Die österreichische Rätebewegung: Zwischen Reformismus und Revolution
Nach Marx beruht die bürgerliche Gesellschaft darauf, dass Arbeiter_innen doppelt frei sind. Sie können sich ihre Verträge mit den Kapitalisten frei aushandeln und werden nicht zur Arbeit gezwungen, in liberalen Gesellschaften wird ihnen mit der „Meinungsfreiheit“ sogar das Recht zum Meckern gewährt. Genauso sind sie aber auch frei vom Besitz an Produktionsmitteln. Sie haben keinen Einfluss auf die Produkte ihrer eigenen Arbeit, diese gehören ausschließlich ihrem Boss.
In einer parlamentarischen Demokratie haben Arbeiter_innen alle fünf Jahre ein minimales Mittbestimmungsrecht in politischen Fragen, von den wirklich wichtigen Fragen – was wird produziert in welcher Menge und wem gehört das Produzierte – sind sie ausgeschlossen. Diese Trennung zwischen ökonomischer und politischer Sphäre wird durch das Rätekonzept aufgehoben. Die Produzent_innen des gesellschaftlichen Reichtums übernehmen die Verfügungsgewalt über ihre eigenen Produkte.
In offenen demokratischen Wahlen werden Delegierte gewählt, welche dann im Auftrag der Arbeiter_innenklasse die Produktion organisieren. Im Gegensatz zu den Parlamentariern sind Rätedelegierte jederzeit abwählbar. In Österreich konnten 1918 schon 10% der Belegschaft Neuwahlen verlangen. Deshalb ist das Rätekonzept viel demokratischer als der Parlamentarismus.
Wer weiß schon welcher Parlamentsabgeordnete für seinen Wahlkreis im Nationalrat sitzt? Es gibt auch keinen Grund das zu wissen, weil er/sie sowieso fünf Jahre lang tun kann, was er/sie will. Den Rätedelegierten des Betriebes kannten alle Arbeiter_innen persönlich, er war ihnen direkte Rechenschaft schuldig.
Die österreichische Rätebewegung ist mit Abstand das spannendste was in diesem Land jemals passiert ist, trotzdem ist ihre Geschichte unbekannt.
Entstehung der Räte
Als der Jännerstreik am 14. Jänner 1918 in Wiener Neustadt begann, wählten die Arbeiter_innen Delegierte, welche für die Organisierung und Ausbreitung des Streiks verantwortlich waren. So entstand der erste Arbeiter_innenrat. Im Zuge der Ausweitung des Streiks in den folgenden Stunden und Tagen wurden in allen Betrieben Arbeiter_innenräte gewählt.
Arbeiter_innenräte hatte es vor dem Jännerstreik in Österreich noch nie gegeben. In Russland hatten die Sowjets (=Räte) eine entscheidende Rolle beim Sturz des Zarenreiches gespielt. Die Sowjets waren den österreichischen Arbeiter_innen aus Erzählungen von heimkehrenden Kriegsgefangenen bekannt.
Aus der Inspiration des russischen Beispiels und der Notwendigkeit, der organisierten Staatsgewalt eine organisierte Gegenmacht der Arbeiter_innenbewegung entgegenzustellen, entstand die Rätebewegung von unten aus dem spontanen Bewusstsein der Werktätigen. Am 16. Jänner rief die SDAP in der Arbeiter-Zeitung zur Bildung von Räten auf. Sie tat dies, um den Rückhalt in der Arbeiter_innenbewegung nicht gänzlich zu verlieren.
Spalt in der SDAP
Am 2. Februar 1918 trat die SDAP zum niederösterreichischen Parteitag zusammen. Auf dem Treffen wurden die Räte in die Statuten der SDAP aufgenommen; nur Arbeiter_innen, die Mitglieder in der SDAP waren, konnten in den Räten mitarbeiten. Schon während des Jännerstreiks hatte die SDAP sichergestellt, dass sowohl die Gewerkschaft als auch die Parteiführung einen fixen Platz im Wiener Generalrat hatten. Durch diese Schritte sollten die Räte unter Kontrolle der Partei gestellt werden.
Innerhalb der SDAP gab es einen Spalt zwischen einem revolutionären Teil der Basis und der staatstragenden Parteiführung. Ein Vertreter des Wiener Neustädter Arbeiterrates, Eduard Schönfeld, kritisierte am Parteitag die Integrierung der Räte in die SDAP und beschwerte sich darüber, dass die Entscheidung zur Beendigung des Jännerstreiks durch eine Abstimmung im Wiener Arbeiterrat ohne Rücksprache mit Rest-Österreich erfolgte.
Er forderte die Organisation der Räte nach dem Beispiel Wiener Neustadts – dort hatte die SDAP-Parteiführung nur eine beratende Funktion, die Entschlüsse wurden einzig und alleine von den Beschäftigten gefällt. Andere Parteimitglieder folgten seiner Argumentation und griffen die SDAP-Parteiführung scharf an: Leider verlor dieser kritische Flügel die Abstimmungen um die Ausrichtung der Räte.
