Camilla Royle: „Entfremdung führt zu einem Bruch mit der Natur“
Linkswende: Karl Marx wird in der Öffentlichkeit oft als Technokrat dargestellt, der den Fortschritt der Menschheit vor die Natur gesetzt hat. Ist da etwas Wahres dran?
Camilla: Viele Menschen sahen bis vor kurzem Marx als prometheischen Denker, der sich hauptsächlich für Technologie und technologischen Fortschritt interessierte und sich nur wenig Gedanken darüber machte, was mit der Umwelt geschah.
Leute wie John Bellamy Foster, Paul Burkett und andere Autoren zeigen in ihren Arbeiten Marx Interesse daran, was die industrialisierte kapitalistische Gesellschaft mit der Umwelt anrichtete. Marx und Engels beschrieben, wie der Kapitalismus zur Aneignung der Natur und zur Ausbeutung der Arbeiter führt. Engels schrieb zu dieser Zeit über Umweltprobleme, die sich auf die Gesundheit der Menschen in den Städten auswirkten. Darunter war die Wasserverschmutzung, über die er sehr viel schrieb, und die Luftverschmutzung sowie interessanterweise auch über Pandemien, wobei die Cholera das Hauptproblem der Menschen im viktorianischen England war.
Marx war sehr an der Arbeit von Justus von Liebig interessiert, ein deutscher Agrarchemiker, der viel über den Raub der Natur schrieb. Es gibt auch ein Buch von Kohei Saito, der sich mit Marx‘ unveröffentlichten Schriften befasst, darunter auch einiges, worin er über den Klimawandel schrieb. Der Klimawandel war im 19. Jahrhundert nicht das wichtige politische Thema, das es heute ist, aber man war sich des Tyndall-Experiments bewusst, das zeigte, wie die Zufuhr von CO2 in die Atmosphäre zu einer Erwärmung führen würde. Er schrieb auch über den lokalen Klimawandel durch die Entwaldung.
Marx und Engels beschrieben, wie der Kapitalismus zur Aneignung der Natur und zur Ausbeutung der Arbeiter führt.
Viele Menschen haben all diese interessanten Dinge, über die Marx und Engels im Kapital geschrieben haben, behandelt. Der Kapitalismus führt zu einer, wie sie es nennen, metabolischen Kluft in der Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur. Es gibt diese Beziehung, die in jeder Gesellschaft davon definiert wird, wie die Menschen ihre Arbeit verrichten. In der kapitalistischen Gesellschaft sind die Arbeiter von ihrer Arbeit entfremdet, sie haben nicht mehr die volle Kontrolle darüber. Das führt dann auch zu einem Bruch mit der Natur. Ein Beispiel dafür ist die Erschöpfung der Böden im 19. Jahrhundert durch zu viele Ernten ohne danach zu Düngen. Gleichzeitig hatte man in London große Verschmutzungsprobleme, da menschliche und tierische Abfälle einfach in die Themse gekippt wurden und zum Cholera-Problem beitrugen. Das ist ein irrationales System, und Marx hat das aufgezeigt.
Linkswende: Wie kann es sein, dass zum Schutz der Umwelt Menschen aus Gebieten vertrieben werden, in denen schon seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur gelebt wird?
Camilla: Das ist die eigentliche Schlüsselfrage, der Mainstream-Umweltschutz im 20. Jahrhundert hat diesen misanthropischen Ansatz verfolgt. Demnach sollten wir uns einfach aus der natürlichen Welt entfernen, weil der Mensch nur eine Belastung für die Natur sei. Es gibt die Diskussionen über Überbevölkerung: Gibt es einfach zu viele Menschen auf dem Planeten? Nach einer These sollten wir nur die Hälfte der Erde bevölkern und den Rest in Ruhe lassen. Der Marxismus behandelt den Menschen als Teil der Natur. Wir wirken auf die natürliche Welt ein und verändern sie und in diesem Prozess verändern wir uns als Menschen – das ist eine ständige dialektische Beziehung. Die Art und Weise, wie wir die natürliche Welt verändern, hängt aber davon ab, in welcher Art von Gesellschaft wir leben. Die Frage lautet also nicht: „Wie können wir den Menschen aus der natürlichen Welt entfernen?“, sondern in welcher Art von Gesellschaft wollen wir leben und wie sollte diese organisiert sein und wie soll sie mit der Natur in Beziehung stehen. Tatsächlich fördern manche Formen der Weidewirtschaft die Artenvielfalt, mehr als wenn man nur Wälder wachsen lässt und ein „Klimaxstadium“ entsteht, in der es nur Wälder gibt.
Die Vorstellung, von Natur als eine reine, unberührte Sache ohne Menschen ist problematisch. Engels hat bereits im 19. Jahrhundert erkannt, dass es so etwas wie unberührte Natur nicht gibt. Die gesamte Natur ist seit Tausenden von Jahren durch menschliche Aktivitäten beeinflusst und geformt worden. Was im 19. Jahrhundert galt, gilt heute im 21. Jahrhundert, umso mehr. Man spricht vom Anthropozän, einer neuen ökologischen Epoche, die durch den Einfluss des Menschen auf die Natur definiert ist. Marx und Engels haben die Grundlage dafür gelegt, dass wir über diese Dinge sprechen können, aber wir müssen auch mit neuem Wissen und neuer Wissenschaft darauf aufbauen.
Linkswende: Wie hat Covid die Klimabewegung beeinflusst? Manche Klima-Aktivist_innen weisen auf die guten Nebeneffekte der verringerten Produktion hin.
