Die Chinesin

1967, ein Jahr vor den historischen Mai-Unruhen in Frankreich kam ein prophetischer, inhaltlich und visuell verwirrender Film in die Kinos: „Die Chinesin“ von Jean-Luc Godard.
11. Januar 2016 |

Ein oberflächlicher Pop-Song mit dem Refrain „Mao, Mao“ erklingt, politische Slogans, Bruchstücke von Diskussionen, plakative Bilder wechseln einander ab. Immer wieder wird im Film „Die Chinesin (la chinoise)“ die Realität gebrochen. Im Zuge eines „Films im Film“ wird offenbar innerhalb der Handlung eine Dokumentation gedreht. Das Filmteam samt Kamera kommt wie unabsichtlich ins Bild.

Die Personen wenden sich immer wieder an einen unsichtbaren Interviewer um ihre Ansichten zu erklären, eine Technik, die uns in heutigen Reality-Formaten wiederbegegnet. Eine wirkliche Handlung existiert nicht, im Prinzip geht es um eine zusammengewürfelte Gruppe junger „Linksradikaler“, die sich zu einer maoistischen Kommune zusammengeschlossen hat. Aus eklektischen Diskussionen, gespickt mit Zitaten des „Großen Vorsitzenden“ Mao Zedong entwickelt sich der Plan zu einer radikalen, gewalttätigen Aktion.

Bejubelt und verboten

Ein Filmplakat von „La Chinoise“ © cynephile.com
Ein Filmplakat von „La Chinoise“ © cynephile.com

Der Name Godard steht seit Jahrzehnten für Werke, die sich auf verschiedenste Weise gegen die profitorientierte, oberflächliche Art, Filme zu produzieren wehren, mit einem marxistischen Verständnis dafür, wie die kapitalistische Produktionsweise insgesamt funktioniert. Zuletzt nannte er 2010 sein neuestes Werk „Socialisme“. Durch sein gesamtes Schaffen ziehen sich Solidaritätsbekundungen für das vietnamesische und später auch das palästinensische Volk.

Godards Faszination für den Film führte ihn schon 1951 als Schreiber zum legendären kritischen Filmmagazin „Cahiers du Cinéma“. Seinen ewigen Ehrenplatz in der Filmgeschichte hat sich der spätere filmische Rebell schon 1960 erarbeitet. Mit „Außer Atem (À bout de souffle)“ mit einem jungen, unbekannten Jean-Paul Belmondo, nach einem Drehbuch von Francois Truffaut schuf Godard einen Schlüsselfilm der „Nouvelle Vague“. In nur vier Wochen wurde der Film mit Handkamera gedreht und nutzte damals höchst ungewohnte Techniken wie Jump Cuts und Achsensprünge.

Schon sein zweiter Film „Der kleine Soldat (le petit soldat)“ erhielt in Frankreich ein Aufführungsverbot für zwei Jahre. Godard hatte die Brutalität der französischen Armee bei der Niederschlagung der antikolonialen Erhebung in Algerien zum Thema gemacht.

Radio Peking

„Die Chinesin“ entstand vor dem Hintergrund der Studierenden-Proteste gegen den Vietnamkrieg in Berkely und der chinesischen Kulturrevolution.

Die Chinesin“ entstand vor dem Hintergrund der Studierenden-Proteste gegen den Vietnamkrieg in Berkely und der chinesischen Kulturrevolution.

1967 begann Mao, der zuvor von seinen Gegnern in der Partei mehr oder weniger kalt gestellt worden war, Jugendliche und Studierende als Rote Garden gegen die „Revisionisten“ einzusetzen. Der ideologische Aspekt der Auseinandersetzung war, dass Mao befürchtete, die Parteibürokratie würde zu einer neuen Ausbeuterklasse.