Die SDAP „bedankte“ sich bei Schönfeld für seine kritischen Worte, indem sie wohlwollend zusah, wie dieser zum Militärdienst abkommandiert wurde. Nach der Einberufung Schönfelds zur Front wurde der Wiener Neustädter Rat umgestaltet; Parteifunktionäre ersetzten einfache Arbeiter_innen.
Die Macht lag auf der Straße
Im Zuge des Novemberumsturzes wurden die Räte zum bestimmenden Machtfaktor. Die einfachen Menschen verspürten keinerlei Lust, den alten Habsburgerbürokraten irgendwelche Machtpositionen zuzugestehen. Soldatenräten und Arbeiter_innenräten übernahm die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung.
Von 1919-1924 wurden etwas mehr als 40.000 Wohnungen von den Räten enteignet und an Obdachlose zugeteilt. In Betrieben wurde mit dem 8-Stunden Tag die älteste Forderung der Arbeiter_innenbewegung durchgesetzt. Reihenweise Sozialgesetzte, die teilweise bis heute bestehen, wurden erlassen bspw. bezahlter Urlaub, Betriebsrätegesetz, und viele mehr.
Offen wurde über die Frage debattiert ob Betriebe unter Arbeiter_innenkontrolle gestellt werden. Dies wäre eine reale Möglichkeit gewesen. Der „Cheftheoretiker“ der SDAP Otto Bauer schrieb in seinem Buch Die österreichische Revolution: „Arbeiter und Soldaten hätten jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten können.
Es gab keine Gewalt, sie daran zu hindern.“ Doch die SDAP wollte eine parlamentarische Demokratie mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung. Für den Februar 1919 wurden Parlamentswahlen organisiert.
Parlament statt Sozialismus
Innerhalb der Rätebewegung war die Entscheidung zwischen Parlament und Räterepublik noch nicht gefallen. Auf Grund von Druck der Basis musste die SDAP am 2. März (kurz nach den Parlamentswahlen) einen Rätekongress einberufen. Auf dem Kongress wurden die Räte für alle sozialistischen Parteien geöffnet.
Bei den Rätewahlen im Frühjahr 1919 wählten 870.000 Arbeiter_innen. Trotzdem ging aus den Debatten am Kongress hervor, die Räte sollten die parlamentarische Demokratie „entscheidend beeinflussen“, aber nicht ersetzen!
Spalt in der Rätebewegung
Am 21. März 1919 wurde in Budapest eine Räterepublik, unter der Führung Bela Kuns, ausgerufen. Als konterrevolutionäre Truppen gegen die Räterepublik marschierten, kam es im Wiener Kreisarbeiterrat auf Bestreben der Kommunisten zu einer Abstimmung über einen Solidaritätsstreik. Solche Solidaritätsstreiks sollten in ganz Europa stattfinden.
Die SDAP war gegen die Abhaltung des Solidaritätsstreiks, behauptete die Streiks in Rest Europa wären abgesagt worden. Trotzdem wurde mit 142 zu 104 Stimmen ein eintägiger Generalstreik für den 21. Juli 1919 beschlossen. Der Streik wurde lückenlose durchgeführt!
Die Wiener Neustädter Arbeiter_innen gingen noch weiter und liefert mit Hilfe der Eisenbahner_innen Waffen nach Ungarn. Diese Aktionen zeigen, die SDAP hatte nie die vollkommene Kontrolle über die Räte.
Scheitern der Kommunisten
Es gelang der Kommunistischen Partei in den Jahren 1919-1924 einen gewissen Rückhalt innerhalb der Rätebewegung zu bekommen (bei Wahlen in Wien bekamen sie um die 10%), aber die Möglichkeit die SDAP ernsthaft herauszufordern bot sich nie. Die einzige Ausnahme war der Solidaritätsstreik mit Ungarn. Die putschistische Politik der KP war ein Grund für ihr Scheitern.
Sowohl am 12. November 1918 als auch am 15. Juni 1919 versuchte die KP die Revolution ohne Rückhalt innerhalb der Arbeiter_innenräte herbeizuschießen; beide Versuche scheiterten und führten zur Entfremdung zwischen den Massen und der KP.
Lenin hatte in Russland immer dafür argumentiert, erst wenn die Kommunisten den Rückhalt der Massen innerhalb der Räte haben, ist der Zeitpunkt gekommen die Machtfrage zu stellen, nicht zuvor.
Nach Leo Trotzki sind Revolutionen: „der gewaltsame Einbruch der Massen auf die Bühne der Geschichte.“ Genau das war die österreichische Rätebewegung. Arbeiter_innen wollten ihre Geschichte selber machen.
Unter Anderem aufgrund der falschen Politik der KP, die es der SDAP ermöglichte, ihren Massenrückhalt zu behalten, blieb die Rätebewegung auf halbem Weg stehen. Zur entscheidenden bewaffneten Konfrontation zwischen Rätebewegung und Staatsapparat kam es in Österreich nie. 1924 lösten sich die Räte auf Bestreben der SDAP freiwillig auf.