Islam finden, will August – gemeinsam mit ihren Freundinnen Gigi, Angela und Sylvia – das „echte“ Leben kennenlernen. Bewaffnet mit Rasierklingen, die sie in ihren Strümpfen verstecken, stellen sich die „Gettomädchen“ den täglichen Herausforderungen. „Doch Brooklyn hatte längere Nägel und schärfere Klingen. Jeder zugedröhnte Soldat, jedes hungrige Kind mit aschfahlen Knien hätte uns das sagen können.“
Die US-amerikanische Autorin Jacqueline Woodson, bislang vor allem für ihre vielfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendliteratur bekannt, zeichnet in ihrem Roman in eindringlicher Sprache die Lebenswege von vier Mädchen nach, die, umgeben von Armut und Rassismus, in Brooklyn aufwachsen und vor allem eines möchten: ein besseres Leben.
Dabei war es ihr wichtig, jene Stimmen hörbar zu machen, die nur selten zu Wort kommen. „Ich wollte über nichtweiße Menschen schreiben. Ich wollte über Mädchen schreiben. Ich wollte über Freundschaft schreiben und über all die Dinge, die mir fehlten in den Büchern, die ich gelesen habe.“ Woodson leiht sich dazu auch die Stimme der afroamerikanischen Sängerin Nina Simone, deren Musik die Mädchen auf ihrem Weg begleitet.
Feinfühlig erzählt der Roman von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Vom ersten Verliebt-sein, von Zusammenhalt und Problemen mit Eltern und Schule. Aber auch von Vergewaltigung und Mord. Dinge, die kein Kind beim Aufwachsen begleiten sollten. Er erzählt von großen Träumen und tiefer Verzweiflung: „Nina Simone sagte uns, wie schön wir waren, aber wir hörten ihre Stimme nicht.“ Und er erzählt vom Mut dieser Mädchen, mit dem sie sich ihren Platz im Leben erkämpfen. In Zeiten, in denen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze zunehmen, zeugt Woodsons Roman von höchster Aktualität.