Die Linke und die Religion
Muslime sind schon seit geraumer Zeit ein wichtiges politisches Thema in den westlichen Staaten geworden: Sei es als Verkörperung des Fremden, dem von der Gesellschaft das Gleichsein verweigert wird. Sei es als widerständige kopftuchtragende Frau, die stolz auf ihre eigene Identität und auf ihre Gleichwertigkeit innerhalb der Gesellschaft beharrt. Mit so viel Sympathie, wie in den letzten Wochen über die Flüchtlinge berichtet wurde, wurden muslimische Einwanderer wahrscheinlich noch nie in der Öffentlichkeit porträtiert. Und dieser Wandel hat natürlich seine Ursache in der massenhaften Solidarität, die den Flüchtlingen aus der Bevölkerung entgegen gebracht wurde.
Europas Regierungen haben ihre Haltung zu muslimischen Einwanderern aber nicht grundsätzlich geändert. Sie werden weiterhin versuchen, sie als Sündenböcke zu verwenden, um ihre politischen Projekte umzusetzen. Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, machte nur vor, was wir bald öfter zu hören bekommen werden: „Wir Ungarn wollen keine Parallelgesellschaften. Denn die Christen werden zahlenmäßig verlieren. Wenn man Muslime in unseren Kontinent lässt, werden sie bald mehr als wir sein.“
Dasselbe Spiel spielten schon im Frühjahr 2014 die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz. Man wolle vor allem Frauen und Kinder sowie verfolgte Christen aufnehmen, betonten beide den Medien gegenüber. Im Jänner 2014 kamen sie dann in die Kritik, weil sie 2013 zugesagt hatten, 500 syrische Flüchtlinge aufzunehmen und vier Monate später erst 155 von ihnen in Österreich angekommen waren.
Papst gegen Republikaner
Muslime und der Islam stehen zweifellos im Zentrum der Debatten über Religion, obwohl im Westen vor allem die christlichen „Fundamentalisten“ als wirklich einflussreiche politische Kraft gelten müssen. Aktuell zieht sie in den USA gegen Papst Franziskus ins Feld. Eine nüchterne Betrachtung der Auseinandersetzung zwischen Papst Franziskus und den konservativen Republikanern spricht Bände über die sehr unterschiedlichen Rollen, die Religion in der Gesellschaft einnehmen kann.
Die rechte Tea Party Bewegung sieht den Papst als Linken: Er sei für die Armen, für strengere Waffengesetze, für mehr Nächstenliebe mit Immigranten. Er nennt den Klimawandel eine vom Menschen verursachte Katastrophe und sei für unnütze Umweltschutzmaßnahmen. Er nennt sogar Kapitalismus beim Namen. Dabei ist der Papst in vielen Fragen, etwa der Sexualität und in Fragen von Glauben und Lehre stockkonservativ. Wollte man die Rolle von Religion verstehen, wäre es wenig hilfreich, sie aus einer Momentaufnahme von Papst Franziskus und seiner Äußerungen zu den umstrittenen Themen zu entwickeln.
Die katholische Kirche war für einige Jahrhunderte die wichtigste repressive Institution, die im Sinne der Herrschenden die Masse der Ausgebeuteten unterdrücken half. Sie war noch unter Papst Benedikt, dem Vorgänger von Franziskus, eine weitaus reaktionärere Kraft, als sie es heute ist. Und sie spielt heute unter verschiedenen Umständen eine völlig unterschiedliche Rolle.
Die katholische Kirche war für einige Jahrhunderte die wichtigste repressive Institution, die im Sinne der Herrschenden die Masse der Ausgebeuteten unterdrücken half.
In den USA sind sechs der Präsidentschaftskandidaten der Republikaner katholisch und erzreaktionär. Unter den indigenen Bauern Lateinamerikas wurde die Kirche zu einer Kraft, die Rebellionen inspiriert hat. In Chiapas, im Süden Mexikos, war die katholische Kirche unter dem Einfluss der Befreiungstheologie ein wichtiger Organisator des Aufstands der Zapatistas von 1994. Religion kann ganz offensichtlich beides sein: eine Kraft, die Fortschritt und Befreiung hemmt oder anspornt.
