Der südafrikanische ANC-Guerillakämpfer Ronnie Kasrils zu Palästina
CK: Was war deiner Meinung nach der Hintergrund für den Angriff der Hamas und der anderen Kräfte am 7. Oktober?
RK: Man kann einen kochenden Topf nur eine gewisse Zeit lang verschließen, dann wird er explodieren. Die Hamas gab die Gründe für ihre Operation an. Sie verwies auf die grausamen und provokativen Angriffe auf die Al-Aqsa-Moschee und darauf, welch ein Affront das war. Sie verwies auf die Brutalität der Siedler und der israelischen Streitkräfte im Westjordanland. Und das dritte Element waren die imperialistischen Träume der USA, die arabischen Staaten für eine „Normalisierung“ mit Israel zu gewinnen. Ich denke, die Hamas sah diese Normalisierung als das Todesurteil für die Sache der Palästinenser.
Die erste Phase des Hamas-Angriffs am 7. Oktober – der Überfall auf die zahlreichen Posten der IDF, die die Sicherheitsbarriere im Gazastreifen besetzen und kontrollieren – war brillant in ihrer militärischen Organisation, Kapazität, Genialität und Disziplin. Die westlichen Medien können das nicht verstehen – wegen des Rassismus. Sie können nicht zugeben, dass ein Haufen Araber all die netten weißen Leute überlistet hat. Und deren Geheimdienst war hervorragend. Sie wussten bis auf das Haus und den Raum genau, wo sich die obersten Befehlshaber aufhielten. Ich glaube, dass sich unter den Gefangenen, die sie immer noch festhalten, hochrangige Militärs befinden. Das ist es, was ich als Student und ehemaliger Praktiker der Guerilla-Kriegsführung begrüße. Die Tötung von Zivilisten, die zweite Phase der Ereignisse vom 7. Oktober, ist eine andere Sache und kann nicht unterstützt werden.
Es gibt jedoch zwingende Beweise dafür, dass die israelischen Streitkräfte im Rahmen ihrer „Hannibal-Direktive“ zur Verhinderung von Geiselnahmen und zur Tötung von Hamas-Agenten zumindest einige der zivilen Todesopfer verursacht haben. Was mit den Zivilist:innen geschah, war tragisch. Aber wie wir Südafrikaner wissen, kann man Menschen nicht jahrzehntelang unterdrücken, ohne zu erwarten, dass der Topf überkocht. Wenn das passiert, gibt es keine Garantie dafür, dass es sanft und zur Zufriedenheit der Unterdrücker geschieht. Es war eine massive Demütigung für Israel.
CK: Was ist mit den folgenden israelischen Angriffen?
RK: Die Reaktion war absolut völkermörderisch. Ich glaube, einige Palästinenser glauben, dass irgendwann Amerika einschreiten wird, wenn Israel zu weit geht. Ich habe dieses Argument jahrzehntelang von der PLO gehört. Aber was leider verdammt furchtbar und erbärmlich ist, ist der absolute Zynismus und die Gefühllosigkeit der USA. Plötzlich ist es ein großer Auftritt von Biden und Blinken, die sagen, dass Israel im Süden des Gazastreifens nicht so hart vorgehen darf wie im Norden. Letztlich halten sie aber Israel nicht zurück.Es ist schwer, wenn man im Widerstand ist, genau zu wissen, was passieren wird. Kurz vor dem Ende der südafrikanischen Apartheid im Jahr 1992 führte ich einen Marsch in Bhisho an, um die Wiedereingliederung des „Heimatlandes“ der Ciskei in Südafrika zu fordern. Wir rechneten nicht damit, dass die Sicherheitskräfte auf uns schießen würden, aber sie töteten 28 Menschen. Langfristig gesehen ist der Widerstand jedoch oft fruchtbar. Man blickt zurück und stellt fest, dass wir trotz der schrecklichen Verluste am Ende triumphiert haben. So etwas wie eine risikofreie Strategie gibt es nicht.
Ich war vor etwa 15 Jahren in Gaza und habe dort Hamas-Aktivisten getroffen, und vor vier oder fünf Jahren traf ich sie auf einer Konferenz in Katar wieder. Und sie wollten wissen, wie wir in Südafrika gewonnen haben. Ich betonte ihnen gegenüber, dass es wichtig sei, eine klare politische Position zu haben und diese dann mit bewaffneten Aktionen zu untermauern und eine moralische Überlegenheit zu haben.
Sie wussten, dass ich einen jüdischen Hintergrund habe. Die Hamas-Leute waren daran sehr interessiert. Ich sagte, dass es für den ANC wichtig war, weiße Unterstützer und Mitglieder zu haben, als er die Apartheid in Südafrika bekämpfte, und dass die Hamas davon profitieren würde, wenn sie zeigen könnte, dass zumindest einige Jüd:innen den Widerstand unterstützen. Es hilft, den Mythos des rassistischen israelischen Staates zu zerstören, der behauptet, alle Jüd:innen zu vertreten.
CK: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem Kampf gegen die südafrikanische Apartheid und der israelischen Apartheid?
