Psychotherapeutin im Interview: „Das gesamte Hilfesystem steckt in einer Krise!“
Wie nimmst du als Psychotherapeutin die aktuelle Situation in Hinblick auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wahr?
Katharina Matuschka: Sehr angespannt. Der Andrang auf Therapieplätze ist hoch. Therapeutinnen und Therapeuten kommen mit den Wartelisten nicht mehr nach. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Es gibt Versuche, die Unterstützung auszubauen, wie das Projekt „Gesund aus der Krise“. Da konnten sich Psychotherapeutinnen und –therapeuten um Kassenplätze bewerben, pro Patient oder Patientin wurden 15 Stunden bewilligt. Doch die Plätze waren innerhalb einer Woche weg. Und 15 Stunden für einen Jugendlichen oder eine Jugendliche sind auch zu wenig, wenn es zum Beispiel um eine Depression geht. In 15 Stunden kann man gut unterstützen und stabilisieren, aber man kann in den wenigsten Fällen gesunden.
Würdest du den hohen Bedarf für Psychotherapie auch auf die Coronapandemie zurückführen?
Definitiv. Die Versorgungslage war auch vorher schon angespannt und hat sich durch die Pandemie verschlechtert. Ich erlebe das in Wellen. Jetzt ist gerade wieder so eine Welle, alles soll wieder funktionieren wie vor der Pandemie, doch Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten fällt es sehr schwer, wieder in diesen normalen Alltag hineinzufinden. Es kommen ganz viele mit Ängsten und Depressionen.
Den allerersten Lockdown haben die meisten relativ gut bewältigt. Das war eine Notsituation und Ausnahmesituationen, die zeitlich begrenzt sind, schaffen wir Menschen relativ gut. Als es dann in einen Dauerzustand überging, wurde es schwierig. Zu Beginn der Krise hat man eine Destabilisierung bei denjenigen gemerkt, die bereits Vorerkrankungen hatten oder aus psychosozial schwächeren Familien kamen. Je länger die Krise andauert, umso mehr trifft es auch Familien, die eigentlich über viele Ressourcen verfügen.
Was waren oder sind die größten Belastungen für Kinder und Jugendliche?
Ich bin der Meinung, dass Kinder und Jugend total ausgeblendet wurden. Aus rein psychosozialer Sicht betrachtet, waren die für diese Altersgruppe gesetzten Maßnahmen eine Katastrophe. Sie waren oft nicht nachvollziehbar und es wurde der Jugend eine extreme Verantwortung zugeschoben, die sie nicht erfüllen konnte, weil es gegen ihre Entwicklung sprechen würde.
Kindern wurde eine nicht zuzuordnende Gefahr vermittelt, die sie nicht verarbeiten konnten. Sie haben Ängste und, aus einem Bedürfnis nach Kontrolle heraus, auch Zwänge entwickelt. Jugendliche sind durch das Home Schooling und die soziale Isolation in eine Depression gekippt, mit verlorenem Antrieb, wenig Bewegung, hohem Medienkonsum, Verlust von Routine und Tagesstruktur. Es gab keine Ziele und keine Zielerreichung mehr und dadurch keine Motivation. Es entstand eine Aussichts- und Ausweglosigkeit. Die ganze Zukunftsplanung fällt weg und du gerätst in große Selbstzweifel. Da beginnen emotionale Impulskontrollstörungen oder selbstverletzendes Verhalten. Dadurch erklärt sich, denke ich, auch die hohe Suizidgefährdung. Die Zahlen sind erschreckend, aber ich erlebe es tatsächlich so.
Welche Auswirkungen hat das Pandemiemanagement auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen?
Die häufigen Lockdowns und soziale Isolation haben den Kindern, und vor allem den Jugendlichen, viele Entwicklungsmöglichkeiten genommen. In der Kindheit und Jugend gibt es sensitive Phasen für bestimmte Entwicklungsaufgaben und der Zeitrahmen dafür ist relativ eng. Wenn man das in dieser Zeit nicht schafft und sich das Lernfenster schließt, ist es ganz schwierig, das aufzuholen.
