Die Linke auf der Suche nach dem Aufstand
Der Begriff des Riots ist schwer fassbar, wird er in der medialen Debatte für eine Bandbreite von Ereignissen von Prügeleien nach Fußballspielen über gewalttätige Demonstrationen bis zur Gegenwehr nach rassistischen Polizeiübergriffen verwendet. Teilweise wird der Begriff dazu genutzt, politische Ereignisse zu dämonisieren. Der Ursprung des Begriffes geht auf den englischen Riot-Act von 1716 zurück. Heutzutage wäre der Begriff der Revolte eine treffende Übersetzung, historisch gesehen auch der Begriff des „Aufruhr“. Dieser wurde im Strafgesetzbuch 1876 als sich gegen den Staat richtende gewalttätige Massenhandlung mehrerer Personen definiert. Dies könnten wir als erste Definition von Riots nehmen. Im Unterscheid zu „Aufständen/Revolutionen“ steht bei Riots nicht der koordinierte Angriff auf den Staat im Vordergrund, im Unterschied zu Demonstrationen und sozialen Bewegungen ist Gewalt gegen Objekte und/oder Polizisten jedoch zentraler Bestandteil von Riots.
Die Angst vor der Masse
Historisch war der sozialpsychologische Rassentheoretiker Gustav Le Bon mit seinem Werk „Die Psychologie der Massen“ prägend für die Auseinandersetzung mit gewalttätigen Massenaufständen. Le Bon schrieb zur Zeit der französischen Revolution als Bürgerlicher, der vom Eintreten der Massen in die Weltgeschichte so entsetzt war, dass er ihnen jede Rationalität absprach. Massenbewegungen waren für ihn kollektive Psychosen, die sich wie Viren ausbreiten.
Von Freuds „Psychoanalse der Masse“ über Elias Canetti und seinem Werk „Masse und Macht“ bis zum politikwissenschaftlichen Vordenker Niccolò Machiavelli in seinem Werk „der Fürst“, sobald gewaltätige Masse in ihren ansonsten distanziert-logisch geschriebenen Büchern auftauchen, strotzen ihre Texte von den immer gleichen Metaphern über „Viren“, „Nicht-zähmbaren Gefühlen“, „Unkontrollierbarkeit“, „Psychosen“, „Selbstauflösung“ usw. Diese Beispiele zeigen, wie prägend die Angst vor der Masse für bürgerliche Philosophie war und ist. Der Unterschied zwischen diesen Denkern besteht darin, ob die Masse durch Repression kontrolliert werden muss, wie es Le Bon impliziert, durch Weise voraussicht gelenkt werden soll, wie es Machiavelli anstrebt, oder ob die Regungen der Masse generell nicht steuerbar sind, wie es bei Freud und Canetti auftaucht.
Wer Berichterstattungen über aktuelle Riots verfolgt, der sieht, wie diese Denkmuster bis heute eine relevante Rolle spielen. Im Stile von Le Bon sprach der französische Innenminister Sarkozy während der Riots von 2005 vom „Abschaum“ den man wie „Bazillen“ aus den Vorstädten „wegkärchern“ (mit Hochdruckreingern wegspritzern) musste. Auch der englische Premier Cameron bediente sich 2011 der Metaphern der sich ausbreitenden Krankheit des Riots, die französische Polizei sprach 2023 davon, dass sie sich mit kriminellen Elemten „im Krieg befindet“. Ein bürgerlicher Staat erklärt seinem Volk in Livesendungen den Krieg, ein Stärkerer Ausdruck der Krise der herrschenden Politik lässt sich kaum finden.
Die reformistische Linke und Gewalt
Eigentlich sollten die hasserfüllte Reaktion der Rechten wie der Herrrschaft, genügen, um die Linke zu einer solidarischen Position zu bringen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Auch wenn die Gewalt sicherlich ein Grund für die fehlende Solidarität der reformistischen Linken mit Riots ist, wäre es zu einfach, dies als einzige Begründung herzunehmen. Dazu kommt noch, dass die Behauptung der Großteil der Bevölkerung hat ein Problem mit gewaltätigen Protesten nicht allgemeingültig ist. Eine Studie der Monmouth University kam zwischen 28. Mai und 1. Juni 2020 zum Ergebnis, dass 54% der Befragten das Niederbrennen der Polizeistation in Minneapolis nach der Ermordung von George Floys als gerechtfertigt betrachten. Dieses Ergebnis ist nicht nur Ausdruck der Wut auf die US-Polizei, sondern zeigt auch die Macht der Black Power Bewegung in den Diskussionen der USA. Ohne den Kämpfen von Marthin Luther King, Malcom X, den Plack Panters, Black Lives Matter und soviele mehr, wäre solch ein Ergebnis undenkbar gewesen.