RK: Israel ist ein Siedlerkolonialstaat, und das war Südafrika vor der Befreiung auch. Wir nannten es Kolonialismus einer besonderen Art. Er ist nicht mit dem klassischen Kolonialismus zu vergleichen, da sich die Siedler und die kolonisierte Bevölkerung auf demselben Gebiet befinden. Es gibt keinen separaten Kolonialstaat. Aber es gibt große Unterschiede zwischen Südafrika und Israel.
Ein wesentlicher Unterschied ist die strategische Rolle Israels, die für den Westen so wichtig ist und die auf Winston Churchill, Großbritannien und die Balfour-Erklärung von 1917 zurückgeht. Und dann kamen die Amerikaner und benutzen Israel. Die Zionisten waren sehr klug, sie verstanden, was die Imperialisten wollten. Wie der zionistische Pionier Theodore Herzl es ausdrückte, würde Israel „ein Abschnitt der Mauer Europas gegen Asien sein, wir werden als Vorposten der Zivilisation gegen die Barbarei dienen.“
Die Entwicklung von Öl und Gas und die strategische Bedeutung des Suezkanals haben die Position Israels noch wichtiger gemacht – weit wichtiger als die Südafrikas. Die Imperialisten werden also noch hartnäckiger an ihrer Unterstützung festhalten. Was der Westen in Südafrika fürchtete, war, dass wir eine starke kommunistische Partei und eine geeinte Arbeiterbewegung hatten. Der ANC wurde sehr radikalisiert und wir hatten die Unterstützung der Sowjetunion.
Ein Ende der Apartheid wäre also ein schwerer Schlag im Wettbewerb mit Russland. In dem Moment, in dem die Sowjetunion zusammenbrach, verflüchtigte sich diese Gefahr. Der kollektive Westen und das einheimische Großkapital waren bereit, die politische Macht an den ANC abzugeben. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass in Südafrika die Schwarzen die überwältigende Mehrheit bildeten und es auch eine massive und sehr mächtige schwarze Arbeiterklasse gab, was im Falle Israels nicht der Fall ist. In Südafrika konnten die Apartheid-Machthaber nie an eine vollständige ethnische Säuberung und Vertreibung denken, weil sie schwarze Arbeitskräfte brauchten.
CK: Wie können die Palästinenser:innen gewinnen?
RK: Ich will nicht darüber reden, wie eine gerechte Sache am Ende gewinnt. Ich kenne viel zu viele gerechte Ursachen, die leider in Blut und Unterdrückung endeten. Wir können festhalten, dass die USA nicht mehr so mächtig sind wie früher, aber die USA und Israel können immer noch riesiges Leid verursachen, kollektive Bestrafungen und Schlachtereien umsetzen. Aber ich sehe ein Licht am Ende des Tunnels.
Das erste Positive ist, dass all die israelische Grausamkeit den Widerstandsgeist nicht ausgelöscht hat. Man sieht Menschen in Gaza, die inmitten von Trümmern leben und hungern, aber sie geben nicht auf. Wenn der Widerstand etwa drei Monate lang durchhält, können sich meiner Meinung nach mehrere Widersprüche ergeben. Ich glaube, dass die Regierung Netanjahu leicht zusammenbrechen könnte. Sie wird an den inneren Differenzen scheitern, an allem, was bisher schief gelaufen ist, und an dem Druck, der von den Familien der Geiseln ausgeht. Zudem sehen wir die Probleme, mit denen Joe Biden und Rishi Sunak konfrontiert sind, und das Ausmaß des Widerstands gegen ihre Politik.
Wir wissen, dass die arabischen Staaten, dieser korrupte Haufen, der die Palästinenser verraten wollte und es auch getan hat, die nun brodelnden arabischen Massen fürchten. Es ist schon wahr, dass kein arabischer Staat es sich leisten kann, Teil dessen zu sein, was die USA und Israel tun, und deshalb ist die „Normalisierung“ des Abraham-Abkommens gescheitert. Je länger der Widerstand in Gaza anhält, desto größer ist die Möglichkeit, dass die ganze Sache ins Wanken gerät. Und dann ist da noch die längere Frist. In Südafrika sprachen wir von vier Säulen des Kampfes; Massenwiderstand, internationaler Druck, bewaffneter Kampf und Untergrund.
Es gibt jetzt das Gefühl einer weltweiten Solidaritätsbewegung. Ich glaube, sie ist so durchschlagend wie wir es noch nie erlebt haben. Die Menschen in Südafrika demonstrieren massenhaft in Solidarität mit Palästina, aber sie schauen auch auf den Rest der Welt. Die Mittelschicht schaut hier auf ihren eigenen Fernsehern zu, die ärmeren Leute in den Kneipen. Sie sehen, wie Jüd:innen in der Grand Central Station in New York protestieren, sie sehen ergriffen eine halbe oder ganze Million Demonstrierender in London – und jeder schaut derzeit auf London. Wir wissen, dass wir Druck auf die blutigen westlichen Regierungen ausüben müssen. Jede:r liest und studiert zum Thema Palästina. Der palästinensische Widerstand, die arabischen Massen, der Druck auf den Westen und Kampagnen wie Boykott, Desinvestition und Sanktionen. Das gibt uns Hoffnung.