Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Wenn Menschen für ihre eigene Nation demonstrieren, machen sie das nicht grundlos. Die Katalan_innen haben eine jahrzehntelange Unterdrückung des spanischen Staates hinter sich; genauso erleben die Palästinser_innen oder Kurd_innen tagtäglich, was Unterdrückung bedeutet (die Unterdrückung der Kurd_innen und der Palästinenser_innen ist natürlich viel brutaler als die der Katalan_innen). Für diese Leute repräsentiert die Hoffnung auf einen eigenen Staat gleichzeitig die Hoffnung auf ein Leben fern von Repression. Eine Hoffnung, die wir zutiefst nachvollziehen können. Innerhalb der Arbeiter_innenbewegung wird seit Jahrhunderten über die richtige Position zu unterdrückten Nationen diskutiert. Schon Karl Marx wusste: „Das Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.“ Dieses Argument ist bis heute gültig: Wie sollen spanische Arbeiter_innen für ihre Rechte kämpfen, wenn sie gleichzeitig die Unterdrückung der katalanischen Arbeiter_innen verteidigen?
Marx und nationale Befreiung
Marx und Engels sprachen sich klar für das Selbstbestimmungsrecht für Irlands aus. Jedoch waren sie nicht grundsätzlich auf der Seite unterdrückter Nationen. Engels zog eine (falsche) Unterscheidung zwischen Nationalitäten, die das Recht auf einen eigenen Staat hatten (beispielsweise unterstützte er die Forderungen nach einem deutschen, italienischen, polnischen oder ungarischen Staat) und solchen, die das nicht hatten (Kroaten, Slowenen, Serben oder Ukrainer).
Marx und Engels entwickelten ihre Position zu nationalen Befreiungsbewegungen nicht gegen eine imperialistische Weltordnung, wie später Lenin, sondern gegen den Feudalismus. Sie betrachteten eine nationale Einigung von Deutschland oder Italien als wünschenswert, weil sie die feudale Ordnung und die Position des Adels geschwächt hätte. Die „slawischen“ Nationen waren damals ökonomisch rückständig, eine kapitalistische Entwicklung hatte kaum stattgefunden. Deshalb argumentierte Engels: Einigungsprozesse in diesen Ländern würden nur das russische Zarenreich und die feudale Klasse stärken. Dass kroatische Truppen den Habsburgern halfen, den Oktoberaufstand von 1848 niederzuschlagen, verstärkte diese unhaltbare Position.
Die Fragestellung von Marx und Engels „Wie können wir der feudalen Klasse in Europa am besten schaden?“ machte damals durchaus Sinn, ihre Antworten waren aber nicht immer richtig und man muss ihnen vorwerfen, dass sie gegenüber den „slawischen“ Nationalitäten immer wieder mit einer gewissen Verachtung schrieben. Dies führte dazu, dass der Prager Pfingstaufstand 1848 – ein progressiver Aufstand von Tschechen gegen das österreichische Kaisertum – vor allem von Anarchisten um Bakunin geprägt wurde. Der altösterreichische Marxist Roman Rosdolsky kritisiert in seiner Schrift „Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker“, dass Engels und Marx in ihrer Bewertung des „slawischen Nationalismus“ über solche progressiven Kämpfe hinwegsahen.
Otto Bauers Austromarxismus
Österreich war im 19. Jahrhundert ein mächtiges imperialistisches Kaiserreich, unterschiedlichste Nationalitäten wurden unterdrückt. Die österreichische Sozialdemokratie und ihr Cheftheoretiker Otto Bauer zeichneten sich dadurch aus, dass ihre Position zu „nationalen Fragen“ gleich doppelt falsch war. Einerseits lehnten sie bis zum Ende des 1. Weltkrieges die Losung des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ klar ab. Währenddessen trennte sich die Sozialdemokratie seit dem Wimberger Parteitag (1897) in sechs nationale Sektionen auf und verhinderte dadurch eine Einheit der Arbeiter_innenbewegung. Das einzige, was Otto Bauer einfiel, war die „Anerkennung der kulturellen Identität“ fordern (z.B. mittels eigenen Schulunterrichts).
