Frankreich 2022 – Faschismus macht erschreckende Fortschritte
Alle Zutaten, die historisch zu Faschismus geführt haben, sind vorhanden. Tiefe soziale Krisen, Krieg, zügelloser Rassismus, und eine kapitalistische Gesellschaftsordnung, die keinen Ausweg aus diesen Krisen weisen kann. Die soziale Krise kann sich jederzeit katastrophal vertiefen und den Schwung in die faschistische Bewegung bringen, den der Börsencrash von 1929 für den deutschen Faschismus bedeutet hat. Wer kann schon sagen, welche Katastrophen bis zu den nächsten Wahlen über die Welt hereinbrechen. Damit wollen wir keinem Fatalismus das Wort reden – im Gegenteil: wir müssen gewarnt sein, uns wappnen und die Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Denn auch Hitlers Machtergreifung hätte vermieden werden können, hätten die Zeitgenossen die Bedrohung verstanden, die von faschistischen Bewegungen ausgeht.
Zeitgemäßer Faschismus
Marine Le Pen hat sich offiziell von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen, der sich öffentlich diskreditiert hat, distanziert. Ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen hat sie verraten und ist zu dem Identitären Éric Zemmour übergelaufen. Marine Le Pen konnte sich deshalb als die geradlinige Vertreterin der extremen Rechten darstellen und wird als Opfer von Familienfehden gesehen. Sie unterschlägt sogar ihren Nachnamen und tritt schlicht als Marine oder noch heimlicher nur als M in der Öffentlichkeit auf. Aber für alle die es wissen wollen, ist sie die stolze politische Erbin ihres Vaters. Dem Fernsehsender BFM erklärte sie stolz und belustigt, dass ihr Vater an ihrer Seite in den Élysée-Palast einziehen würde, sollte sie Präsidentin werden. Jean-Marie Le Pen ist der archetypische französische Faschist: ein Offizier, der während des algerischen Befreiungskriegs selbst gefoltert hat, ein Antisemit und Holocaustleugner, der die Gaskammern der Nazis ein bloßes Detail der Geschichte nennt, ein Muslimenhasser und ein Bewunderer von Marshal Pétain, dessen Vichy-Regime den Nazis half 70.000 jüdische Franzosen in die KZs zu verschleppen.
Macrons Beitrag zu Le Pens Erfolg
Marine Le Pen ist moderner als ihr Vater, ihr Rassismus konzentriert sich auf die muslimische Bevölkerung, und dabei hat sie mit sehr wenig Gegenwind zu rechnen. Islamophobie ist in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich tiefer verankert und noch stärker als in Österreich. Nur kann Rassismus alleine ihren Erfolg nicht erklären. Eine tragende Säule ihres Erfolgs ist ihre EU-Gegnerschaft und eine zweite Säule ist die neoliberale Politik des amtierenden Präsidenten Macron und seiner Vorgänger. Macron hat bald nach seinem Amtsantritt massive Angriffe auf die Bahnarbeiter gestartet, den Zugang zu den Universitäten eingeschränkt, das Pensionssystem ausgehöhlt, und kürzlich den Zugang zur Sozialhilfe eingeschränkt. Mit 21,7 Prozent hätte der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon es beinahe vor Marine Le Pen (24 Prozent) in die Stichwahl geschafft. Aber die Linke ging mit mehreren Kandidaten ins Rennen, weil man sich mit Mélenchon nicht auf das weitere Vorgehen einigen konnte. Immerhin dürfte die Linke bei den kommenden Parlamentswahlen sehr stark abschneiden.
Unvergessen und für viele unverzeihlich ist Macrons brutales Vorgehen gegen die Gelbwesten-Bewegung. Seine Politik hat massiven Widerstand provoziert, zuletzt die noch anhaltenden Proteste der Studierenden. Sie haben sich in der Sorbonne verschanzt und in der ENS-Jourdan, in Creteil, Paris 4, Paris 7, Paris 8, Nanterre, Paris-Saclay, Sciences Po Paris, Toulouse, Rennes, Bordeaux and Lyon. Ihr Protest richtet sich gegen die miese Auswahl zwischen einem Ultraliberalen und einer Faschistin. Die Behörden haben eine Spezialeinheit der Pariser Polizei, die gegen die Gelbwesten aufgebaut wurde, gegen sie eingesetzt. Die Brutalität der Einsätze ist bemerkenswert und macht verständlich, warum sich so viele junge Wählerinnen und Wähler nicht durchringen können, Macron ihre Stimme zu geben. Ein Schüler sagte gegenüber einer französischen Zeitung: „Die Wahl stellt einen Ultraliberalen und einen Faschisten einander gegenüber. Sie sollten nicht gleich behandelt werden.“ „Aber beide präsentieren Programme, die uns unterdrücken, also wollen wir eine nationale Bewegung schaffen, die den Status quo in Frage stellt.“
Wahlpolitik schränkt ein
Die jungen Protestierenden haben absolut recht. Wer Faschismus verhindern will, muss sowohl die Faschisten frontal angreifen als auch die herrschende Politik, die ihren Aufstieg erst möglich gemacht hat. Sich auf eine Politik der nationalen Einheit gegen die Faschisten zu reduzieren, wäre ein fataler Fehler. 1932 hat die SPD bei den Präsidentschaftswahlen Hindenburg gegen Hitler unterstützt. Hindenburg hat „Hitler verhindert“, um ihn kurz danach an die Macht zu hieven, als er keine andere Möglichkeit mehr sah, den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Sparprogramme zu zerschlagen. Zehn Jahre zuvor haben sich der liberale Flügel der italienischen Sozialdemokraten auf die Liberalen verlassen, sie vor Mussolini zu beschützen. Kurz darauf, im Oktober 1922 unterstützten die Liberalen Mussolinis erste Regierung.
Die Bedrohung verstehen
Es ist faszinierend, wie die aktuellen Krisen alte Fragen wieder relevant machen. In der Zwischenkriegszeit stritten die antifaschistischen Kräfte ganz ähnlich wie heute darüber, welche die beste Strategie gegen die Faschisten wäre. Genau wie heute gab es die Verharmloser, die nicht glauben wollten, dass die liberalen Demokratien weggefegt werden könnten. Genau wie heute gab es Appelle von allen Seiten, sich auf die Staatsmacht als Beschützerin zu verlassen. Aber ein nüchterner Beobachter hat auch damals schon sehen können, dass es im Staatsapparat nicht wenige Sympathien für den Faschismus gab, dass sie dieselben Feindbilder einten, der Hass auf die Linken und im Falle Deutschlands, Frankreichs und Österreichs, der Hass auf die Juden.
Strategie der Hoffnung
Leo Trotzki hat sich in den 1930er-Jahren unermüdlich dafür eingesetzt, dass alle Arbeiter_innen, ob sozialdemokratisch oder kommunistisch, eine Einheitsfront im Kampf gegen Faschismus bilden müssten. Nicht nur, dass eine solche Einheitsfront zahlenmäßig den Faschisten überlegen gewesen wäre, sie hatte mit dem Mittel des Streiks eine Waffe in der Hand, die auch den Staat hätte herausfordern können. Der Kampf einer Arbeiter_innen-Einheitsfront ist die Strategie der Hoffnung, weil in jedem Streik der Embryo einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft liegt, weil er zeigt, wie die Selbstorganisation der Werktätigen funktionieren kann. Das bedeutet, dass wir Linken uns nicht auf elektorale Politik beschränken dürfen, unser Platz ist auf der Straße, in den Betrieben, den Schulen und Universitäten, um entschlossene Protestbewegungen aufzubauen.