Deutungskampf um 1968: Es geht um die Revolution!

„Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Das Transparent mit diesem Slogan ist eines der Symbole der Bewegung von 1968. Anlässlich des 50. Jahrestages der Aktion erinnert der ehemalige Aktivist des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), Volkhard Mosler, an das Hauptziel von damals: den Sturz des Kapitalismus.
24. April 2018 |

Das Transparent  „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ wurde von den Studenten und Vorsitzenden des Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer am 9. November 1967 in der Universität Hamburg bei der Rektoratsübergabe in der Öffentlichkeit enthüllt. Ein Foto von diesem Ereignis wurde seitdem vielfach abgedruckt. Der Text des Transparents wird heute als eine der Kernparolen der 68er-Bewegung interpretiert.

Ein Slogan unter vielen

Ich habe das Hamburger Transparent erst viel später wahrgenommen. Die Aktion war zu diesem Zeitpunkt eine unter vielen, keineswegs so wichtig, wie sie in den Medien dargestellt wird. Ein guter Spruch, eine gute Aktion, aber keine Aktion von größerer Bedeutung. Ich mag das Bild als Symbol der ersten Phase der Bewegung, nämlich der Phase des Kampfes um Mitbestimmung und gegen reaktionäre Professoren aus der Nazizeit. Doch ging es uns damals um viel mehr.

Wir wollten den Kapitalismus durch revolutionäre Aktion stürzen. Rudi Dutschke war vor allem deshalb so verhasst, weil er vor Massenversammlungen von Studierenden und Jugendlichen die Notwendigkeit und Legitimität revolutionärer Umwälzung offen propagierte. Die Auseinandersetzung um 1968 ist deswegen auch eine politische Auseinandersetzung um die Legitimität von Rebellion und Revolution. Dieser Deutungskampf begleitet den 50. Jahrestag von 1968.

Deutungskampf um 1968

Wenn ich heute den Vorsitzenden der AfD, Jörg Meuthen, höre, der dem versifften „versifften links-rot-grünen 68er Deutschland“ den Kampf ansagt, fühle ich mich an die damalige Zeit erinnert. Denn diese konservativ-reaktionäre oder auch konterrevolutionäre Lesart von 1968 war im Frühjahr 1968, auf dem Höhepunkt der Revolte, die bestimmende.

Es war die Zeit, als der Berliner Senat unter Führung rechter Sozialdemokraten, die Universitätsleitungen, die Polizei und die Springer-Presse zusammen die Berliner Bevölkerung gegen die stärker werdende Bewegung aufhetzten: „Jagt die Krawall-Radikalen zum Tempel hinaus“ (Berliner Morgenpost), „die Geduld der Stadt ist am Ende“ (Regierender Bürgermeister von Berlin) und „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen“ (B.Z.) sind nur die Spitze des Eisberges.

Mord an Rudi Dutschke

In der so erzeugten Pogrom-Stimmung kam es zum Mordversuch an Rudi Dutschke, dem damals populärsten Sprecher der Rebellion, nur fünf Monate nach der Transparentaktion vom 9. November 1967, am Karfreitag 1968.

Ich hatte als einer von fünf Frankfurter Delegierten an der SDS-Delegiertenkonferenz im September 1967 teilgenommen. Auf der Versammlung wurde eine Kampagne „Enteignet Springer“ beschlossen. Ich war skeptisch bis ablehnend. Die Kampagne wurde ein halbes Jahr später wieder beerdigt, weil sie nicht abgehoben hatte. Aber durch das Attentat auf Dutschke einige Monate später erwies sie sich als ungeplante Vorbereitung der bundesweiten Springer-Blockade nach dem Attentat, den mehrtägigen Behinderungen und Verhinderungen der Auslieferung der BILD-Zeitung, die an der Spitze der Hetzkampagne gegen Dutschke gestanden hatte.

Nach dem Attentat waren wir schockiert. Parallelen zur Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts 1919 waren nicht zu übersehen. Meuthen und die AfD hätten sich 1968 in guter Gesellschaft gewusst. So wie der Attentäter von Rudi Dutschke, der NPD-Sympathisant Josef Bachmann, sich damals in guter Gesellschaft der Springer-Presse wähnen konnte, die kurz vor Bachmanns Attentat die Bevölkerung zur „Ergreifung“ der Rädelsführer aufgerufen hatte. Bachmann auch Ausschnitte aus der Deutschen National-Zeitung bei sich, darunter die Titelzeile „Stoppt den roten Rudi jetzt“ und Zeitungsfotos von Dutschke.

Die liberal-bürgerliche Lesart

Mit den Jahren verblasste die konservativ-reaktionäre Wut auf die roten 68er. Meuthens heutigem Kampfaufruf haftet daher etwas Anachronistisches an. An die Stelle der Wut trat als vorherrschende Lesart eine liberal-bürgerliche. Sie lebt von den zahlreichen 68ern, wirklichen und eingebildeten, die sich von ihren „Jugendsünden“ distanzieren, aber den lockeren Lebensstil, ein Nebenprodukt der Rebellion, nicht missen wollen.

