Geschichte verstehen

„Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ (George Orwell, 1984) Geschichtsschreibung darf nicht den Herrschenden überlassen werden, wir müssen unsere eigene Geschichte entdecken.
26. Februar 2016 |

Die Herrscher aller Epochen haben die Geschichtsschreibung nach ihren eigenen Interessen ausgerichtet. Ob moderne Geschichtsschreibung oder die ersten Schrifttafeln der frühen Zivilisationen, eines verschweigt die offizielle Geschichte so gut wie immer: die Fähigkeit der Masse der einfachen Menschen den Verlauf der Geschichte zu beeinflussen.

Alternative Geschichtsschreibung ist etwas interessanter als der normierte Geschichtsunterricht: man denke nur an die zahllosen Varianten der Robin Hood-Geschichte, an Räubergeschichten, an die Mythen über den Rebellenführer Joß Fritz oder an Volkssagen und Märchen. So haben wir einfachen Menschen unsere eigene Geschichte festgehalten.

Besonders zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen ab dem 17. Jahrhundert und vermehrt seit 1848 wurde „Geschichte von unten“ aufzuschreiben zu einer Waffe im Kampf gegen die alte feudale Gesellschaft. 1848 war das Jahr der großen bürgerlichen Revolutionen in Mittel- und Westeuropa. Im Zuge dieser Bewegung stieg natürlich das Interesse an vergangenen Revolutionen. Man musste das verborgene „Know How“ über Bürgerkriege und Aufstände wieder ausgraben.

1841 entstand das wegweisende Werk „Der große deutsche Bauernkrieg“ von Wilhelm Zimmermann, 1851 erfuhr es eine Volksausgabe. Thema ist der Bauernkrieg von 1525, die bis dahin gewaltigste Erhebung gegen die herrschende Ordnung und deshalb ein Markstein für alle revolutionäre Menschen, die danach kamen. Friedrich Engels liebte Zimmermanns Werk und schrieb selbst im Sommer 1850 „Der deutsche Bauernkrieg“, in dem er das Scheitern der Revolution von 1848 im Lichte von 1525 betrachtete. Er nannte den Bauernkrieg den „Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte“. Einen weiteren großen Aufschwung erlebte die Geschichtsschreibung von unten mit der Pariser Kommune von 1871. Herausragend ist dabei sicherlich Karl Marx’ „Der Bürgerkrieg in Frankreich“.

Zur Zeit der russischen Revolution hatten sich schon dutzende alternative Geschichtsschreiber heraus gebildet. Lenin, Trotzki, John Reed und Otto Bauer sind wichtige Vertreter. berntSpäter wurde Bernt Engelmann in Deutschland populär, dessen wichtigstes Werk den bezeichnenden Untertitel „Ein Deutsches Anti-Geschichtsbuch“ trägt.

Der australische Archäologe Gordon Childe muss ebenfalls genannt werden, weil er richtungsweisend in der Weiterentwicklung einer marxistischen Schule der Geschichtsschreibung war. Gemeinsam ist allen Genannten, dass sie die Geschichtsschreibung nicht aus Sicht der herrschenden Eliten ihrer Zeit betrieben, sondern aus dem Blickwinkel der Unterdrückten.

Robin Hood und die Räuber

Für die Räubergeschichten gibt es historische Grundlagen, die im Laufe der Zeit, wenn populäre Geschichten von den Eliten übernommen wurden, dann oft entschärft oder überhaupt weggelassen wurden. Im Mittelalter waren Bäuerinnen und Bauern verpflichtet einen Anteil ihrer Ernte an die Feudalherren abzuliefern und Dienste zu verrichten. War die Bauersfamilie dazu nicht imstande oder weigerte sich, dann wurde die ganze Familie vertrieben und war damit dem Hungerstod ausgesetzt. Auch waren Bauernaufstände keine Seltenheit. Die Rache der Ritter und der Kirchenfürsten war grausam. Männer wurden zu Tausenden hingerichtet, die Frauen und Kinder von den Höfen vertrieben. Die Straßen waren gesäumt von den Leichen der Verhungerten und Erfrorenen. Die Geschichten von Räubern, die den Reichen auflauern, und vielleicht sogar noch den Armen gaben, sind spannend und sie befriedigen auch etwas unseren Wunsch nach Klassenrache.