Zu dieser Zeit wurden Maos Schriften, besonders das Rote Buch, zu Bestsellern an den Universitäten Europas. Es war dieser Umstand, der Godard zu „Die Chinesin“ inspirierte. Die Farbe Rot taucht auch immer wieder aggressiv im Film auf. Im Zentrum der Handlung steht eine Wohnung in Paris, die den Schauplatz für den ersten Teil des Films bildet. Die „Kommunarden“ schlafen, diskutieren, streiten gemeinsam, unterrichten sich gegenseitig, werfen sich Zitate und Slogans aus den verschiedensten revolutionären Ideologien an den Kopf und hören Radio Peking.

Im Zuge ihres „Bildungsprogramms“ laden sie auch einen schwarzen Studenten zur Diskussion. Entgegen dem Klischee erweist er sich als viel vertrauter mit marxistischer Theorie als die weißen, bildungsbürgerlichen Gastgeber_innen. Die Diskussionen drehen sich aber auch um den Schritt von der Theorie zur (terroristischen) Praxis.

Reale Fiktion

Die jungen Maoist_innen im Film entsprechen Godards Zugang, der Fiktion gerade so nahe an die Realität bringen wollte, um seinen Filmen „Wahrheit“ zu geben. Sie stehen für das Streben der rebellierenden Studierenden in Frankreich (wie in anderen westlichen Staaten), im „Kalten Krieg“ eine Position zu finden, die sich sowohl gegen den US-, wie gegen den russisch-stalinistischen Imperialismus richtete. In späteren Jahren führte das zum Entstehen maoistischer Massenorganisationen, die in der radikalen Linken fast hegemonial wurden.

In Frankreich richtete sich der Zorn vieler radikaler Aktivist_innen gegen die stalinistische Kommunistische Partei Frankreichs (PCF), die kurz darauf, 1968, die Bewegung verraten sollte. Die PCF stellte sich auf die Seite der Regierung und unterstützte Anti-Streik-Maßnahmen, während zehn Millionen Studierende und Arbeiter_innen den Aufstand probten. In der „Chinesin“ stolpert schon in den ersten Minuten ein blutig geschlagener Aktivist in die Kommunen-Wohnung. Haben ihn Nazis zusammengeschlagen, oder die Polizei? Nein es waren Mitglieder der PCF.

Kunst im Kapitalismus

Godards Thema ist im Kern die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Kultur. Symbolisch kommt ein Slogan an der Wand der Kommune immer wieder ins Bild: „Wir müssen verschwommenen Gedanken klare Bilder entgegenstellen“. Während Godard seine filmischen Einflüsse bei Eisenstein und dem italienischen Neorealismo findet, transformiert er die Methoden von Bert Brecht um das Publikum zu „belehren“, wobei er sich nicht in der Rolle des allwissenden linken Oberlehrers sieht.

Godard sprach in Interviews immer wieder davon, dass kleinbürgerliche Künstler und Intellektuelle nicht im Namen der Arbeiter_innenklasse sprechen könnten, sie müssten sich erst einmal selbst finden, sich ihrer selbst bewusst werden. Die Bewegung war Ende der 1960er-Jahre so stark, dass Godard die linken Intellektuellen und die Studierenden als eine Art „dritte Kraft“ in der Klassenauseinandersetzung sah, mehr oder weniger unabhängig von Arbeiter_innen und Kapital.

„Hass“

„Hass“

Aus der marxistischen Wahrheit, dass die Gedanken der Herrschenden immer die herrschenden Gedanken sind, folgerte Godard, dass alle Medien, so auch der Film, praktisch das sind, was „der Ausbeuter zum Ausgebeuteten sagt“ und man daher völlig neue Formen finden müsse. Folgerichtig gründete er die Groupe Dziga Vertov (benannt nach dem sowjetischen Filmemacher und Filmtheoretiker Dsiga Wertow), die dem kommerziellen Kino eine Absage erteilte und ihre Filme in den Dienst der Revolution stellen sollte.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.