Griechenland: „Das Wichtigste ist die Arbeiterkontrolle“
David Albrich: Sotiris, die aktuelle Wirtschaftskrise wird von vielen als die größte Krise seit den 1930er Jahren bezeichnet. Welche Parallelen siehst du?
Sotiris Kontogiannis: Zuerst einmal: Diese Krise ist noch schlimmer. Wenn man sich das Ende der 1920er Jahre anschaut, besonders in den USA, dann gab es wie auch jetzt riesige Spekulation. Beide Male war es eine globale Krise, die sich von den USA schnell nach Europa ausbreitete. Als erstes europäisches Land traf es zu der Zeit übrigens Österreich, als die Creditanstalt Pleite ging.
Damals galt noch der Goldstandard. Alle Länder haben sich verteidigt und versucht, mit ihren Währungen nicht aus dem Goldstandard rauszufallen. Jetzt haben wir zwar den Euro, was es technisch gesehen schwieriger macht, einfach wegzubrechen. Aber der Druck auf die Währung ist gewaltig. Die Financial Times beziffert die Wahrscheinlichkeit, dass die Eurozone auseinanderbricht, mit 50 Prozent.
In der Eurozone selbst stecken ja enorme Widersprüche.
Genau. Dabei spielen zwei Aspekte ein Rolle: Zum einen ist der Süden Europas weniger entwickelt als der Norden. In den letzten Jahren waren die Wachstumsraten im Süden jedoch auch sehr hoch, was bedeutet, dass es vielversprechende Wachstumsmöglichkeiten für das Kapital gab.
Dieser Traum scheint jetzt ausgeträumt. Wer ist schuld? Wildgewordene Börsenspekulanten und Rating-Agenturen?
Nein. Die eine Theorie sagt: Es ist eine Krise des Neoliberalismus. Die andere sagt: Es ist eine Krise der Finanzmärkte und der Spekulation. Beide sind falsch. Es ist eine Krise des Kapitalismus, deren Wurzeln zurück bis in 1970er Jahre reicht, als die Profitraten sanken und die Gewinne weniger wurden.
Neoliberalismus hat die Ausbeutung der Arbeiterklasse enorm angetrieben, was das System für ein paar Jahre gerettet hat. Dann aber kam die Krise zurück: über die „Tigerstaaten“ Südostasiens und Russlands, und die Pleite des Hedgefonds LCTM 1998. Die Zentralbank der USA musste den Hedgefonds retten, es wurde einfach mehr Geld gedruckt – die Geburtsstunde riesiger Blasen und Spekulation auf den Finanzmärkten. Das Problem selbst wurde wieder versteckt.
Nach Ausbruch der Krise 2008 wissen die Herrschenden nicht mehr, was sie noch tun könnten. Im Moment finden sie keinen Ausweg.
Die Troika aus EU, EZB und IWF verkauft uns die Rettungspakete und den 50-prozentigen Schuldenschnitt als die Lösung für Griechenland.
Das Geld der Bankenrettungspakete wird nur dazu benutzt, um die Zinsen der alten Staatsanleihen zu bezahlen. Die Zinsen wurden vor dem Schuldenschnitt auf 18 Milliarden Euro kalkuliert.
Griechenlands Schulden belaufen sich auf insgesamt 350 Mrd. Euro, davon werden 200 Mrd. gar nicht geschnitten: das sind nämlich hauptsächlich Kredite der Troika und Anleihen, die die EZB bereits gekauft hat. Der Rest wird gekürzt, aber nun verlangen die Banker 8 Prozent Zinsen anstatt der bisherigen 4,6 Prozent.
Wir sagen: Wir sollten den Banken keinen einzigen Euro geben! Das haben auch die Bolschewiki vor 1917 gesagt. Sie haben den Bankern eine Botschaft geschickt: „Gebt dem Zaren kein Geld, denn wir werden es nicht bezahlen.“ Und sie haben es nicht bezahlt.
Ähnliches richteten Arbeiter des Statistikamts in Athen der Troika aus, die zur Inspektion kam, ob die Sparpläne auch eingehalten werden.
Ja, sie kamen nicht an die Daten heran, weil es einen Streik und eine Besetzung des Amts gab. Die Arbeiter sagten ganz offen: „Wir geben der Troika nichts!“ Es war nicht so einfach, so etwas zu sagen, denn die Troika meinte: „Wenn wir die Daten nicht bekommen, dann kriegt ihr die nächste Tranche mit Geld nicht und könnt eure Löhne und Pensionen nicht bezahlen!“ Wir sagen in Griechenland übrigens „Schuss“ (Heroin, Anm.) und nicht „Tranche“. Es soll eine ähnliche Wirkung haben.
