Die Erkämpfung des Frauenwahlrechts

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Frauenwahlrecht in Ländern wie Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei eingeführt. In diesen Ländern gab es revolutionäre Bewegungen der Arbeiter_innenklasse. Lange bevor Frauen im Parlament abstimmen durften, entschieden sie in den Arbeiter_innenräten über die Durchführung von Streiks und die Zukunft des Landes.
22. Oktober 2018 |

Für die Geschichtsschreibung war die Einführung des Frauenwahlrechts das Ergebnis langer politischer Debatten und öffentlicher Diskurse. Auch der Großteil der linken Geschichtsschreibung ignoriert die Rolle der Frauen während der österreichischen Revolution. In den Werken der beiden Austromarxisten Otto Bauer und Julius Deutsch über die österreichische Revolution werden Frauen nicht erwähnt, außer wenn Bauer über die Einführung neuer Erziehungsideen schreibt.

Die österreichische Revolution erhält damit ein an Geschichtsfälschung grenzendes Bild. Es ist ein Bild von einer Revolution der Männer. Die Dissertation von Veronika Helfert: Frauen wacht auf!: Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916/17-1924, hilft dieses Bild zu widerlegen.

Lebenssituation

Der Eintritt in den Ersten Weltkrieg führte zu einer massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen der österreichischen Arbeiterinnen. Tausende Männer mussten als Soldaten an der Front dienen, ihre Jobs wurden größtenteils von Frauen übernommen. Die Kapitalisten sahen in diesem Austausch der Arbeiter durch Arbeiterinnen eine Möglichkeit, ihre Profite zu vergrößern und bezahlten daher Frauen deutlich schlechter.

In der Metallverarbeitung beispielsweise erhielten Männer 42-54 Heller pro Stunde, Frauen gerade einmal 20-30. Emmy Freundlich schätzt in ihrem Buch Die Frauenarbeit im Kriege, dass Arbeiter_innen über Monate hinweg nicht mehr als 2-3 Stunden Schlaf pro Tag erhielten.

Militanter Widerstand

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges hatten sich die klassischen Institutionen der Arbeiter_innenbewegung (Sozialdemokratie und Gewerkschaften) hinter die Krone gestellt und wollten den Krieg gewinnen. Von ihnen war kein ernsthafter Widerstand gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu erwarten.

Dadurch, dass viele Frauen erst mit Kriegseintritt in ihre Berufe wechselten, waren sie in den Gewerkschaften und der SDAP unterrepräsentiert. Hinzu kam noch, dass die SDAP zwar schon am Einigungsparteitag in Hainfeld 1889 die Aufnahme von Frauen in die Gewerkschaften und die Partei beschloss, allerdings weigerten sich einige Sektionen, diesen Beschluss umzusetzen. 1910 waren gerade einmal 10% der Gewerkschaftsmitglieder Frauen.

Die österreichische Rätebewegung: Zwischen Reformismus und Revolution

Die österreichische Rätebewegung: Zwischen Reformismus und Revolution

Lange vor der militärischen Niederlage erfolgte im Hungerwinter 1916 der Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung. Schon im Oktober 1915 wurden in Wien Ämter aufgrund von Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel gestürmt. Genauso kam es zu kleineren Plünderungen. Im Mai 1916 wurden diese kleineren Zwischenfälle dann zu einer Massenbewegung. Am 11. Mai wurden hunderte Geschäfte in Wien geplündert und es kam zu ersten spontanen Streiks gegen Preiserhöhungen.

Polizeiberichte der damaligen Zeit sprechen von Arbeiter_innen als „politische Risikofaktoren“. Die Regierung versuchte die Bewegung zu bremsen, indem sie Ausgangsperren verhängte und die Polizeipräsenz auf den Straßen erhöhte. Dadurch konnten die Proteste zwar kurzfristig eingedämmt werden, langfristig wurde aber nur die Wut der Bevölkerung gesteigert.

Ähnlich wie die Februarrevolution in Russland 1917 von einer spontanen Textil-Arbeiterinnendemonstration ausgelöst wurde, waren auch die ersten Kämpfe der österreichischen Revolution außerhalb der institutionalisierten Kampfformen von Gewerkschaft und Partei angesiedelt. Die Gewerkschaften kritisierten die „nicht leicht zu disziplinierenden“ Arbeiter­innen. Die Gewerkschaften, welche fest unter Kontrolle der SDAP standen, wollten einer Konfrontation mit dem Staat um jeden Preis entgehen. Diese kam aber im Jänner 1918.

Arbeiter_innenräte

Der Jännerstreik war der größte Streik der österreichischen Geschichte. Er entstand spontan, ohne Beteiligung der Gewerkschaften oder der Sozialdemokratie, aus Protest gegen die Kürzung der Mehlrationen um 50%. Der Streik weitete sich schnell zu einem grundsätzlichen Protest gegen Krieg und Kapitalismus aus.

Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft

Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft

In tausenden Betrieben wählten Arbeiter_innen Delegierte, welche für die Aufrechterhaltung des Streiks, Erstellung von Forderungskatalogen usw. zuständig waren. An diesen Wahlen beteiligten sich nicht nur die Arbeiter in den Betrieben, sondern auch die Arbeiterinnen.