Slavoj Zižek oder der Soziologe Zygmunt Baumann sprachen 2005/2011 von „einer gewalttätigen Aktion, die nichts fordert“ oder behaupteten, die Plünderungen würden die Bewunderung für die neoliberale Konsumgesellschaft zum Ausdruck bringen. David Harvey erklärte zwar, dass man den Kapitalismus für seine ökonomischen Verbrechen an den Rioter:innen vor Gericht stellen müsste, aber die Rioter:innen selbst beschrieb er als zu „geistlos“ diese Forderungen „aufzustellen oder überhaupt zu sehen“. Die Vorstellung von Riots als spontane/unorganisierte Wutausbrüche taucht in der Linken immer wieder auf und ist Unsinn. SMS-Ketten informierten in Griechenland 2008 über den Polizeimord, nach der Verbreitung des Videos zur Ermordung von Nahel traf man sich in Marseille automatisch am Hafen, in Minepollis vor der Polizeistation. Verbreiten von Videos, Informationsketten, gemeinsame Treffpunkte und Marschrouten, kollektive Strategien, wie die Polizei bekämpft wird, Zerstörung von Überwachungskameras – was ist das alles anderes als Formen von Organisation? Es fehlt nicht die Organisation, sondern viel eher die klassischen Kommunikationsformen von politischer Organisierung: Demonstrationsreden, Medienintervies, Plenumsabstimmungen, Diskussion von Aufrufen usw.
Viel mehr als dass Riots einfach die Stimme der Ungehörten sind, wie Martin Luther King solidarisch interpretiert, kommt bei nahezu allen Interviews mit Rioter_innen zum Ausdruck: Sie verstehen ihre Taten, verteigen diese und sind sehr oft sogar stolz darauf
Etwas intelligentere Kritiken fokussierten sich darauf, dass die Riots in den Vororten stattfanden und dadurch die Infrastruktur der Communities selbst bspw. Schulen, Busstationen, Autos der Anwohner_innen usw. zerstörten. Während jede_r revolutionäre Linke die Aussage verbrennt Polizeistationen, Banken, Bürgermeisterhäuser und nicht Schulen oder Busstationen untersützen würde, ist es völlig verfehlt, Solidarität davon abhängig zu machen, ob uns die Form des Widerstandes gefällt oder nicht.
Davon abgeshen ist es vereinfachend, die staatliche Infrastruktur auf ihre Funktionsweise als Infrastruktur für Communities zu beschränken. Genauso steht diese Infrastrutkur auch für die „Normalität“, welche die Rioter_innen stören wollen. In diesem Kontext stellte Thomas Seibert fest: „Der Riot ist ein Grenzfall des Politischen. Wie viele andere war der Riot von Hamburg die Kommunikation des Widerstands gegen die Kommunikation selbst – das heißt gegen die Gesellschaft als solche. Der spezifische Auftrag des Riots bestand gerade darin, nicht in Verhandlungen zu treten, auch nicht mit der politischen Linken“.
