Soziale Gelbsucht: Guillaume Paoli

Vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen stand Frankreich vor der Wahl: Pest oder Cholera, Macron oder Le Pen. Für ein besseres Verständnis der politischen Lage lohnt sich ein Blick auf die Gelbwestenbewegung durch das Essay von Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht.
7. Juli 2022 |

Zwischen November 2018 und Februar 2019 demonstrierten Samstag für Samstag Hunderttausende in ganz Frankreich. In Le Puy-en-Velay wurde das Regierungsgebäude niedergebrannt. Nachdem Macron der Kleinstadt einen Besuch abstattete, fand sich seine Limousine umringt von Tausenden Wütenden. „Sie wollen ihren Kopf aufgespießt sehen“, so der Bürgermeister zu Macron.

Paoli stellt fest: Hier demonstrierte weder die radikale Linke noch die radikale Rechte, auch nicht die organisierte Arbeiter_innenbewegung. Hier demonstrierten die gedemütigten Frühaufsteher des französischen Hinterlandes. Menschen, die trotz Arbeit oder Pension an der Armutsgrenze leben und sich bis jetzt nicht an politischen Aktionen beteiligten. In etwa die Hälfte waren Frauen, die Mehrheit definierte sich als Links oder unpolitisch. Paoli interpretiert die Gelbwesten als Ausdruck der Niederlagen der Linken.

Entfremdung von Politik

1981 wurde der Sozialdemokrat Mitterand mit Unterstützung der kommunistischen Partei zum Präsidenten gewählt. Doch statt des versprochenen „Sozialismus in 100 Tage“ begann der neoliberale Durchmarsch. 2005 trommelte der konservative Präsident Chirac mit Sozialisten, Grünen, Aktivist_innen und Medien für das Ja bei der Volksabstimmung über die europäische Verfassung. Die Verfassung sollte die antidemokratische und neoliberale Ausrichtung der EU zementieren. Die Bevölkerung verweigerte die Gefolgschaft und stimmte gegen den Vertrag. Die Antwort der Zivilgesellschaft erinnerte an die Gelbwesten: Die Nein Wähler_innen sind nationalistische, männliche, weiße Volltrottel, die in der modernen Welt nichts zu suchen hatten. Zwei Jahre später wurde die Verfassung in „Vertrag von Lissabon“ umbenannt und ohne Volksabstimmung durchgesetzt.

Nach den weiteren Angriffen auf den Sozialstaat durch den sozialdemokratischen Präsidenten Hollande 2012-2017 folgte die Sozialdemokratische der kommunistischen Partei in die Bedeutungslosigkeit. Macron sammelte die Überreste der politischen Mitte zusammen – sicherte sich die Unterstützung von Medien und Reichen und setzte sich 2017 in der Stichwahl gegen Le Pen durch.

Linkes scheitern

Die linken Mobilisierungen gegen Macron waren stark, aber ergebnislos, anders die Gelbwesten: Sie erkämpften die Rücknahme der Benzinpreiserhöhung wie einige soziale Reformen. Vor allem aber lehrten sie den Herrschenden das Fürchten. Hunderttausende machten die Erfahrung, dass sie durch Kompromisslosigkeit etwas ändern konnten. Dafür bestrafte der Staat 800 mit Gefängnisstrafen und zerschoss mindestens 20 Menschen die Augen durch Tränengasgranaten, vier weiteren wurden Gliedmaßen abgesprengt.

Abschied vom Aufstand

Die Gelbwesten waren nicht nur Ausdruck der linken Niederlage, sie demonstrierten die Abkehr der Linken vom Aufstand der nicht Aktivist_innen: Die Kapitalismuskritik sei verkürzt – wenigstens haben sie noch eine – möchte man den Cohn-Bendits, Zizeks und Chantal Mouffes zurufen – die Gelbwesten reproduzierten Verschwörungstheorien (Sozialdemokratie). Die Gelbwesten wurden von Putin durch Fake News manipuliert (Grüne- NGO Avaaz). Hier demonstrieren rücksichtslose Kleinbürger_innen für die eigenen Interessen (Gewerkschaften und NPA (trotzkistische Partei). Paoli bringt es auf den Punkt: „Die Bewohner der Peripherie haben gute Gründe, gegenüber Stimmen aus politischen, akademischen oder kulturellen Kreisen misstrauisch zu sein“.

Die Gelbwesten zeigen uns in Frankreich wie auch in Österreich, die Linke hat aus guten Gründen Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verloren. Will sie diese zurückgewinnen, braucht es mehr als hübsche Wahlkampfveranstaltungen und Versprechungen. Zuhören, gemeinsam kämpfen und ein ordentlicher Schuss Demut, so ließen sich die Lehren aus den Gelbwesten zusammenfassen.