Bei diesen spontanen Rätewahlen waren Frauen zum ersten Mal massenhaft in den demokratischen Prozess integriert, jedoch nicht bei den Parlamentswahlen. Frauen hatten durch ihre Hungerproteste 1916 nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung des Jännerstreiks, sondern sie beteiligten sich auch zentral in dessen Organisation.

Frauenwahlrecht

Die Einführung des Frauenwahlrechts auf parlamentarischer Ebene war die Konsequenz aus der Rätebewegung. Hätten bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 nur Männer abstimmen dürfen, hätte Parlament in den Augen der Arbeiterinnen keinerlei Legitimation gehabt und eine erneute Revolution mit Machtübernahme der Arbeiter_innenräte wäre wahrscheinlich gewesen. Die Angst vor weiteren Aufständen zwang die Christlichsozialen (heutige ÖVP) das Frauenwahlrecht zu akzeptieren.

Anlässlich des Frauentags 1917 demonstrierten Textilarbeiterinnen und lösten damit die Februarrevolution in Russland aus © Commons

Zuvor hatten sie, beispielsweise der Geistliche Franz Martin Schindler, noch argumentiert, die „weibliche Natur“ sei mit Politik unvereinbar, Frauen sollten sich auf ihr „natürliches Aufgabengebiet“ – nämlich Kinder, Küche, Kirche – beschränken. Die Rätebewegung verschaffte der Sozialdemokratie das nötige Rückgrat, eine ihrer ältesten Forderungen durchzusetzen.

Die Kommunistin Anna Hornik Strömer, die in der Arbeiter_innenrätebewegung aktiv war, argumentierte: frauenspezifische Errungenschaften wie Zugang für Mädchen zur höheren Bildung, Mutterschutzgesetze usw. „sind alle mit eine Folge der russischen Oktoberrevolution. Die Arbeiter und Arbeiterinnen mussten mit diesen sozialen Gesetzen beschwichtigt werden, um sie davon abzuhalten, es in Österreich ihren russischen Brüdern und Schwestern gleich zu tun.“

Frauen unterrepräsentiert

Auch wenn die Arbeiter_innenräte gigantische Fortschritte für die Frauen erreichten, ist wichtig festzuhalten: „In den Organisationsstrukturen der Revolution, in der institutionalisierten Rätebewegung waren Frauen unterrepräsentiert, und das obwohl bei den Demonstrationen im Ersten Weltkrieg Frauen eine zentrale Rolle spielten,“ so Veronika Helfert. Auf der ersten Reichskonferenz der Arbeiter_innenräte 1919 waren unter den 155 Delegierten nur drei Frauen.

Diese Tatsache dürfen wir, die im Rätesystem das „demokratischste Regierungssystem aller Zeiten“ sehen, nicht einfach ignorieren. Für die geringe Beteiligung von Frauen in den Führungsstrukturen der Räte gab es drei wesentliche Gründe. Erstens: Das Rätesystem ist per Definition an Erwerbsarbeit geknüpft, wer nicht lohnabhängig war, hatte auch kein Stimmrecht. Es gab innerhalb der Rätebewegung intensive Debatten darüber, wie auch Arbeitslose und „Hausfrauen“ in das System integriert werden könnten.

Links das Frauenbild der sozialdemokratischen Monatszeitschrift im Vergleich zur kommunistischen Agitation, welche Frauen als Kämpferinnen für den Sozialismus darstellt © ÖNB

Die Diskussionen verliefen aber nicht immer fair, so versuchte die SDAP etwa, die Rechte von Arbeitslosenräten zu beschneiden, weil in ihnen die Kommunisten besonders stark waren. Dazu kam noch die Doppelbelastung von Frauen mit Lohnarbeit und Hausarbeit, dies ließ weniger Zeit für Politik. Zweitens: Besonders die oberen Organe der Rätebewegung, wie z.B. der „Vollzugsauschuss der Arbeiterräte“, waren nicht sonderlich demokratisch organisiert.

Der Parteivorstand der SDAP hatte einen Sitz in ihm und versuchte, die Benennung von Delegierten zu kontrollieren, das bedeutet, die eigenen Funktionäre, welche selten Frauen waren, in wichtige Posten zu bringen. In den unteren Organen der Rätebewegung, also jene Delegierten, welche direkt im Betrieb von den Arbeiter_innen gewählt wurden (Bezirksarbeiter_innenräte), waren mehr Frauen aktiv als in der Führungsebene.

Drittens: Für die Kommunistische Partei war die geringe Beteiligung von Frauen in den Räten kein Thema. Kommunistinnen wie Ruth Fischer, Anna Hornik Strömer aber auch dem Anarchismus nahestehende Frauen wie Berta Pölz versuchten Arbeiterinnen in die Rätebewegung zu integrieren, scheiterten aber am mächtigen Apparat der SDAP und der Ignoranz der Kommunisten.

Die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung titelte 1919 vor den Parlamentswahlen: „Die Revolution befreit die Frau.“ Veronika Helfert widerspricht dieser Darstellung: „Die Revolution befreit die Frau nicht, es waren Frauen, die in den vorrangegangenen Jahrzehnten für politische, soziale und ökonomische Verbesserungen kämpften, es waren Frauen, die in den letzten Kriegsjahren auf die Straße gingen. Es waren auch Frauen, welche die Revolution brachten.“