Entfremdung im Kapitalismus
„Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer seines Lebens. Sie ist eine Ware, die er an einen Dritten zugeschlagen hat.“ (Lohnarbeit und Kapital, 1849) In seinen ersten Schriften konzentriert sich Karl Marx auf Entfremdung als den Kontrast zwischen der menschlichen Natur wie sie ist – entwurzelt, entstellt und entfremdet – und wie sie sein sollte. Er beschreibt uns Menschen als ein in Gemeinschaft lebendes Tier, das sich von anderen Tieren dadurch unterscheidet, dass es durch bewusste Arbeit seine Umwelt verändert.
Ob wir gemeinsam entschieden haben ein Stück Wald zu roden, ob wir eine Grube für die Jagd ausheben, oder komplizierteste Maschinen aus den Rohstoffen der Natur produzieren: Wir sind in Gemeinschaft produzierende Wesen. Das ist unser „Gattungswesen“ und genau davon sind wir entfremdet.
Ab 1850 widmet sich Marx der Untersuchung der wirtschaftlichen Mechanismen im Kapitalismus und beschreibt, wie sich das System nicht nur der Kontrolle der Arbeiter, sondern auch der Kontrolle der Kapitalisten entzieht. Dabei arbeitet er vier Auswirkungen von Entfremdung der Arbeit heraus.
1. Die Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit
Dieser Aspekt von Entfremdung sehr einfach erklärt. Ob wir Software entwickeln oder Autos bauen: Wir können die Produkte unserer Arbeit nicht mit nach Hause nehmen. Den Arbeiter_innen im frühen Kapitalismus des 18 Jahrhunderts, die oft vom Land vertriebene Bauern und Bäuerinnen waren, war das nur mühsam beizubringen: Tausende wurden dafür gehängt, dass sie Teile des Produzierten, das Werk oder auch nur den Abfall ihrer Arbeit aus den Werkstätten nach Hause nehmen wollten. Wenn ihnen dann das Produkt ihrer Arbeit am Markt wieder begegnet, ist es für sie meist unerschwinglich.
2. Die Entfremdung des Arbeiters vom Arbeitsprozess
Hier geht es um mehr als die Tatsache, dass wir nicht darüber bestimmen, wann wir aufstehen müssen und wie lange wir welche Arbeit verrichten müssen. Die Dynamik des Systems treibt die Aufteilung der Arbeitsprozesse in immer kleinere Einheiten voran und macht die einzelnen Arbeitsprozesse immer billiger. Der Wert der Arbeitskraft sinkt zumeist, weshalb die Bosse ein Interesse daran haben diese Spezialisierung anzufeuern. Die resultierenden monotonen Arbeitsschritte begraben die Kreativität der Produzent_innen. Der gesamte Arbeitsprozess ist vorherbestimmt und vom Management durchgerechnet. Die Arbeiter_innen sind niemals die „Herren“ über den Arbeitsprozess – im Gegenteil: Sie sind mechanische Teile eines mechanischen Systems.
3. Die Entfremdung des Arbeiters von seinem Mitmenschen
Wir treten untereinander auf verschiedene, vom herrschenden Wirtschaftssystem geprägte Arten in Kontakt. Einerseits sind wir Kolleg_innen, die zwar objektiv gemeinsame Interessen haben, diese aber im Normalfall nicht bewusst wahrnehmen. Unsere Beziehungen sind viel mehr davon bestimmt, dass im Kapitalismus alles zur Ware wird – auch unsere Arbeitskraft. Dann treten wir zueinander in Verbindung über die Waren, die wir konsumieren.
Unser Leben wird täglich von tausenden anderen Menschen berührt, die an der Produktion unserer Kleidung, Lebensmittel etc. beteiligt sind. Wir „kennen“ diese Menschen aber nur durch die Objekte, die wir konsumieren. Sie wurden nur für den Markt produziert, nicht für uns. Wir kennen uns nicht als Individuen, sondern als Erweiterungen des Systems. Die Waren anderer Produzenten begegnen uns in entpersonalisierter Form, unabhängig davon, wer sie produziert oder unter welchen Bedingungen – ob aus Kinderhand im Sweatshop oder in der kleinen Werkstatt.
Marx beschreibt schon Mitte des 19. Jahrhunderts, wie die Massenproduktion von Waren dazu führt, dass der „Markt“ ständig versucht neue Bedürfnisse in uns zu wecken: „Jeder sucht eine fremde Wesenskraft über den andern zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigenen eigennützigen Bedürfnisses zu finden.“ (Ökonomisch-philosophische Schriften, 1844) Ein weiterer Aspekt ist, dass Kapitalismus alles zur Ware macht, sogar zwischenmenschliche Beziehungen. Nirgends wird das deutlicher als am modernen „Heiratsmarkt“ oder den „Partnerschaftsbörsen“.
Schließlich stehen Bosse und Beschäftigte in antagonistischer Beziehung zueinander: „Wenn er sich zu seiner eignen Tätigkeit als einer unfreien verhält, so verhält er sich zu ihr als der Tätigkeit im Dienst, unter der Herrschaft, dem Zwang und dem Joch eines andern Menschen.“
4. Entfremdung von unserer eigenen menschlichen Natur
Der vierte Aspekt ist Entfremdung von dem, was Marx unser „Gattungswesen“ nannte. Was uns zum Menschen macht, ist die Fähigkeit unsere Umwelt bewusst zu gestalten – durch einen Arbeitsprozess. Allerdings ist uns Arbeit im Kapitalismus aufgezwungen und nimmt keine Rücksicht auf unsere Neigungen oder Bedürfnisse. Menschen sind soziale Wesen. Wir haben die Fähigkeit kollektiv zu entscheiden und zu handeln um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und unsere Anliegen voranzutreiben.