Stolz auf Riots
Insofern bleibt es bei den meisten Riots einer Minderheit der revolutionären Linken, insbesondere aus dem anarchistischen/insurrektionalistischen und trotzkistischen Spektrum, überlassen, in diesen mehr als „sinnlose Wut“ zu sehen. Im Kontext der Brixton Riots 1981 erklärte der marxistische Theoretiker Chris Harman: „Für viele, die an den Riots teilgenommen haben, wird es eine der größten Erfahrungen ihres Lebens gewesen sein. Denn mehr noch als Streiks bieten Riots den Menschen, die oft ein trostloses, atomisiertes und langweiliges Leben geführt haben, die Erfahrung von Solidarität, von kollektiver Macht, von der Möglichkeit, den Lauf der Gesellschaft zu beeinflussen, anstatt nur das Opfer zu sein. Das ist der Grund, warum nach großen Unruhen die Teilnehmer und Zuschauer nur selten ihr Bedauern über das Geschehene zum Ausdruck bringen.“
Viel mehr als dass Riots einfach die Stimme der Ungehörten sind, wie Martin Luther King solidarisch interpretiert, kommt bei nahezu allen Interviews mit Rioter_innen zum Ausdruck: Sie verstehen ihre Taten, verteigen diese und sind sehr oft sogar stolz darauf. Zu den Riots in Watts 1965 stellte die Soziologin Bobbi Hollon fest: „Früher schämten sich die Leute, wenn sie sagten, sie kämen aus Watts. Sie haben es gemurmelt. Jetzt sagen sie es mit Stolz. (…) Jetzt schaut die ganze Welt auf Watts“. Zu den Riots in Ferguson 2014 stellt Patrick Taylor fest: „Das war der Tag, an dem die Leute sagten: Wir haben keine Angst mehr. Wir sahen die Angst in den Augen der Polizisten. Viele Mitglieder der Community wurden durch den Riot gestärkt/empowert“. Auf die Frage, ob die Riots in London 2011 etwas erreicht hatten, antwortete ein junger Mann in Tottenham dem Sender NBC: „Ja. Du würdest jetzt nicht mit mir reden, wenn wir nicht randalieren würden, oder?“ Ein Beteiligter aus Manchester erkärte: „Die riesige Polizeistation, konnte nichts tun. Die Gegend gehörte uns für einen Tag. In Salford herrschte Partyatmosphäre. Alle standen herum, tranken, rauchten Gras und lachten. Wir bedrohten nicht die Öffentlichkeit sondern die Polizei“. Dieses Selbstvertrauen, das dahingeschleudert Fuck You an die Gesellschaft, ist es, mit dem es der Linken, reformistisch wie revolutionär, schwerfällt umzugehen.
In diesem Kontext ist auch der Einzug von Riots und Plünderungen in die Massenkultur zu verstehen. Anknüpfend an den Film Athena, der Schlachtruf der Riots in Linz „Macht Linz zu Athena“ wurde zu Silvester auf Berlin übertragen, kursieren auf TikTok Smash, Grab, Run Videos (Zerschlagen, Nehmen, laufen). Der Trend begann, als sich arme Jugendliche in den reichen Gegenden von Los Angels trafen, um High-Class-Stores zu plündern und diese Videos mit dem Rap-Song Gucci Gang oder RIOT von A$AP (I might start a riot …. I don´t buy it. Vielleicht beginne ich einen Riot…. Ich kaufe es nicht) unterlegten. Auch in England, Frankreich und Argentinien kam es in den vergangenen Monaten zu solchen Aktionen, welche teilweise in Auseinandersetzungen mit der Polizei endeten.
Die Masse in der marxistische Tradition
Wenn auch nicht unter dem Stichwort der Riots, diskutierte die marxistische Tradition in ihrer Geschichte durchgehend über das Verhältnis der industriell organisierten Arbeiter_innenklasse, deren politischer Ausdruck der Streik war und Massenaktionen, welche auf einer vielschichtigen Klassengrundlage beruhten. Besonders interessant sind die Diskussionen zwischen dem sozialdemokratischen Theoretiker Karl Kautsky und dem späteren Rätekommunisten Anton Pannekoek im Kontext der sogenannten Massenstreikdebatte. Kautsky, der zwischen reformistischen und revolutionären Positionen vermitteln wollte, versucht Streiks als proletarische Kampfform von anderen Massenaktionen wie Demonstrationen oder bewaffneten Aufständen zu trennen. Bei den von Kautsky diskutierten Massenaktionen geht es defacto um Riots/Aufruhrs: „Wir handeln also im Folgenden nicht von der politisch oder gewerkschaftlich organisierten Masse, sondern von jener Masse, die sich gelegentlich, durch bestimmte Veranlassungen getrieben, zur Bekämpfung bestimmter sie bedrückender Faktoren zusammenfindet. Organisierte Gruppen können in ihr vorkommen, werden selten ganz fehlen, machen aber nicht ihren Hauptbestandteil aus“. Während Kautsky eine lesenswerte Kritik an Le Bon liefert, bleibt für ihn der Wahlkampf die umfassendste und erfolgversprechendste Massenaktion . Auch wenn Kautsky zwei Schritte links von Harvey und Co. steht und ein ums andere Mal darauf hinweist, dass unorganisierte Massenaktionen nicht nur eine legitime Reaktion auf kapitalistische Verelendung sind, sondern auch eine reale Erfolgsaussicht haben, so hält er an der Überlegenheit von Wahlkampf durchgehends fest.