Religion: Mehr als Opium
Sobald sich irgendwelche Attentäter auf den Islam berufen, wie bei den Anschlägen auf Charlie Hebdo im Jänner diesen Jahres, werden zahlreiche Linke und Möchtegern-Marxist_innen komplett aus der Bahn geworfen, und versuchen die allgegenwärtige Kritik am Islam oder „den Muslimen“ mit marxistischen Weisheiten zu bereichern. Dabei wiederholen sie meist drei wirklich dumme Vorurteile über Marx: Erstens seien Marx und die Marxist_innen feindselig gegenüber Religion und wollten sie ausmerzen oder unterdrücken, so wie es unter Stalin der Fall gewesen sein soll. Zweitens: Marx betrachtete alle religiösen Vorstellungen ganz einfach als dumm und rückständig und trat ihnen mit Verachtung gegenüber. Drittens soll Marx alle Religionen und religiösen Vorstellungen als unabänderliche Partner und Werkzeuge der Reaktion und der herrschenden Klassen betrachtet haben.
Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Tatsächlich verteidigte Marx religiöse Menschen vor einer ignoranten Religionskritik. Und er verteidigte gute und interessante Religionskritik vor ihrer Entstellung durch Linke, die sie dazu missbrauchten, sich über andere zu stellen, im speziellen Fall eben über religiöse Menschen. 1844, als 25-Jähriger, schrieb Marx in der Einleitung zu seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den berühmten Satz: „Religion ist das Opium des Volkes“!
Tatsächlich verteidigte Marx religiöse Menschen vor einer ignoranten Religionskritik.
Wohlgemerkt meinte er nicht Opium für das Volk, sondern des Volkes! Das Volk ist nicht ein passiver Haufen, der machtlos gegen das von Herrschern und Priestern verteilte Opium (Religion) ist, sondern es bemächtigt sich der Religion und es verändert sie auch den Umständen entsprechend. Um das besser zu verstehen sollte man sich die Geschichte der Bauernkriege und Bauernaufstände in Erinnerung rufen, die zu Marx‘ Zeiten noch lebendige Geschichte waren.
Die Hussiten
Im späten Mittelalter eskalierten die Konflikte, die aus Ausbeutung und grausamer Unterdrückung der Bauern resultierten. Als Folge der Pestausbrüche zwischen 1347 und 1353 war die Bevölkerung Europas um ca. ein Drittel gesunken. Die überlebenden Bauern konnten ihre Stellung gegenüber ihren Leibherren verbessern – ein Fortschritt, den der Adel wieder rückgängig zu machen versuchte. Und vor allem zogen die europäischen Eliten gegeneinander in den Krieg. Sie steigerten die Ausbeutung ihrer Untertanen, um mehr Ressourcen für Waffen und Soldaten zu beschaffen, was die Wut der Bauern befeuerte.
In Böhmen gab es einen konzertierten Versuch des Adels, den Bauern traditionelle Rechte streitig zu machen. Die widerständigen Bauern versammelten sich unter religiösem Banner hinter dem jungen Priester Jan Hus. Er verlangte eine Liberalisierung der Kirche und seine Bewegung kam beinahe soweit, das religiöse Monopol der Kirche im 15 Jahrhundert zu brechen. Nach seiner Ermordung am Scheiterhaufen kam es zu Aufständen und zur Vertreibung des Klerus aus weiten Teilen Böhmens. Fünf Kreuzzüge wurden gegen die Hussiten gestartet, die alle zurück geschlagen werden konnten.
Der Pauker von Niklashausen
Hans Böhm war ein aus ärmsten Verhältnissen stammender Hirte, der das Schicksal der vielen Rechtlosen im deutschen Mittelalter teilte. Die Ärmsten empörten sich mittels religiöser Argumente wegen echter Ungerechtigkeiten über den Adel, die Schriftgelehrten und die Bischöfe. Böhm ging als Pauker von Niklashausen in die Geschichte ein, weil er 1476 den Entschluss fasste, gegen die Obrigkeit zu predigen. Ihm sei die Jungfrau Maria erschienen und habe ihn gewarnt, dass Gott die Menschen strafen werde.
In diesen Predigten griff er die Habgier des Adels und der hohen Geistlichen an. Die Jungfrau wolle, dass ein jeder seinen Lebensunterhalt mit eigener Hände Arbeit verdienen, und brüderlich mit den Bedürftigen teilen solle. Standesunterschiede, Abgaben und Frondienste seien abzuschaffen. Der private und hoheitliche Besitz an Feldern, Wiesen, Weiden, Wäldern und Gewässern seien in die Allmende (dörflichen Gemeinbesitz) zu überführen. Das klingt ganz ähnlich den im Kommunistischen Manifest formulierten Grundsätzen.
