Die vielen Gesichter nationalsozialistischen Gedankenguts

„Die vielen Gesichter nationalsozialistischen Gedankenguts müssen gemeinsam bekämpft werden“, schreibt Nann Karner in ihrem Leserinnenbrief. Unsere stärkste Waffe dagegen ist die Solidarität. Karner ist Aktivistin der Emanzipatorischen Behindertenbewegung und schreibt auf ihrem Blog uebersleben.net.
27. April 2018 |

Juden, Schwule, Ausländer, Moslems. Diese Gruppen assoziieren wir heute als erstes, wenn es um vom alten und neuen Nationalsozialismus ermordeten, verfolgten, ausgegrenzten und diskriminierten Menschen geht. Doch das menschenverachtende Gedankengut sitzt tiefer.

Beispiel 1: Die Tageszeitung Kurier berichtete vor kurzem, dass sich ein 70-jähriger Lehrer (er soll Politische Bildung an einer Wiener Berufsschule unterrichten) eine Tätowierung „Keine Reanimation“ stechen ließ mit der Begründung „Ich möchte nicht dann den Rest des Lebens als sabbernder Idiot verbringen.“ Auf die Frage nach seinem derzeitigen Gesundheitszustand soll er geantwortet haben: „Mir geht es allerbestens.“

Beispiel 2: In Deutschland hat die AfD mit einer Anfrage im Deutschen Bundestag heftige Reaktionen ausgelöst. Sie stellte Zusammenhänge zwischen Behinderung, Inzucht und Migrationshintergrund her.

Beispiel 3: Eine Frau soll laut etlichen kürzlichen Medienberichten den Beatmungsschlauch ihres Mannes, der im Sterben auf der Intensivstation lag, gezogen haben. Der Mann wollte angeblich nicht „an Schläuchen hängen“. Der Patient ist dadurch gestorben. Er hatte aber keine Patientenverfügung eingerichtet.

Beispiel 4: Auf der FPÖ nahen Plattform unzensuriert.at fanden sich laut Standard Menschen-verachtende Postings anlässlich des Outings von Conchita Wurst (HIV-Infektion): Eine Erkrankung sei „zu 99 Prozent selbstverschuldet.“ Beklagt wurde weiters „der enorme Berg an Kosten“, der „für die Allgemeinheit“ anfällt.

Propaganda-Plakat der Nazis. Dass wir die „Last der Flüchtlinge“ nicht mehr schultern können, hört man heute wieder.

Spätestens da müssen bei uns allen die Alarmglocken schrillen. „Hier trägst Du mit“ (siehe Bild) war 1940 auf einem sehr bekannten NS-Propaganda-Blatt zu lesen. Das darunter gezeichnete Bild hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.

Während der NS-Herrschaft mit ihrem verbrecherischen, abscheulichen „Euthanasieprogramm“ (T4-Aktion) und ihrer menschenverachtenden Einteilung in lebenswertes und lebensunwertes Leben wurden ca. 230.000 kranke Menschen ermordet. 70.000 von ihnen waren psychisch kranke und behinderte Menschen. Gemordet wurde übrigens auch noch über das Kriegsende hinaus. Die personellen, institutionellen und ideellen Kontinuitäten reichen bis heute.

Die alte Vision „Vom Neuen Menschen“ bekommt gerade in unseren Tagen immer wieder Aufwind. Die gesellschaftlichen Zielvorgaben heißen heute: „gesund, erfolgreich, schön.“ Altes Gedankengut ist heute mit dem Kapitalismus, dem Neoliberalismus und den rasanten Fortschritten im medizinischen und technologischen Bereich eine unheilvolle Koalition eingegangen. Leistung ist das was zählt. Unsere Kinder werden zuerst zu (Konsum-)held*innen gekürt und dann zu „Leistungsträgern“ geformt und dem Diktat von „Neuer Gerechtigkeit“, „Effizienz“ und Selbstoptimierung gestellt.

Was Biopolitik betrifft lassen sich Instrumentarien wie zum Beispiel „Präimplantationsdiagnostik“ oder (nur zum Teil sinnvolle) „Patientenverfügungen“ hervorragend zur Selektion und Reduktion unerwünschten Lebens gebrauchen. Auch die Diskussion rund um die sogenannte „Sterbehilfe“ ist eine verlogene und die Vision vom „Selbstbestimmten Sterben“ löst sich bei sachlicher Auseinandersetzung mit dieser komplexen Thematik in Luft auf. Das, wovor viele Menschen auch Angst haben, sind die oftmals unwürdigen Zustände, unter denen alte, pflegebedürftige, sterbende Menschen leben. Doch Umstände können gerade in dem reichen Österreich verbessert werden. Denn: Jedes Leben hat Würde, Wert und Recht. Jedes Leben hat den selben Lebenswert.

Es gibt kein „Selbstbestimmtes Sterben“. Das zeigt sehr gut die jahrzehntelange Diskussion und Entwicklung in den Niederlanden. Es gibt auch keine absolute Selbstbestimmung. Wir sind ein Teil der Gesellschaft. Ob wir wollen oder nicht. Alles ist miteinander verbunden. Im Kleinen wie im Großen. National wie Global. Schwarz mit Weiß. Jung mit Alt. Krank mit Gesund. Nord mit Süd. Ost mit West. Die „Anderen“ und „wir“. Und um in Frieden und möglichst gut auf dieser Erde zusammen leben zu können, müssen wir miteinander respektvoll umgehen, Menschenrechte allen gewähren und Verantwortung auf allen Ebenen wahrnehmen.

Die vielen Gesichter nationalsozialistischen Gedankenguts müssen gemeinsam bekämpft werden. Eine der stärksten Waffen ist: gelebte SOLIDARITÄT. Das Leben ist bunt. Und das ist gut so.

Buchtipp: Gerbert van Loenen, Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zu Fremdbestimmung führt

Nann Karner
uebersleben.net
Emanzipatorische Behindertenbewegung

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