Flüchtlinge auf den Kanaren: Weitere Gefängnisinseln der EU
Anfang November kamen an einem einzigen Wochenende mehr als 2.200 Flüchtlinge auf Gran Canaria an. Tage- und nächtelang mussten sie am Hafen ausharren, Polizei und Zäune hielten sie dort fest. In Mógan, einer Hafenstadt auf Gran Canaria, werden die Menschen in das Lager Arguineguín gesperrt, das eigentlich nur für 400 Menschen ausgerichtet ist – mittlerweile hausen dort mehr als 2.300 Flüchtlinge. Nur wenige Journalist_innen haben bisher Zutritt zum Lager erhalten. Meist werden sie von Zäunen abgehalten, zahlreiche Polizeibusse versperren die Sicht. Mitarbeiter_innen des Flüchtlingsrates von Gran Canaria berichteten: „Alle Bewohner müssen auf dem Boden schlafen. Einige kommen in den Zelten unter, anderen schlafen einfach unter freiem Himmel.“
Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bekam im September Zugang zum Lager. Sie beschreibt völlig chaotische Zustände: einige Flüchtlinge wurden positiv auf das Coronavirus getestet, sie wurden jedoch nicht isoliert untergebracht. 30-40 Menschen teilen sich eine Toilette, auf Distanz gehen ist hier nicht möglich. Alleinreisende Frauen und Mädchen bekommen keinen Schutz. Die Menschen haben kaum Zugang zu rechtlicher Beratung (erst in den letzten Tagen wurden freiwillige Anwälte ins Lager gelassen) – usw.
Erzwungene Todesrouten
Gran Canaria gehört zur Gruppe der Kanarischen Inseln, die vor der Küste Nord-Westafrikas liegt. Die kürzeste Entfernung – von der Insel Fuerteventura nach Marokko – beträgt gerade einmal 115 km. Geografisch gehören die Kanaren zum afrikanischen Kontinent, politisch jedoch zum rund 1.000 km entfernten Spanien, und damit zur EU. Von Westafrika aus, v.a. von Marokko, Guinea und dem Senegal, nehmen die Menschen die Überfahrt mit meist ausrangierten Fischerbooten über den Atlantik in Kauf. Die sogenannte „Atlantikroute“ zählt mittlerweile zu den tödlichsten Fluchtrouten weltweit, jeder 16. Mensch überlebt die Fahrt nicht.
Trotzdem müssen immer mehr Menschen diesen Weg wählen: Abkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten – z.B. schloss Marokko mit spanischer Hilfe die Straße von Gibraltar, den schmalen Meeresstreifen zwischen den beiden Ländern –, die Bekämpfung der Seenotrettung im Mittelmeer sowie die Situation in Lagern wie dem griechischen Moria (seit dem Brand Kara Tepe) lassen ihnen keine andere Wahl.
Onalia Bueno, die Bürgermeisterin von Mogán, fühlt sich wie viele andere von der spanischen Zentralregierung im Stich gelassen. „So viele Entscheidungsträger und Vertreter internationaler Institutionen haben den Ort in jüngster Zeit besucht. Trotzdem haben wir bis heute keine Ahnung, was eigentlich die Strategie unserer Regierung ist, um die Krise auf den Kanaren zu bewältigen.“ Immerhin waren spanische Seenotrettungsschiffe im Einsatz und ein Teil der Flüchtlinge wurde in ohnehin leerstehenden Hotels untergebracht – Journalist_innen sind aber auch dort nicht zugelassen. Doch die Forderung, Flüchtlinge aufs Festland zu bringen, ignoriert Spanien. Stattdessen setzt die Regierung auf den Bau weiterer Lager und Rückführungsabkommen, die derzeit mit Marokko und dem Senegal verhandelt werden. Die EU hat derweil Frontex auf die Kanaren geschickt – jene Flüchtlingsabwehr-Truppe, der regelmäßig illegale Push Backs und Misshandlung von Flüchtlingen nachgewiesen werden.
Unerwünscht in Spaniens Kolonien
Vor allem mit Marokko arbeitet Spanien schon lange eng zusammen, es gehört zu den wichtigsten Handelspartnern der nordafrikanischen Monarchie: Die meisten seiner Importe bezieht Marokko aus Spanien, v.a. Industriegüter. Im Gegenzug fließen Gelder u.a. für den Grenzschutz und „Verbrechensbekämpfung“ von Spanien nach Marokko. Die enge Verbindung der beiden Länder liegt auch in der kolonialen Vergangenheit begründet: Spanien und Frankreich hatten Marokko im 19. Jahrhundert besetzt, erst 1956 (bzw. der südliche Teil von Spanisch-Marokko 1958) konnte Marokko seine Unabhängigkeit zurückerkämpfen. Davon ausgenommen ist die sogenannte Plaza de soberanía, ein kleines Gebiet im Norden Marokkos, das bis heute zu Spanien gehört – und damit auch zur EU. Die dortigen Städte Ceuta und Melilla sind jedoch vom Schengen-Raum ausgenommen. Das bedeutet, dass von dort kommende Flugzeuginsassen nicht einfach in die EU einreisen können. Neben der Schließung der Straße von Gibraltar also eine weitere Sackgasse für Flüchtlinge.