Böhms Predigten fielen auf fruchtbaren Boden. Die Bauern waren seit 1460 vermehrt in harten Konflikt mit den Großgrundbesitzern, den Rittern und Klöstern getreten. Kritik an den Eliten wurde auf religiöser Grundlage formuliert: sie verstießen mit ihrem zur Schau gestellten Reichtum und ihrer unbarmherzigen Ausbeutung der Bauern und der armen Stände gegen die Gebote Gottes. Bis zu 40.000 Menschen sollen Böhms Ruf gefolgt sein, ohne ihre Gutsherren oder die geistliche Obrigkeit um Erlaubnis zu bitten. Man traute ihm zu, dass er die Unglücklichen in einen siegreichen Krieg gegen die Herrschenden führen könnte und dass dann alle gemeinsam ein irdisches Paradies errichten könnten.
Religion wird von Marxisten ganz richtig als Suche nach einem Ausweg aus echtem Leid und echter Ungerechtigkeit in einer anderen Welt interpretiert. Aber religiös motivierte Befreiungsbewegungen bleiben meist nicht in der Religiosität stehen, sondern steuern – sobald sie den richtigen Schwung haben – direkt auf Abschaffung der Ungerechtigkeit auf Erden zu.
Religiös motivierte Befreiungsbewegungen bleiben meist nicht in der Religiosität stehen, sondern steuern – sobald sie den richtigen Schwung haben – direkt auf Abschaffung der Ungerechtigkeit auf Erden zu.
Was Marx in der 1844er Einleitung schrieb, erscheint im Kontext der Bauernkriege völlig aktuell: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“
Religion und Migration
Viele Aspekte von Unterdrückung erleben die Völker in den ehemaligen Kolonien Europas ganz ähnlich, wie die Einwanderer nach Europa aus islamischen Ländern sie hier erleben. Geht es nach den Predigern unkritischer Religionskritik, sollen diese Menschen neben allen materiellen Ungerechtigkeiten auch noch ihre Kultur und ihre Religion als minderwertig empfinden. Die Kultur und Religion der Unterdrücker stellt sich logischerweise als überlegen dar – ein klassisches rassistisches Gegensatzpaar: indem ich dich verächtlich mache, erhebe ich mich über dich.
Allerdings hatte und hat die gedemütigte Bevölkerung in den Kolonien eine Vision, an der sie sich orientieren kann: den Befreiungskampf um nationale Unabhängigkeit. Die zugewanderten Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Von ihnen wird verlangt, ihre als minderwertig dargestellte Kultur und Religion abzulegen, und sich der westlichen Kultur anzupassen. Gleichzeitig wird ihnen echte Gleichstellung, angeblich ein hohes Gut in der „westlichen Zivilisation“, verwehrt.
Es ist kein Wunder, wenn Zuwanderer eine Kultur verweigern, die ihnen verweigert wird.
Es ist kein Wunder, wenn Zuwanderer eine Kultur verweigern, die ihnen verweigert wird. Wenn junge Muslim_innen stolz ihre Kulturzugehörigkeit zur Schau stellen, wehren sie sich gegen die dauernde Herabsetzung.
Wenn angesichts solcher Widerstandskultur unter muslimischen Zuwanderern manche Linke daran scheitern, eine marxistische Position zu entwickeln, dann haben sie zwei revolutionäre Prinzipien nicht verstanden, die Lenin einfach und eindrucksvoll dargelegt hat. Das erste davon ist die prinzipielle Opposition zum bürgerlichen Staat. Niemals würden wir uns auf seine Seite stellen und mit ihm eine Kampagne gegen Kopftuchträgerinnen unterstützen, wie es Teile der französischen und türkischen Linken tun. Das zweite ist, dass die revolutionäre Partei immer versuchen muss, der „Tribun des Volkes“ zu sein, fähig Tyrannei und Unterdrückung in jeder Erscheinungsform entgegenzutreten. Wir haben aber nicht nur die Theorien von Karl Marx um auf die Gemeinheiten der herrschenden Eliten reagieren zu können. Wir haben auch die praktischen Erfahrungen der vielen Bewegungen von unten, die immer von internationaler Solidarität geprägt waren. Wir verlangen von niemandem, sich uns anpassen, wir schauen auf niemanden herab, der seine Kultur vor dem Druck sich anzupassen verteidigt.
Buchtipp: "Islam, Rassismus und die Linke"