Als der 1. Weltkrieg dann durch Massenaufstände beendet wurde und das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ durch die Massen, ohne Hilfe der Sozialdemokratie, in der Praxis durchgesetzt wurde, schwenkte Otto Bauer um und wollte den unterdrückten Nationen am 3. Oktober 1918 doch noch ein Selbstbestimmungsrecht zugestehen. Ernstnehmen konnte diesen Schwenk niemand mehr. Der russische Revolutionsführer Leo Trotzki fasste die Lage in seiner „Geschichte der russischen Revolution“ treffend und polemisch zusammen: „Die besitzende Klasse wurde gezwungen, die nationale Revolution juristisch anzuerkennen; der Austromarxismus hielt es nun an der Zeit, sie theoretisch zu legalisieren. Dies ist eine reife Revolution, eine rechtzeitige, historisch vorbereitete: Sie hat sich ja doch schon vollzogen. Die Seele der Sozialdemokratie liegt vor uns, wie auf der flachen Hand!“
Luxemburg
Rosa Luxemburg war die bedeutendste Theoretikerin der deutschen Sozialdemokratie. Zeit ihres Lebens kämpfte sie für die Einheit der Arbeiter_innenklasse. Ihre Position zu nationalen Befreiungsbewegungen entwickelte sie mit dem Ziel, genau diese Einheit zu erreichen. Im Gegensatz zu Lenin kam sie aus einem unterdrückten Land (Polen war damals zwischen Russland und Österreich aufgeteilt). Anfangs bekämpfte sie vor allem die Position der polnischen Sozialdemokratie PPS. Diese forderte die Unabhängigkeit, jedoch nicht auf der Basis eines Klassenstandpunkts, sondern auf Basis eines massiven Sozialpatriotismus. Das ging so weit, dass sich die PPS während der Russischen Revolution von 1905 gegen die Beteiligung polnischer Arbeiter_innen an Streiks aussprach.
Luxemburgs ausgefeilte Argumentation in ihren Schriften ,,Die industrielle Entwicklung Polens” und „Nationalitätenfrage und Autonomie“ geht in etwa so: Die kapitalistische Entwicklung Polens und Russlands hat die Wirtschaften der beiden Länder so eng miteinander verschmolzen, dass eine Abspaltung Polens weder möglich noch wünschenswert wäre. Die Entwicklung von Großstaaten ist etwas Progressives, weil dadurch die Arbeiter_innenklasse zu einer Einheit geschmiedet wird.
Luxemburg und Lenin lieferten sich eine hitzige Diskussion über die richtige Position zur „nationalen Frage“. Für Lenin waren zwei Faktoren zentral: 1. Imperialismus, 2. Auf Sozialist_innen in einem unterdrückenden Land kommen andere Aufgaben zu als Sozialist_innen in einer unterdrückten Nation. Die Geschichte zeigt, dass seine Position die treffendere war.
Imperialismus
Imperialismus bedeutete für Lenin nicht einfach, dass ein Staat einen anderen militärisch attackiert oder unterdrückt. Marx zeigte in seinen Schriften: Kapital existiert nur als viele einzelne Kapital-Fraktionen, und zwischen denen herrscht ein erbitterter Konkurrenzkampf. Diese Konkurrenz drängt kleinere Unternehmen aus dem Markt und deshalb gibt es eine Tendenz zur Monopolbildung (Staatsmonopolistischer Kapitalismus), wo wenige Unternehmen den Markt beherrschen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand eine politische Verschmelzung von ökonomischen Interessen großer Unternehmen und geopolitischer Konkurrenz (Streit um wichtige Gebiete) zwischen Staaten statt. Lenin argumentierte, der Kapitalismus befinde sich nun in einem neuen Stadium, dem des Imperialismus. Imperialismus war für Lenin nicht einfach eine bestimmte Form von Politik, sondern ein Weltsystem, aus dem es innerhalb des Kapitalismus kein Entrinnen gibt. Lenins Position zu nationalen Befreiungsbewegungen knüpfte direkt an seine Position zu Imperialismus an. Er sah als erster Marxist die entscheidende Bedeutung von Aufständen in (ökonomisch) unterentwickelten Ländern; diese brächten den Imperialismus ins Wanken.
Unterschiedliche Aufgaben
Lenin unterschied zwischen den Aufgaben, die Sozialist_innen in unterdrückten und in unterdrückenden Ländern zukamen. Menschen, die in Ländern leben, welche seit Jahrzehnten andere Nationalitäten unterdrücken, müssen sich für das Recht auf „nationale Selbstbestimmung“ unterdrückter Nationen einsetzen. Dadurch beweisen sie den Unterdrückten, dass sie auf ihrer Seite stehen und grenzen sich klar von ihrer herrschenden Klasse ab.