Gegen Kautsky stellt Pannekoek die Bedutung der Massenaktion als Streiks begleitend und befeuernd heraus. Das Ziel von Pannekoek revolutionäre Politik als eigenständigen, potenziell den Interessen von Wahlkämpfen Zuwiderlaufenden Prozess zu verstehen, ist richtig, die Art und Weise, wie er seine Argumente darlegt, ist wenig überzeugend. Beispielsweise geht er davon aus, dass die heutigen Massen im Unterschied zu den historischen immer proletarisch sind und dadurch „naturwüchsig“ zum Sozialismus hinstreben. „Auch die unorganisierten Massen von heute müssen ganz anders auftreten als die Volksmassen von früher, denn sie unterscheiden sich von ihnen als proletarische von bürgerlichen Massen.“
Was beide nicht eindeutig formulieren, ist, dass Massenaktionen, gerade wenn sie unorganisierte Teile der Arbeiter_innenklasse bzw. Arbeitslose erreichen, eine Krise der herrschenden Ideologie andeuten. Oftmals sind gerade Massenaktionen von nicht organisierten Massen die Vorboten von umfassenderen Phasen des Klassenkampfes. Während die organisierte Arbeiter_innenbewegung in Österreich und Deutschland noch in der Burgfriedenspolitik verharrte, waren Hungerkrawalle von Hausfrauen, Arbeitslosen und Jugendlichen im Winter 1916 die ersten Massenakte gegen den Krieg. Ähnlich könnten die primär studentischen Massenaktionen an den Universitäten in Straßburg und die Besetzung des Justizpalastes in Nantes im November 1967 als Vorboten des mächtigen Generalstreiks im Pariser Mai 68 gesehen werden. Friedrich Engels erkannte in der „Münchner Bierrevolution“ – unorganisierte Riots gegen die geplante Erhöhung der Bierpreise – in seinem Artikel „Beer Riots in Bayern“ 1844 ein Vorzeichen der 1848-Revolutionen. „Wenn die Massen einmal erkennen, dass sie die Regierung aus ihrem Steuersystem herausschrecken können, werden sie bald lernen, dass es genauso einfach sein wird, sie in ernsteren Angelegenheiten einzuschüchtern.
Riots Unterscheid Zentrum – Peripherie
Wenn Engels Aufstände gegen zu hohe Bierpreise auf den ersten Blick ein wirklich „unrevolutionäres“ Thema genau verfolgte, sollten wir die aktuellen Riots gegen Polizeimorde und die damit einhergehenden Plünderungen von Luxusgeschäften als Formen von Klassenkampf ernst nehmen. Gerade auch weil das marxistische kollektiv Endnotes auf Basis der GDELT-Datenbank eine stetige Zunahme von „regierungsfeindlichen Kämpfen“ zwischen 2008 und 2019 berechnet. Eine Schwäche der aufgestellten Behauptung, Riots würden global zunehmen, ist die Nichtunterschiedung zwischen Peripherien und Zentren des globalen Kapitalismus.
Anknüpfend an die sogenannte „Bread Intifada“ in Ägypten 1977, versuchten Statistiker_innen einen messbaren Zusammenhang zwischen steigenden Getreidepreisen und der Wahrscheinlichkeit von sozialen Unruhen zu konstruieren. Auch wenn kein einfacher Determinismus steigender Preis = Aufstand besteht, so konnte Bellemare für die Phase 1990 bis 2011 einen Zusammenhang nachweisen. Auf die Zentren des globalen Kapitalismus lässt sich dieser Zusammenhang nicht übertragen. Hier ist es der Staat und seine Polizei nicht die Angst vor dem Verhungern, welche die Riots provoziert.