Im Kapitalismus wird diese Fähigkeit durch den anarchischen Trieb zur Profitmaximierung in sein Gegenteil verkehrt. Wenn wir die Produktionsbedingungen im Kapitalismus verbessern, dann steigt damit nicht etwa unser Lebensstandard, sondern es führt zu Entlassungen, Entwertung von Arbeitskraft und gesteigertem Arbeitsdruck. Wir können uns unserer Fähigkeiten nicht erfreuen, sondern empfinden sie als Bedrohung.
Wie Kapitalismus alle Bereiche durchdringt
Wie anfangs schon erwähnt ist die Beobachtung und Darstellung der Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen der Ausgangspunkt für den jungen Marx. Später widmet er sich der Untersuchung der Verhältnisse und wirtschaftlichen Beziehungen, die diese Entfremdung produzieren. Als Grundproblem stellt sich die kapitalistische Produktionsweise für den freien Markt – anstatt für einen unmittelbaren Bedarf – dar. Waren werden sozusagen blind produziert – in der Hoffnung, dass sie am Markt Käufer finden.
In Krisen müssen wir schmerzhaft erleben, dass das nicht immer der Fall. Wenn Waren keine Käufer finden, wird die Produktion eingestellt, auch wenn es weiterhin Millionen Menschen gäbe, die diese Gegenstände oder Lebensmittel benötigen würden. Wir produzieren keine Anlagen zur Energieproduktion, wenn sie keine Profite erwirtschaften. Kapitalisten vernichten Lebensmittel lieber, bevor sie sie Bedürftigen geben, wenn sie keinen Wert daraus schöpfen können.
Woher kommt der Wert?
Alles dreht sich also um Werte. Wie diese Werte zustande kommen, ist durch die Entfremdung von der Produktion allerdings wirksam verschleiert worden. Kapitalismus erscheint uns immer in seiner mystifizierten Form – als ein System, das vom Warenaustausch geschaffen wurde. Die tatsächlich zugrunde liegende Beziehung zwischen produzierender Klasse und ausbeutender Klasse, zwischen Besitzlosen und Eigentümern von Produktionsmitteln enthüllen aber erst, wie Werte tatsächlich zustande kommen.
Waren haben – ohne hier näher darauf eingehen zu können – einen Tauschwert und einen Gebrauchswert. Der Tauschwert ist eine Wiederspiegelung der Arbeitszeit, die in der Produktion einer Ware steckt. Es ist die Ausbeutung von Arbeit, die für den Tauschwert bestimmend ist. Der Kapitalist ist ständig bemüht, die notwendige Arbeitszeit zu verkürzen und so die Produktion günstiger zu gestalten. Für uns als Konsumenten ist der Gebrauchswert einer Ware entscheidend – am Markt ist lediglich der Tauschwert von Bedeutung. Zum Beispiel hat saubere Luft und ein gesundes Klima einen enormen Gebrauchswert für die Menschheit. Für unser derzeitiges Wirtschaftssystem sind diese Dinge allerdings nahezu bedeutungslos – sie haben schließlich keinen Tauschwert und können nicht am Markt gehandelt werden.
Warenfetischismus
Alles was wir erreichen, schaffen oder produzieren erleben wir als Anhäufung von Waren. Die Mitglieder der Gesellschaft werden danach beurteilt, welche Waren sie sich aneignen können. Ich kann ungeschickt sein, geistlos oder unehrlich – da aber Geld das höchste Gut darstellt, ist sein Besitzer darüber erhaben. Marx schrieb: „Wer die Macht über die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? … Ich bin hässlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht hässlich, denn die Wirkung der Hässlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet .. Ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer.“ Und Goethe zitierend: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann: Sind ihre Kräfte nicht die meinen?“
Marx würde es kein bisschen verwundern, dass Jugendliche alles daran setzen, bestimmte Markenartikel zu besitzen oder Arbeiter sich große Autos kaufen, die ihr Erspartes auffressen. Warenfetischismus ist eine Seite von Entfremdung, die ebenso aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringt wie die Ohnmacht der Menschen über ihr eigenes Schicksal. Können wir dem entfliehen, wenn wir auf Konsum verzichten oder uns in ein Leben in einer Kommune zurückziehen?
Überwindung
Zahlreiche Firmen versuchen ihre Belegschaft zu motivieren, indem sie ihnen Mitsprache bei Planung und Verwaltung einräumen. Von der 1968er-Bewegung bis heute versuchen sich Menschen den Zwängen der Konsumgesellschaft und der Arbeitswelt zu entziehen, indem sie alternative Lebensformen annehmen. Zurück zur Lebensweise vorkapitalistischer Gesellschaften wie jener der Indianer Nordamerikas, war ein einflussreicher Trend unter vielen „Aussteigern“.
Es ist aber ein völliges Missverständnis von Marx’ Theorie der Entfremdung einen Ausweg auf individueller Basis zu suchen. Wie Marx nachweisen konnte, ist keiner von uns von der gesellschaftlichen Produktionsweise unbeeinflusst, egal ob er oder sie direkt Waren produziert oder indirekt von dem Mehrwert lebt, der aus der Warenproduktion anfällt.
Der Mensch ist ein „zoon politicon“, ein in Gemeinschaft lebendes Wesen: Entfremdung ist kein spezifisches psychologisches Phänomen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis, das aus der Produktionsweise unserer Lebensverhältnisse entspringt. Erst wenn wir Menschen die Ketten kapitalistischer Herrschaft zerbrechen und die Herrschaft über die Produktion erlangt haben, beginnen wir damit Entfremdung zu überwinden.