Sozialist_innen in den unterdrückten Ländern sollten zwar die Kämpfe für eine eigene Nation unterstützen. Gleichzeitig betonte er, dass sich die Arbeiter_innenklasse dabei ihre Selbstständigkeit bewahren muss. Sie sollte den Kampf um soziale Befreiung niemals dem Kampf um nationale Befreiung unterordnen. Sozialist_innen sollten sich unabhängig von bürgerlichen Parteien, welche für die Selbstbestimmung kämpfen, organisieren.
Lenin in der Praxis
Eine der ersten Beschlüsse der Bolschewiki nach der erfolgreichen Oktoberrevolution war das „Dekret über die Rechte der Völker Russlands“. In diesem garantierten die Bolschewiki nicht nur die „Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen“, sondern auch das „Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung, bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates“. Die Praxis der Bolschewiki gegenüber nationalen Befreiungsbewegungen lässt sich sehr gut am Beispiel Finnlands verfolgen. Lenin forderte schon vor der Oktoberrevolution die Unabhängigkeit Finnlands. Inspiriert von der russischen Februarrevolution entstanden auch in Finnland Arbeiter_innenräte, die zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober aber noch nicht dazu bereit waren, auch die Macht zu übernehmen. Trotzdem waren die Bolschewiki bereit, mit den bürgerlichen Parteien in Finnland zu verhandeln und gestanden ihnen die Unabhängigkeit zu. Am 4. Januar 1918 ratifizierte das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets das Abkommen mit Finnland über die Unabhängigkeit.
Lenin hielt sich hierbei an Marx´ Gedanken, „die Arbeiterklasse kann sich nur selbst befreien“. Er und die Bolschewiki hofften, dass die finnische Arbeiter_innenklasse durch das Recht zur Loslösung gestärkt und möglichst bald eine sozialistische Revolution vollbringen würde. Am 27. Januar 1918 wagten die Arbeiter_innenräte den Aufstand und übernahmen die Macht in Helsinki. Als der Aufstand losging, versicherte Lenin den finnischen Arbeiter_innen direkt seine Unterstützung und schickte einen Zug mit 15.000 Gewehren nach Finnland, obwohl sich Russland im Krieg befand. Leider gewannen die Bürgerlichen aufgrund von Glück, Versagen der Sozialdemokratie und deutscher Unterstützung den Bürgerkrieg in Finnland. Die Strategie der Bolschewiki, einerseits die Unabhängigkeit bedingungslos anzuerkennen und gleichzeitig die finnische Arbeiter_innenklasse nach Möglichkeit zu unterstützen, war brillant.
Genauso akzeptierte Lenin auch die Unabhängigkeit Georgiens. Stalin jedoch setzte sich noch zu Lenins Lebzeiten über das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ hinweg, marschierte in Georgien ein und richtete ein fürchterliches Gemetzel an. Von Stalins Machtübernahme bis zu ihrem Ende brach die Sowjetunion vollständig mit Lenin und weitete ihren Herrschaftsbereich mittels Panzern aus (Polen, DDR, Afghanistan usw.). In Osteuropa leiden Sozialist_innen bis heute darunter, dass sie als Nachfolger jener gesehen werden, die mit Panzern einmarschierten und jede Hoffnung auf „nationale Selbstbestimmung“ zunichtemachten.
Auch in der jüngeren Geschichte gibt es Beispiele dafür, wie treffend Lenins Position zu „nationalen Befreiungsbewegungen“ war. Der Auslöser der „Nelkenrevolution“ von 1974/75 in Portugal waren Aufstände in den Kolonien Angola und Mosambik. Im Zuge eines Militärputsches gelang es der portugiesischen Arbeiter_innenklasse schnell, die führende Rolle in der Revolution zu übernehmen. Im Oktober 1974 gab es in ganz Portugal über 4.000 Arbeiter_innenräte, welche eine reale Möglichkeit gehabt hätten, die Macht zu übernehmen. Es gelang der Revolution zwar nicht, den Sozialismus zu erkämpfen, aber eine Jahrzehnte alte Diktatur wurde gestürzt.
Der britische Sozialist Tony Cliff plädierte, anknüpfend an Lenin, gegenüber „nationalen Befreiungsbewegungen“ für eine „bedingungslose aber kritische“ Unterstützung. Bedingungslos in dem Sinne, als wir „nationalen Befreiungsbewegungen“ unterstützen, egal ob sie sozialistisch, religiös, etc. motiviert sind; kritisch insofern, als wir uns bewusst sein müssen, dass das Erreichen von nationaler Selbstbestimmung nur ein Zwischenschritt am Weg zu einer internationalen Revolution sein kann.