Neben dem bereits angesprochenen Alain Badiou konzentriert sich auch der französische Anthropolge Alain Bertho, sowie der marxistische Literaturwissenschaftler Joshua Clover in aktuellen Arbeiten auf Riots in den Zentren des Kapitalismus. Bertho sieht die Riots als Ausdruck der Niederlagen der revolutionären Linken im 21. Jahrhundert. Während es dem Marxismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang, die Masse durch eine revolutionäre Idee zu einer Einheit zu schmieden, ist diese Kollektivität im 21. Jahrhundert zerbrochen. Insofern sind die Riots für Bertho politisch nicht eindeutig klassifizierbar: „Den Aufständen unserer Zeit fehlt ein politisches Massensubjekt, das in der Lage wäre, den Konflikt zu zentralisieren“. Auch wenn Berthos und Badious Überlegungen zum Scheitern der revolutionären Linken relevant sind, so schwingt in ihren Texten durch die Leidenschaft für abstrakte Philosophie eine mystifizierende Note mit. Polemisch ließe sich gegen ihre Interpretation einwenden, dass Rioter_innen mit der Polizei, nicht der Weltgeschichte abrechnen wollen.
Clover politische Ökonomie des Riots
Den aus marxistischer Perspektive interessantesten Versuch, eine Theorie zu Riots zu liefern, unternahm Joshua Clover in seinem Werk Riot-Strike-Riot Prime. Gegen alle Mysifizierung erkennt er in Riots erstmal die historische Form von Klassenkampf. Schon im alten Rom war es üblich, dass die Volksmassen vor wichtigen Abstimmungen mit Fackeln zu den Häusern der Senatoren zogen, um zu drohen: Wenn ihr heute gegen uns stimmt, dann brennt morgen euer Haus. Anders als die bürgerlichen Philosophen behaupten, ist dies zutiefst rationales Verhalten. Durch den Siegeszug des Kapitalismus, der mit der Schaffung der Arbeiter_innenklasse einherging, trat der Streik neben den Riot. Der Unterschied Riot-Streik besteht in Clovers polit-ökonomischen Interpretation nicht in der Frage der Gewalt oder der Organisierung, sondern darin, dass sich der Streik um den Preis der Arbeitskraft und der Riot um den Preis der Waren am Marktplatz dreht. Plündern ist aus dieser Perspektive das setzen des Warenpreises auf Null.
Der Neoliberalismus zeichnet sich für Clover durch drei ineinanderlaufende Tendenzen aus. 1. Eine Ausweitung des repressiven Zugriffs des Staates auf die Bevölkerung durch Massenüberwachung und Polizei-Ausbau. 2. Eine fortschreitende Verschiebung von Kapital aus den produktiven in die zirkulativen und spekulativen Sphären des Kapitalismus und damit einhergehend eine Tendenz zur Deindustrialisierung in den Zentren des Kapitalismus. Anknüpfend daran argumentiert Clover, dass Marx im Kapital unter der Überschrift „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ die Notwendigkeit einer Überflussbevölkerung diskutierte. Marx geht davon aus, dass durch den steigenden Anteil der toten Arbeit (Maschinen) gegenüber der lebenden Arbeit (Arbeiter:innen) immer mehr Arbeiter:innen fürs Kapital überflüssig werden. Natürlich nur unter der Bedingung, dass das Kapital keine neuen Produktionsfelder findet, in welche die Überflüssigen integriert werden können. Auch wenn Marx Gegentenzen zu diesem Gesetz im Kapital betonte, geht Clover davon aus, dass es aktuell auf die Zentren des globalen Kapitalismuss zutrifft. Nachdem Menschen, die nicht arbeiten, nicht streiken können, gewinnt der Riot an Bedeutung.
