Adania Shibli, Eine Nebensache

Adania Shibli erzählt in Eine Nebensache von der Ermordung eines palästinensischen Mädchens durch israelische Soldaten im Jahr 1949. Nüchtern, als wäre es eine Nebensächlichkeit, und zugleich aufwühlend, weil es zur Nebensächlichkeit geworden ist.
4. Juli 2022 |

Als Nebensache, so erlebt die Ich-Erzählerin im Roman die täglichen Vergewaltigungen, Morde, Bombeneinschläge in ihrer Heimatstadt Ramallah in Palästina. Dass gerade der Mord an einem arabischen Beduinenmädchen im Jahr 1949, von dem sie aus einem Zeitungsartikel erfährt, sie aus der Abstumpfung reißt, liegt an einem nebensächlichen Detail: Der Tod des Mädchens liegt auf den Tag genau 50 Jahre vor ihrer Geburt.

Bevor wir die Erzählerin aber bei ihrer Recherche begleiten, berichtet der erste Teil des Romans von den letzten Tagen im Leben des Mädchens – aus der Sicht eines israelischen Offiziers. Er befindet sich mit seiner Einheit in der Negev-Wüste, ihre Mission: die noch verbliebenen Araber in der Gegend aufzuspüren und auszulöschen. Als sie eine Gruppe von Beduinen bei einer Oase entdecken, ermorden sie alle bis auf ein kleines Mädchen, das sie mit in ihr Lager nehmen. Wir werden Zeug_innen ihrer Demütigung, ihrer mehrfachen Vergewaltigung und schließlich ihrer Erschießung, wie sie im Sand verscharrt für die nächsten 50 Jahre vergessen wird und endlich, im zweiten Teil des Romans, von der Ich-Erzählerin wieder an die Oberfläche der Erinnerung gebracht wird. Mit mäßigem Erfolg, zumindest innerhalb der Erzählung. Zu nebensächlich waren ihr Leben und Tod. Selbst der Offizier verfällt in seinem Bericht immer mehr dem Delirium, nachdem er nachts von einem Tier gebissen wurde. Von da an durchforstet er seine Hütte nach allem was lebt; in einem Moment zerdrückt er eine Spinne mit dem Daumen, im nächsten erschießt er einen Araber.

Poesie der Unterdrückten

Shibli erzählt nach einer wahren Begebenheit, aber selbst das ist eine Nebensache: Situationen wie diese haben tausendfach stattgefunden und finden immer noch statt. Schon lange beschäftigt sich Shibli mit den Verbrechen der israelischen Besatzer. 2001 schrieb sie ihre Masterarbeit an der Hebräischen Universität in Jerusalem mit dem Titel Discourse, power, and media coverage of the killing of Palestinian children by the Israeli Army (Diskurs, Macht und Medienberichterstattung über die Ermordung palästinensischer Kinder durch die israelische Armee). Shibli veröffentlichte zunächst in verschiedenen Zeitschriften, unter anderem in der Literaturzeitschrift Al-Karmel von Mahmud Darwish, der einer der bekanntesten palästinensischen Dichter ist und als „die poetische Stimme seines Volkes“ gilt. Mittlerweile ist Shibli selbst zu einer wichtigen Stimme der arabischsprachigen Literatur geworden, ihre Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und sie ist international als Dozentin tätig.

Auf 120 Seiten breitet Shibli eine politische Landkarte vor uns aus, ohne sich in politischen Analysen zu verlieren. Ihre Personen sind wenig detailreich gezeichnet, und genau daher bekommt man den Eindruck, sie zu kennen. Anstatt sich mit der Beschreibung der Charaktere aufzuhalten, lässt die Autorin Situationen und Handlungen sprechen.

Die Ich-Erzählerin macht sich im Auto auf den Weg in Gebiete, die sie als Palästinenserin eigentlich nicht betreten darf. Nur der von einer israelischen Arbeitskollegin geliehene Ausweis erlaubt ihr, sich auf die Suche nach der Geschichte des Beduinenmädchens zu machen und durch das Land zu reisen. Auf dem Beifahrersitz liegen eine Karte von vor 1948 und eine aktuelle israelische. Die Fahrt geht vorbei an Geisterstädten und -dörfern, die längst nicht mehr existieren, von Mauern umgeben oder neu bebaut wurden.

Die Eilmeldung als Alltäglichkeit

So nüchtern wie die Karten konfrontiert die Erzählerin mit der brutalen Realität: „Ich hoffe übrigens, dass ich niemanden in Verlegenheit gebracht habe, als ich die Situation mit dem Soldaten oder am Checkpoint erwähnte oder wenn ich ausspreche, dass wir hier unter Besatzung leben. Schüsse, Sirenen von Militärfahrzeugen, manchmal der Lärm von Helikoptern, Jagdflugzeugen und Bomben, anschließend der Heulton von Krankenwagen – all das bildet bei uns nicht nur den Hintergrund zu Eilmeldungen in den Nachrichten, sondern ist auch in der Wirklichkeit als Geräuschkulisse mindestens so allgegenwärtig wie das Bellen des Hundes gegenüber meiner Wohnung.“

Die ständige Präsenz von Soldaten ist der bedrohliche rote Faden, der sich von Seite zu Seite fädelt.  Sogar der Griff in die Tasche auf der Suche nach einem Kaugummi kann missgedeutet werden als Griff nach einer Pistole. In Palästina ein folgenschwerer Irrtum.