Aber die Entwicklungen zu betrachten, die dazu geführt haben, und auch noch Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, das ist die wirkliche Herausforderung für die Historiker_innen. Bleiben wir bei dem Beispiel von Bauern und Rittern. Wir nennen dies eine feudale Gesellschaft. Ihr Hauptmerkmal war, dass die produzierende Klasse, die Bauern und Bäuerinnen, nicht frei über das entscheidende Produktionsmittel, den Boden, verfügen konnte. Den Boden haben sich die Feudalherren dank ihrer Waffengewalt angeeignet. Diese Beziehung steckt auch ohne Bauernaufstand voller Konflikt. Eine Seite wird ständig unterdrückt und ausgebeutet, während die andere Seite sich ständig darum bemüht ihre Herrschaftsansprüche abzusichern und gleichzeitig in Konkurrenz zu anderen Feudalherren existiert.

Diese Konflikte sind ein unausweichlicher Bestandteil aller Klassengesellschaften seit ihren Ursprüngen und sie sind der Motor für die Veränderungen, die wir menschliche Geschichte nennen. Sie sind unausweichlich, weil keine der beiden Seiten, ihn einfach abstellen kann.

Stillstand ist nur scheinbar

Sollte der Ritter aus irgendeinem Grund seinen Untergebenen die Freiheit schenken und die Verfügungsgewalt über den Boden dazu, dann fehlen ihm die Mittel um Soldaten zu bewaffnen. Ein Konkurrent wird diesen Besitz überrennen und sich wieder der erzwungenen Arbeit durch Bauersfamilien bedienen. Deshalb wird der Ritter die Ausbeutung der Bauern so weit intensivieren, wie es die technischen Mittel erlauben und wie es die politischen Verhältnisse diktieren. Er wird versuchen keinen Aufstand zu provozieren, aber Kriege oder andere Entwicklungen können ihn dazu veranlassen die Ausbeutung ins Unerträgliche zu steigern. Man erkennt bei Betrachtung der Feudalgesellschaft recht bald, dass es Gesetzmäßigkeiten im Geschehen zu entdecken gibt.

Erstens kann man die Beziehungen zwischen den Menschen jeder Epoche am besten verstehen, wenn man sich die Art und Weise ansieht, wie sie für ihr Überleben mit der Natur interagieren. Das hängt vor allem von unseren Fähigkeiten und von unseren Werkzeugen ab. Im europäischen Mittelalter waren Eisenwerkzeuge allgemein verfügbar, relativ effiziente Pflüge, große Haus- und Arbeitstiere, Mühlen, Wägen und Schiffe. Zweitens kann man beobachten, wie Veränderungen der Produktionsmethoden und neues Wissen nach einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangen und wie es dadurch zu immer größeren Widersprüchen zwischen den (verfeindeten) Klassen kommt.

Es gab über eine lange Zeit nur sehr wenige, kleine Fortschritte. Doch irgendwann häufen sich quantitative Veränderungen und schlagen in qualitative Veränderungen um, das ist eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die der deutsche Aufklärungsphilosoph Hegel sehr betont hat. Den Unterdrückten muss die menschliche Existenz als ein unveränderliches Elend erschienen sein. Die Vorfahren waren in denselben Kreisläufen gefangen, und die eigenen Kinder waren auch verdammt dazu, ihr Leben lang unfrei für einen Herren zu schuften.

Diese Wahrnehmung der Realität war die Grundlage für eine dazu passende Ideologie, in diesem Fall die katholische Religion: Gott wollte, dass die Unterdrückten ihr Elend geduldig hinnehmen. Erlösung erwartete einen erst im Jenseits, wo „alle Könige sich vor ihm niederwerfen“ werden (Psalm 72:11 im Alten Testament).

Basis und Überbau

Solche Ideologie, später aber auch die Gesetzgebung oder die Staatsform, ist der politische und ideologische Überbau einer Gesellschaft. Die Möglichkeiten die Lebensmittel zu erzeugen, nennt man die wirtschaftliche Basis. Anders gesagt, wenn wir eine Gesellschaft verstehen wollen, oder einen historischen Moment, wie eine Revolution oder einen Krieg, dann müssen wir einerseits wissen, welche Produktionsverhältnisse herrschen. Zum richtigen Verständnis brauchen wir andererseits aber auch einen Einblick in die politischen Verhältnisse einer Zeit und in ihre Ideologie.

Umgekehrt betrachtet, wäre es ziemlich unsinnig sich zu fragen warum die Bäuerinnen und Bauern im Mittelalter nicht einfach den Gehorsam verweigert oder die Ritter abgewählt oder sich einen anderen Arbeitsplatz gesucht haben. Basis und Überbau im frühen Mittelalter haben die Möglichkeiten dazu nicht geboten. Für uns ist wichtig festzuhalten, dass beide wirksam sind – die ökonomische Basis und der ideologisch politische Überbau – aber „nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens.“ (Friedrich Engels, 1890) Das ist leicht einzusehen: In der Steinzeit hätte sich niemand zum Ritter aufschwingen können, denn das Wissen und die Werkzeuge (die Produktivkräfte) existierten nicht um Landwirtschaft zu betreiben. Im frühen Mittelalter konnte man nicht einfach den Arbeitsplatz wechseln, es gab noch keine Lohnarbeit.