Clovers Ökonmismus
Genauso wie man Clover gegen vereinfachende Kritiken aus der Richtung, er versucht die Linke auf Riots anstatt Streiks einzustellen, oder Riots drehen sich nicht primär um Warenpreise, verteidigen sollte, ist die Absolutheit seiner Interpretation fraglich. Zum ersten Punkt Clover sagt nicht, dass Riots besser als Streiks sind, sondern versucht zu erklären, warum Riots zunehmen. Vielmehr könnte kritisiert werden, dass seine Annahme des „unwichtiger“ werdens des Streiks eine Momentaufnahme der 10er-Jahre war, die heute nicht mehr so eindeutig ist. Durch Corona und insbesondere die aktuelle Inflation erleben wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen Anstieg von Streikaktivitäten. Davon abgesehen bedeutet die Tendenz zur Deindustrialisierung nicht automatisch ein unwichtiger werden des Streiks, einerseits, weil auch in nicht klassisch industriellen Jobs gestreikt werden kann, anderseits, weil gerade durch die Technologisierung der Produktion heute wenige Leute durch Streiks ganze Wirtschaftsfelder lahmlegen können.
Clovers Trennung Streiks – Arbeitspreis Riot – Warenpreis ist eine Abstraktion im marxschen Sinne. Das bedeutet, er versucht hinter konkret erschienenden Phänomenen eine zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit auszumachen. Offensichtlich drehen sich Riots nicht nur um Warenrpeise, genauso wie es in Streiks nicht nur um den Preis der Arbeit geht. Politische Streiks, Streiks um bessere Arbeitsbedingungen, wie bspw. bei den Kindergärtner_innen oder gegen Rassismus, wie bei den Mjam Arbeiter_innen, kaum ein Streik lässt sich auf ökonomische Forderung reduzieren.
Die Schwächen von Clovers-Argumentationen liegen in seinem ökonomischen-Determinismus. Die theoretischen wie empirischen Diskussionen über „das Allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ füllen Bibliotheken und Clover tendiert dazu, dessen Bedeutung für Marx zu überschätzen. Völlig falsch ist die Kategorie der Überflussbevölkerung jedoch nicht, nachdem statistische Studien zu Rioter_innen, nahlegen dass hier eine andere soziale Gruppe als die in Festanstellung stehende Arbeiter_innenklasse oder Studierende die treibenden Kräfte sind.
Der Guardian kam in seinen Untersuchungen Reading the Riots zu den Ergebnissen: Kriminelle Gangs spielten keine Rolle, dies zeigte sich auch in Frankreich 2023 als Gangs eher daran arbeiteten, die Kontrolle wieder herzustellen. Zu Engalnd lässt sich sagen, dass Rioter_innen größtenteils unter 25 waren und ökonomisch aus schlechter gestellten Gegenden kamen. Auch wenn Arbeitslose und Männer überrepräsentiert sind, ist das vorgestellte Bild, dass sie die einzigen Kräfte waren, falsch. Völlig falsch ist die Vorstellung von primär schwarzen Rioter:innen. Diese Tendenz, junge Menschen aus ökonomisch schlechter gestellten Gegenden, ist in den Riots der vergangenen Jahrzehnte die eine Konstante, während Geschlecht, Bildungsgrad, Beschäftigungsverhältnisse, ethnische Zusammensetzung stark variieren. Im letzten Punkt unterschieden sie sich von den antirassistischen Revolten der 70er-Jahre in den USA. Dass auch wenn der Auslöser für Riots Polizeirassismus ist, sich immer öfter auch die Jugend der „Mehrheitsbevölkerung“ an ihnen beteiligt, ist ein gigantischer Fortschritt.
Auch Clovers Behauptung eines Zusammenhangs aus neoliberalen Tendenzen und der daraus entstehenden neuen Widerstandsform ist fraglich. Die Suche nach einem empirisch nachweisbaren Zusammenhang aus spezifischen Phasen der Akkumulation und der Häufigkeit und der Form des Widerstandes, ist so etwas wie die Suche nach dem heiligen Gral eines ultra-deterministischen Marxismus. Gefunden hat den bisher niemand. Ernst Mandel stellte fest: „Es ist unmöglich, eine direkte Korrelation zwischen dem Auf und Ab der Intensität des Klassenkampfes einerseits und dem Konjunkturzyklus oder dem Niveau der Beschäftigung/Arbeitslosigkeit andererseits herzustellen“. Ob, wie stark und in welcher Form der Klassenkampf stattfindet, ist keine rein ökonomische Frage, sondern abhängig von Klassenselbstvertrauen, politischer Organisierung, ideologischem Bewusstsein, rechtlichen Rahmenbedingungen usw.