Auch die Kanarischen Inseln sind durch Besetzung (im 15. Jahrhundert) in den Besitz Spaniens gelangt. Sie gehören zur EU und sogar zum Schengen-Raum – eine legale Weiterreise ist für Flüchtlinge von dort aber dennoch kaum möglich. Die meisten von ihnen werden als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft (die Corona-Pandemie hat die Arbeitslosigkeit noch verstärkt), sodass sie kaum eine Chance auf Asyl haben. Die Menschen des afrikanischen Kontinents haben also keinen Vorteil von den von der EU annektierten Inseln direkt vor ihren Grenzen – die EU schon.
Steuerparadies Kanarische Inseln
Um die Wirtschaftsleistung der Kanarischen Inseln zu steigern – deren Hauptsektor liegt in der unsicheren Tourismus-Branche – einigte sich die EU auf steuerliche Sonderregeln. Auf den Kanaren sind nur 4% Körperschaftssteuer (Steuer auf Gewinn) zu entrichten, anstatt, wie in Spanien, 30%. Die Kanaren sind ein wahres Steuerparadies für Unternehmen! Auf verschiedenen Webseiten werden europäische Unternehmen angeworben, Firmensitze auf die Kanaren zu verlegen. Die Hürden sind lächerlich: Um als ZEC (Zona Especial Canaria)-Unternehmen zu gelten, ist auf den Inseln Gran Canaria und Teneriffa eine Investition von 100.000 Euro und die Schaffung von fünf Arbeitsplätzen nötig. Auf den übrigen Inseln sind 50.000 Euro bzw. drei Arbeitsplätze ausreichend.
Der „Dienstleister“ Canary Islands Hub. European Business Hub In Africa (Europäisches Geschäftszentrum in Afrika) bewirbt den Standort mit Slogans wie: „Mit all der Infrastruktur, den Dienstleistungen und Vorteilen des europäischen Lebensstils bieten die Kanarischen Inseln eine privilegierte geostrategische Position, um effizient in Afrika zu operieren.“ Gefördert wird diese Dienstleistung ganz offen von der EU. Mit dem Projekt AEIP (Africa Europe Innovation Partnership) veranstaltete die Europäische Kommission über dieses Jahr verteilt Workshops und Vorträge, um solche Unternehmen zu unterstützen. Interessierte Teilnehmer sollten „helfen“, technische Lösungen für die bessere wirtschaftliche Zusammenarbeit von afrikanischen und europäischen Unternehmen zu erarbeiten – explizit aufgeführt wird dabei auch die Entwicklung von technischer Ausrüstung für Polizei und Securities.
Flucht als Klassenfrage
Die europäische Wirtschaft profitiert von der „strategischen“ Position auf den Kanaren, indem sie sich Zugang zu den Bodenressourcen, der Arbeitskraft und den Märkten des afrikanischen Kontinents verschafft und gleichzeitig Flüchtlinge mit Technologie abwehren lässt, die sie selbst an afrikanische Staaten verkauft. Sowohl die Kanaren als auch Afrika wurden im Laufe der Jahrhunderte von europäischen Ländern brutal unterworfen, ausgebeutet und kolonialisiert.
Im modernen Imperialismus hat sich an diesen Herrschaftsverhältnissen wenig verändert. Allerdings profitieren nicht nur die europäischen Regierungen und Unternehmen, sondern auch die Herrschenden (die meisten von ihnen Diktatoren) der afrikanischen Staaten. Die Leidtragenden sind die Menschen der arbeitenden Bevölkerung. Sie sind es, die die Fahrt über den Atlantik auf sich nehmen, mit ungewissem Ausgang. So wie Bah aus dem Senegal: „Wir kennen das Risiko. Aber wir müssen einfach nach Europa. Im Senegal ist es sehr hart, da kannst du einfach nichts mehr verdienen. Deswegen hofft meine ganze Familie, dass ich es in Europa schaffe.“ Sie sind es, vor deren Augen Familien und Freund_innen ertrinken. Und sie sind es, die am Hafen der Ferieninsel Gran Canaria an ihre Grenzen gehen, um dieses unfassbare Leid zumindest ein wenig zu lindern; Wasser verteilen, verzweifelte Menschen trösten. „Wir sind auch nur Menschen, und wir sehen, in was für einem schlechten Zustand sie sind. Körperlich wie seelisch. Sie treiben tagelang auf dem Meer und haben oft sogar noch Tote mit im Boot“, erzählt Jose Antonio Rodriguez vom spanischen Roten Kreuz.
Filmtipp: ARTE-Doku: Die Kongoakte – Aufteilung des „schwarzen Kontinents