Camilla: Die Pandemie hat meiner Meinung nach sehr gut gezeigt, dass die Menschen ihren Lebensstil sehr schnell ändern können.. Wir Sozialisten gehen nicht davon aus, dass wir zuerst unseren Lebensstil ändern müssen. Wir sagen nicht: „Geht alle nach Hause und ändert die Art, wie ihr esst, oder welche Verkehrsmittel ihr nehmt!“ Die wahren Schuldigen sind nicht die normalen Menschen, sondern die fossile Industrie und die Regierungen, die sie unterstützen. Durch Covid haben die Menschen sich organisiert, um ihre Nachbarn mit Lebensmitteln zu versorgen und sich um ältere Menschen zu kümmern. Ohne den Lebensstil in den Vordergrund zu stellen, hat das gezeigt wie Menschen auf sehr unterschiedliche Weise leben können, wenn eine große Veränderung in der Gesellschaft notwendig ist.
Wir wissen, dass sich die Mehrheit der Menschen inzwischen für den Klimawandel interessiert.
Wir könnten ganz andere Wohnverhältnisse haben und ein kostenloses öffentliches Verkehrssystem, anstatt dass jeder in seiner eigenen kleinen Blechkiste herumfährt. Manche Leute denken, Elektroautos sind die Lösung für alle. Ich denke, wir können als Sozialisten radikaler sein als das: keine Autos oder nur Autos für die Rettungsdienste vielleicht und viel mehr Grünflächen und weniger Umweltverschmutzung und ein anderer Lebensstil. Das ist doch eine Art Degrowth, oder? Degrowth ist keine schlechte Idee, weil es eine antikapitalistische Idee ist oder zu sein scheint. Wenn man anfängt, sich mit der Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums auseinanderzusetzen, muss man herausfinden, warum wir Wirtschaftswachstum haben, und das ist Teil der Logik des Kapitalismus.
Die Frage ist eher, wie wir zu Degrowth kommen, warum fangen wir an, die Wirtschaft zu schrumpfen? Wäre es nicht viel besser, wenn dies auf demokratische Weise geschehen würde, organisiert von Arbeitern und einfachen Menschen, als eine Art plötzlicher Schock für alle, wie wir es bei den Lockdowns gesehen haben.
Linkswende: Wir bekommen schon die ersten Folgen des Klimawandels zu spüren. Ist die Klimakrise aufhaltbar? Und wie könnte die Zukunft aussehen?
Camilla: Die Frage betrifft die Tatsache, dass ein Teil des Klimawandels bereits im Gange ist. Man muss sich nur Indien und Pakistan und die Temperaturen ansehen, die wir dort derzeit erleben. Du hast wahrscheinlich in den Nachrichten gesehen, dass es, obwohl immer noch Frühling ist, die Temperaturen um die 50° Celsius liegen und, dass eine Milliarde Menschen auf der Welt davon betroffen ist. Es ist eine sehr beängstigende Situation, in der wir uns derzeit befinden. Antonio Gramsci sprach über den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus des Willens. Es darf uns nicht egal sein, was mit unserem Planeten geschieht, denn es betrifft vor allem die ärmsten Menschen in der Welt, jene, die am wenigsten für das Problem verantwortlich sind.
Die Wissenschaftler des IPCC sagen, es ist technisch möglich die CO2-Emissionen so weit zu reduzieren, damit die Temperatur-Erhöhung unter 1,5 °C bleibt, obwohl sie bereits um weit mehr als ein Grad Celsius angestiegen ist. Dafür müssen wir sehr schnell handeln und die Nutzung fossiler Brennstoffe in den nächsten drei Jahren massiv einschränken.
Sie fürchten unsere Bewegung
Wir wissen, dass sich die Mehrheit der Menschen inzwischen für den Klimawandel interessiert. Umfragen unter jungen Menschen auf der ganzen Welt zeigen, sie sind sich dessen bewusst und sehr besorgt. Wir brauchen einen radikalen Wandel und eine Reduktion fossiler Brennstoffe, Investitionen in Energieeffizienz, Isolierung, usw.. Die große Bewegung gegen Fracking hat die Gewinnung von Schiefergas im Vereinigten Königreich weitgehend gestoppt. Dort haben Gewerkschafter, verschiedene Umweltgruppen, Forscher und ganz normalen Menschen zusammengearbeitet. Aktuell wollen sie es wieder einführen. Diese Bewegung hinderte Shell daran, das Cambo-Ölfeld auf den Shetland-Inseln in Schottland zu erschließen. Auch diese Idee will Shell wieder aufgreifen.
Wir haben Beispiele dafür gesehen, wie Bewegungen einige dieser Projekte für fossile Brennstoffe stoppen können. Das ist genau das, was wir meiner Meinung nach tun müssen. Mohammed Barkindo, der Generalsekretär der OPEC, sagte über Greta Thunberg und die Schulstreikbewegung: „Sie sind tatsächlich die größte Bedrohung für die Industrie in der Zukunft“. Das finde ich großartig. Greta Thunberg sieht das als großes Kompliment für uns: sie fürchten unsere Bewegung. Wir Sozialist_innen müssen uns mit unseren Ideen in diese Art von Bewegungen einmischen.
Das Interview führte Jakob Zelger.
21. Mai | Camilla Royle am MARX IS MUSS 2022 in Wien. „Zeit die Regeln zu brechen!“
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