Rechte Riots?
Als Sozialist_innen sollten wir uns davor hüten, Formen des politischen Kampfes mit einem bestimmten Inhalt zu identifizieren. 2009 kam es in England zu wilden Streiks von Bauarbeiter_innen, die teilweise den von Nazis initierten und der Sozialdemokratie unter Gordan Brown übernommenen Slogan „englische Jobs für englische Arbeiter“ übernahmen. Auch die NSDAP beteiligte sich an Streiks, beispielsweise 1932 in den Verkehrsbetrieben. Genauso wie sich rechte Streiks finden lassen, existieren auch dezidiert rechte Riots. Selbst wenn wir zwischen sich gegen den Staat richtenden Riots und Pogromen, die auf Minderheiten zielen, unterscheiden. 2014 führte eine Demonstration unter dem Motto „Hooligans gegen Salafisten“ zu umfassenden Straßenschlachten zwischen Rechtsextremen und Polizisten. Auf ihrem Höhepunkt gingen die Corona-Demonstrationen in Österreich qualitativ über „normale Gewaltaktionen“ im Zuge von sozialen Bewegungen hinaus. Angriffe auf die Polizei und auf Journalist:innen oder die versuchten Stürmungen von Krankenhäusern, um nur einige Beispiele zu nennen. Gerade in Situationen, in denen sich die Rechte als Feind des Status Qus initiiert, sind rechte Riots eine Möglichkeit. Ein spannendes Beispiel in diesem Kontext sind die französischen Gelbwesten, in denen rechtsextreme Kräfte anfangs eine Rolle spielten. Linke und insbesondere migrantische Organisationen waren entscheidend, um die extreme Rechte aus den Protesten zu verdrängen. Auffallend war jedoch auch, dass sich die Führerin der französischen Rechtsextremen Le Pen, als die Angriffe auf die Polizei zu massenhaft wurden, von den Gelbwesten distanzierte. Im Unterschied zur revolutionären Linken steht die extreme Rechte vor dem Problem, dass sie das Vertrauen der repressiven Teile des Staatsapparates Polizei-Militär nicht verspielen darf. Auf diese These, sobald die Polizei richtig attackiert wird, hat zumindest der parlamentarische Arm des Rechtsextremismus ein Problem mit Riots, sollten wir uns jedoch nicht ausruhen. Je instabiler die politische Lage und je stärker das pseduo-revolutionäre Gehabe von faschistischen Parteien ist, desto eher sind diese bereit, sich auch auf Konfrontationen mit der Staatsgewalt einzulassen.
Riots neue revolutionäre Epoche
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Riots Ausdruck einer Legitimatätskrise sind, welche durch ökonomische, geopolitische und klimatische Krisenprozesse begleitet und ausgedrückt wird. Während es der radikalen Linken durch Straßenproteste teilweise gelingt, diese Krisen zu politisieren, scheitert sie auf parlamentarischer Ebene daran, den Status Quo in Frage zu stellen. Die Riots zeigen auf rebellierende Bevölkerungsteile, deren Wut sich nicht durch die Mehrheitslinken ausdrücken kann. In den meisten Fällen stellt sich die Linke gegen die Rioter:innen, beschimpft sie als reaktionäre „Islamisten“ (Frankreich) oder noch schlimmer bemitleidet sie, als ungebildeten Pöbel. (Harvey England) Gegen diese Positionen sollte es uns darum gehen, die Riots weder zu mystifizieren noch zu verdammen, sondern sie als Ausdruck von Klassenkampf ernst zu nehmen. Die Frage ist im ersten Moment nicht, was die bessere Form von Protest ist – Riot, Demonstration, Streik, sondern die Analyse, welche Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit zu welchen Protestformen haben. Riots/Unruhen sind in diesem Kontext oftmals Vorboten von sozialen Krisenprozessen. Im zweiten Moment müsste revolutionäre Politik darauf abzielen, eine Verbindung zwischen den stattfindenen Unruhen und den organisierteren Teilen der Arbeiter:innenklasse offenzulegen.