Bei Kindern hast du das Lernen der Sozialformen wie Rechnen, Schreiben, Lesen und die erste soziale Einordnung: Wie nimmt mich die Gruppe wahr, was ist meine Position, wie kriege ich Rückmeldung? Gleichzeitig waren viele Familien mit dem Home Schooling überfordert. Bei den Jugendlichen fehlte die Peergroup. Dabei geht es um die Identitätsbildung, die beginnende Ablösung vom Elternhaus, Ziele, Zukunftspläne – das war alles auf Null, ganz plötzlich. Und es wurde ihnen medial ganz viel Schuld vermittelt, falls sie sich doch mit ihrer Peergroup treffen wollten, weil sie damit andere gefährden.
Welche Rolle spielt die gesamte Familiensituation für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen? Welche Belastungen sind in den Familien aufgetreten?
Eltern haben in den letzten Jahren massive Belastungen erlebt: Ängste und Sorgen in der Pandemie, Belastungen im Beruf und durch das Home Schooling, der Krieg und nun große finanzielle Sorgen. Je mehr Belastungen du als Elternteil tragen musst, desto schwieriger ist es, sensibel für die Kinder und Jugendlichen da zu sein, für die du ja als Elternteil die Stütze bist. Dann kannst du nicht mehr so gut auf die Kinder eingehen, nicht weil du es nicht möchtest, sondern weil deine Ressourcen erschöpft sind. Es entsteht ein Teufelskreis.
Wie könnte das besser aufgefangen werden?
Was meines Erachtens geholfen hat, war, eine Konstante zu bieten, das gibt auch den Eltern Halt. Sei es in der Psychotherapie oder der Familienarbeit. Über aufsuchende Hilfen, Selbsthilfegruppen oder Lernhilfen könnte man sehr gut unterstützen, da bräuchte es mehr Ressourcen, damit diese auch schnell installiert werden können. Wenn ich monatelang auf eine Hilfe warten muss, hat sich in der Zwischenzeit schon extrem viel angestaut. Leider gibt es in der Sozialpädagogik einen enormen Personalmangel. Die Kinder- und Jugendhilfe versucht, da gegenzusteuern, aber das läuft zu spät an. Der Mangel im Sozialsystem war ja schon lange vor der Pandemie ersichtlich.
Wie schätzt du grundsätzlich die psychosoziale Versorgung in Österreich ein?
Man kann sich das auf drei Ebenen anschauen – psychiatrische, psychotherapeutische und psychologische Versorgung. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sollte es in Österreich 890 Betten geben, doch 2020 gab es nur 349 Betten und es wird weniger – 2019 waren es noch 520. Es mangelt auch an Kinder- und Jugendpsychiatern, es ist ganz schwer, sie im Spital zu halten und es kommen keine nach. In der Klinik Hietzing wurde bereits überlegt, die Station übers Wochenende zu schließen. Auch ambulant gibt es statt den vorgesehenen 36 Anlaufstellen gesichert nur 12. Von den gebrauchten 111 Kassenordinationen gibt es in Österreich nur ein Drittel.
Als Therapeutin fällt mir auf, dass Kinder und Jugendliche, die ich in die Psychiatrie zuweise, extrem schnell wieder entlassen werden, manchmal schon nach einer Nacht und dann hast du kurze Zeit später dieselbe Symptomatik wieder. Lange auf einen Psychiatrieplatz zu warten, bedeutet in der Zwischenzeit eine massive Verschlechterung der Symptomatik. Auch bei niedergelassenen psychiatrischen Kassen-Ordinationen gibt es Wartezeiten bis zu einem halben Jahr. Das ist ein Problem, denn manchmal braucht es eine medikamentöse Einstellung, um überhaupt therapeutisch arbeiten zu können.