Der reuig heimgekehrte verlorene Sohn war schon immer eine Lieblingsgestalt der herrschenden Eliten und so sind die in den Grünen und der Sozialdemokratie vernünftig gewordenen früheren Rebellinnen und Rebellen mit Minister- und Staatssekretärsposten oder auch als Gewerkschaftsführer reichlich entlohnt worden. Die meisten haben den Weg akademischer Karrieren gewählt und sind so zu Amt und Würden gekommen. Andere verkaufen ihre reuige Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft als Zeitzeugen ihrer eigenen Irrtümer und sind heute als Ankläger gegen revolutionäre Ideen gern gesehen und gut honoriert, wie Götz Aly, Peter Horvath und Wolfgang Kraushaar. Ihre Klageschriften reichen vom Vorwurf des Antisemitismus, des Antiamerikanismus, des Nationalismus und der Nähe zur Tradition des deutschen Faschismus bis hin zur Stasihörigkeit.

Schwächen der Bewegung

Die 68er-Bewegung in Deutschland hat viele ideologische Schwächen gehabt, die ihren Zerfall beschleunigten. Aber die hier aufgezählten Untugenden gehören nicht dazu. Auch der Vorwurf gegen Dutschke und andere, sie seien die geistigen Väter der RAF gewesen, sind nicht gerechtfertigt. Für mich ist klar: Die Angriffe auf die 68er-Bewegung haben eine andere Ursache.

Antiimperialismus war ein zentrales Identifikationsmoment für die deutsche 68er-Bewegung. Foto: Ludwig Binder

 

Die Gründe, die zur Rebellion geführt hatten, der Kampf gegen die Gefahr einer Rückkehr des Faschismus, eingeleitet durch Notstandsgesetz und Entdemokratisierungsprozesse des bürgerlichen Staates, imperialistische Kriege und Aufrüstung, Armut und Unterdrückung der Dritten Welt, bestehen nicht nur weiter, die Widersprüche haben sich verschärft.

Neue Widersprüche wie die sich abzeichnende Klimakatastrophe, Aufbau neuer atomarer Drohpotentiale und neue Rüstungswettläufe, Dauerkriege in Mittleren Osten und Teilen Afrikas sind untrügliche Anzeichen für eine bedrohliche Zuspitzung des zentralen Widerspruchs von Produktivkräften und kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Jene, die heute die 68er-Bewegung angreifen, wollen die Legitimität revolutionärer Kapitalismuskritik heute beschädigen.

Kapitalismuskritik ist aktuell

Darum wird es Zeit, dass all jene 68er sich zu Wort melden, die die Notwendigkeit der Beerdigung des Kapitalismus mittels revolutionärer und internationaler Klassenkämpfe weiter verfolgen. All jene, die der liberalen Verharmlosung der 68er-Bewegung in eine Demokratiebewegung wider Willen widersprechen. Einer von denen, die das tun, ist Karl Dietrich Wolff, 1967/8 SDS-Bundesvorsitzender. Ich habe „KD“, so nannten wir ihn, wohl weil das Karl Dietrich allzu altbacken klang, auf der Delegiertenkonferenz 1967 mit gewählt, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Frank als zweitem Bundesvorsitzenden.

Ich erinnere mich, dass KD – er hatte damals schon Kontakte zu den Black Panthers – mich damit beauftragte, einen Deserteur der US-Armee, einen „GI“ zu betreuen, von denen damals viele mit Unterstützung des SDS nach Schweden gebracht wurden.

In einem Interview aus dem kürzlich erschienenen Buch Das Jahr der Revolte, Frankfurt 1968 von Claus Jürgen Göpfert und Bernd Messinger spricht Wolff der Partei der Grünen ab, die legitimen Erben der 68er-Bewegung zu sein. Sie seien schon in „gewisser Weise“ Erben der 68er geworden. Doch dieses politische Erbe hält er für unverdient: „Der eine erbt was, der andere wird enterbt.“ Er hält sie für eine „bürgerliche Entartung der alten revolutionären Ideale“, so zitieren ihn Göpfert und Messinger. Er sei damals ebenfalls gefragt worden, ob er für die Grünen als Landtagsabgeordneter kandidieren wolle. „Habt ihr einen Knall?“ habe er geantwortet.

Umsturz der Verhältnisse

Er hält am Ziel des Umsturzes der kapitalistischen Verhältnisse fest, die wir uns auf die Fahnen geheftet hatten. Und er setzt darauf, „dass es eine neue Bewegung zum Umsturz der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse“ geben könnte. Alle paar Jahrzehnte sei es so weit. „Die nächste Revolte wird kommen.“ Recht hat er. Sorgen wir dafür, dass es diesmal besser ausgeht. Auch indem wir aus den realen Schwächen der 68er-Bewegung lernen. Aber das ist ein Kapitel oder eher Buch für sich.

Volkhard Mosler war 1968 Mitglied im Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in Frankfurt am Main. Heute ist Mosler führendes Mitglied von DIE LINKE in Frankfurt und Aktivist im antikapitalistischen Netzwerk marx21.
Am Antikapitalistischem Kongress Marx is Muss spricht Volkhard Mosler über die 68er-Bewegung. Wann: 4.-6. Mai. Wo: Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1070 Wien. Weitere Informationen auf marxismuss.at
Dieser Artikel ist zuerst bei Marx21 erschienen.