Und im Kapitalismus können wir Gleichheit der Menschen zwar erträumen, die Mittel (Überflussproduktion) sind vorhanden, aber erreichen können wir sie nicht, solange die politischen Verhältnisse (der Überbau) die Ungleichheit beschützen.

Daraus ergibt sich natürlich, dass wir als Sozialist_innen den Verlauf der Klassenkämpfe nicht dem Zufall überlassen dürfen. Deshalb organisieren wir uns und versuchen, das Geschehen zu beeinflussen. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

(Karl Marx, 1852)

Wann verändert sich etwas?

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“

Das sind die ersten Sätze des Kommunistischen Manifests, verfasst 1848 von Marx und Engels. Sie sollen deutlich machen, dass auch der moderne Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte darstellt, sondern ein vorübergehendes Phänomen ist, wie jede Klassengesellschaft vor ihm. Die Konflikte, die zu Umgestaltung oder Untergang führen können, sind in die Produktionsverhältnisse eingewoben. In der Entwicklung jeder Klassengesellschaft kann man beobachten, wie die neuen Klassen zu Beginn den Fortschritt antreiben, und wie die herrschenden Klassen sehr bald zu einem Hindernis für weitere Entwicklung werden.

Die Pharaonen bzw. Priester brachten enormen Fortschritt zu Beginn ihrer Epoche, aber dann behielten die Ägypter über 3.000 Jahre lang, beinahe unverändert, ihre Methoden und Steinwerkzeuge bei. Um ihren Herrschaftsanspruch zu untermauern, bauten die Pharaonen immer größere Pyramiden, immer eindrucksvollere Paläste und benötigten mächtige Armeen. Dieser Pomp ist Teil des Klassenkampfs der herrschenden Klasse, dient er doch dazu, die Unterdrückten und Konkurrenten einzuschüchtern oder ihnen zu imponieren. Der Luxus der Herrscher ist eine Ursache für die Armut der Bäuerinnen und Bauern im Nildelta, die über Generationen hinweg nur Mangelernährung kannten, während sie mit Getreide die Grundlage für den größten Reichtum auf der ganzen Welt produzierten.

Noch niemals hat eine herrschende Elite ihren Herrschaftsanspruch freiwillig aufgegeben. Die Konflikte einer jeden Klassengesellschaft führten entweder zum Untergang beider Gegner, oder zur Revolution und dem Entstehen von etwas Neuem.

Vor und nach Klassengesellschaft

Wenn Marx und Engels vom Urkommunismus sprachen, meinten sie die Jagd- und Sammelgesellschaften der Steinzeit. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es zahlreiche Berichte über die Jäger_innen und Sammler_innen, auf die man in Amerika, Australien oder Polynesien traf. Man war verwirrt und begeistert zugleich über die Berichte. In solchen Gesellschaften gab es keine Herrscher, keine sexuelle Unterdrückung und sie legten großen Wert auf Gleichheit. Marx und Engels stellten fest, dass ihre Methode Geschichte zu analysieren auch auf die Zeit anwendbar war, in der es noch keine Klassengesellschaft gab.

Das Verhältnis zur Natur prägte die menschliche Gesellschaft: Da in Jagd- und Sammelgesellschaften die ganze Sippe vom Jagderfolg und dem Gesammelten abhängen, wurde alles geteilt und viele gesellschaftliche Traditionen sollten genau das garantieren. Der Mensch war äußerst sozial, weil das Überleben der Sippe als Ganzes davon abhing. Für Vertreter_innen einer materialistischen Geschichtsauffassung ist das wenig überraschend. Wir sind sozial, wenn die materiellen Umstände uns das vorschreiben oder erlauben. Wir können auch sehr grausam sein, je nach unserer sozialen Position in einer entsprechenden Gesellschaft.
Darin begründet sich viel Optimismus. Wir haben in wenigen Generationen den Sprung von der Steinzeit zum Kapitalismus geschafft.

Jetzt haben wir erstmals die Kapazitäten um mehr als genug für alle Menschen zu produzieren, die materielle Grundlage für Sozialismus. Wir müssen nur noch die Eliten abschütteln, die die inzwischen überflüssige Form der Klassenherrschaft nicht aufgeben wollen.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.