In der psychologischen Diagnostik haben sich die Wartezeiten in den letzten Jahren ca. um ein Monat verlängert. Im psychotherapeutischen Bereich fehlt es stark an Kassenplätzen. Dabei erlebe ich viele Therapeutinnen und Therapeuten als motiviert und bereit, mehr anzubieten, doch es wird uns nicht leicht gemacht. Es ist mühsam bei der Krankenkasse um einen Platz anzusuchen: es dauert lange, bis dieser bewilligt wird, es gibt viele Auflagen und eine relativ schlechte Bezahlung. Es ist auch das Bewusstsein für psychische Gesundheit größer geworden, dadurch gibt es mehr Anfragen, aber nicht mehr Plätze. Es gibt österreichweit auch kein einheitliches Konzept und keinen guten Überblick über die Versorgung. Es gibt viele tolle Projekte, aber die Betroffenen finden schwer Zugang.
Was bedeutet eine psychische Erkrankung im Kinder- und Jugendalter für die weitere Entwicklung eines Menschen?
Mit guten Hilfen können Probleme im Kinder- und Jugendalter gut aufgelöst werden und es ist möglich, eine ganz gesunde Zukunft zu haben. Kinder und Jugendliche sind in der Therapie oft so flexibel und motiviert, dass man in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum gut stabilisieren und gesunden kann.
Bleibt die Erkrankung unbehandelt hat das große Auswirkungen. Aus psychisch erkrankten Jugendlichen werden psychisch kranke Erwachsene und für deren Kinder steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit, selbst zu erkranken. Und es kann Auswirkungen auf die berufliche und finanzielle Situation haben. Deswegen wäre es gerade bei Kindern und Jugendlichen wichtig, möglichst rasch genau die Hilfen bereit zu stellen, die individuell gebraucht werden. Es bräuchte auch besseren Zugang zu den Jugendlichen über niederschwellige Jugendarbeit, Pädaog_innen müssten geschult und entlastet werden.
Wie geht es in dieser angespannten Situation den Helfenden?
Im niedergelassenen Bereich kann ich mich gut abgrenzen und mir selbst einteilen, wie viele Plätze ich anbieten kann. Für angestellte Kolleginnen und Kollegen in Reha-Zentren oder im Spital ist das schwieriger und die Belastung höher. Ich habe den Eindruck, dass das ganze Hilfesystem zu Beginn der Pandemie in eine Krise geschlittert ist: Wie schützen wir uns als Hilfe-Gebende und wie geben wir gleichzeitig weiter Unterstützung? Viele sind selbst belastet und bemühen sich trotzdem, denen zu helfen, die noch stärker belastet sind.
Das Interview führte Marilen Lorenz
Der Notstand in Zahlen
Eine Erhebung der Donau-Universität Krems unter 14 bis 20-jährigen Schülerinnen und Schülern stellte zum Jahresende 2021 bei 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen eine mittelgradige depressive Symptomatik fest, sowie bei einem Fünftel der Mädchen und 14 Prozent der Burschen wiederkehrende suizidale Gedanken. Die Zahl der tatsächlichen Suizidversuche hat sich laut dem AKH Wien im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt.
Die Paris-Lodron Universität Salzburg untersuchte im Frühjahr 2021 die psychosozialen Folgen der Coronapandemie bei Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren in Österreich. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Perspektivlosigkeit, eine deutliche Zunahme an Ängsten sowie Gefühlen von Wut, Ärger, Einsamkeit, Traurigkeit. Auch Einschlaf- und Durchschlafproblematiken häufen sich, bei den Jüngsten nehmen Albträume zu. Die Autor_innen der Studie gehen davon aus, dass „das Schlimmste noch bevorstehen könnte“, da wirtschaftliche Folgen und erhöhte Arbeitslosigkeit den Stress in Familien und damit auch das Risiko für häusliche Gewalt erhöhen. Die Wissenschaftler_innen fordern daher: „Wir müssen heute handeln, um nicht morgen vor den Scherben zu stehen und eine verlorene Generation verantworten zu müssen.“