Die neue Einheitsregierung unter Papademos wollte jetzt eine neue Steuer auf Wohnungen umsetzen. Dagegen gab es ja besonders inspirierenden Widerstand.
Sehr viele Leute in Griechenland haben eine eigene Wohnung. Die müssten jetzt 500, 600, 700 Euro Steuern bezahlen, was sie sich natürlich nicht leisten können. Die Regierung weiß das genau.
Damit der Staat diese Steuer auch wirklich kassieren kann, wird sie über die Stromrechnung eingehoben. Das heißt: Wenn man die Rechnung und damit die Steuer nicht bezahlt, wird der Strom abgedreht.
Jetzt haben die Arbeiter der Elektrizitätsgesellschaft gesagt: „Wir werden keinem den Strom abdrehen, auch wenn sie uns ins Gefängnis stecken!“ und besetzten das Gebäude, in dem die Anordnungen zur Stromunterbrechung ausgestellt und gedruckt werden. Der sozialdemokratische Gewerkschaftsführer Nikos Fotopoulos und 14 weitere Mitglieder wurden verhaftet, doch nach weiteren Streiks musste die Regierung schließlich nachgeben.
Wie gut ist die Linke in Griechenland vorbereitet?
Innerhalb der Linken gibt es eine große Frage, wie es weitergehen soll. Es gibt es zwei große linke Parteien: die Kommunistische Partei (KKE) und die „Koalition der radikalen Linken“ (SYN-SYRIZA).
Die KKE ist sehr radikal mit Worten: Sie spricht von Revolution, sie spricht von Sozialismus. Sie meint, man darf die Schulden nicht bezahlen, man muss raus aus dem Euro, usw. Das ist, was wir (die Sozialistische Arbeiterpartei SEK, Anm.) auch sagen. In den Demonstrationen kann sie manchmal Hunderttausende mobilisieren. Sie sagt aber auch, dass die Arbeiterklasse nicht reif für die Revolution sei, weil sie kein Bewusstsein hat. Bewusstsein heißt für die KKE: Stimmen bei den Wahlen. Das ist sehr ähnlich zu dem, was in den Dreißigerjahren auch passiert ist, dieselbe Linie der sogenannten „Dritten Periode“: Damals hieß es, dass die Arbeiter, die nicht zur Kommunistischen Partei (KP) gehören, Sozialfaschisten wären. Die KKE geht nicht soweit, aber sie meint dasselbe. Die Arbeiterklasse wird in zwei Abteilungen geteilt: die bewussten Arbeiter, die die KP wählen, und die anderen, die manchmal auch die Feinde sein könnten. Die KKE wird nie, oder fast nie etwas gemeinsam mit anderen Teilen der Linken organisieren. Sie betrachten die Arbeiter, die PASOK oder die Koalition gewählt haben, als nichts.
Wir haben immer wieder getrennte Demonstrationen gesehen.
Ja genau, da kann man das beobachten. In der letzten Zeit hat sich das allerdings ein wenig geändert, weil sie unter Druck stehen. Ein Beispiel: Nachdem Fotopoulos bei der Besetzung der Elektrizitätsarbeiter verhaftet wurde, standen die KKE, die Koalition und wir gemeinsam mit Transparenten auf der Straße. Das war schön.
Ein noch größeres Beispiel war der 19. und 20. Oktober – der letzte große Streik. Am 19. war eine große Demonstration in Athen, und am 20. wolle man das Parlament umzingeln. Bisher sagte die KKE immer: „Wir machen da nicht mit, das ist Unsinn. Das hat nichts mit der Arbeiterklasse zu tun.“ Aber dieses Mal sind sie gekommen. Und sie haben das richtig gut gemacht, sie waren direkt vor dem Parlament. Aber es gab einen Zusammenstoß mit den Anarchisten, die die KKE mit Molotov-Cocktails attackierten. Die Anarchisten und die Koalition sagte: „Das was die KKE gemacht hat, war schrecklich. Sie waren nicht da um das Parlament zu belagern, sondern um das Parlament vor den Anarchisten zu beschützen.“ In Wahrheit haben sie beides gemacht. Das nennt man Reformismus (lacht). Wir dagegen haben gesagt, es war sehr gut, dass die KP da war, weil offensichtlich ein sehr großer Druck auf die Partei herrscht und wir schließlich eine Einheitsfront brauchen.
Und die „Koalition der radikalen Linken“?
Die Koalition ist anders. Sie sagt, wir brauchen eine Einheit der Linken und alle sind willkommen. Aber das was sie möchten, ist eine linke Regierung. So eine Regierung hat einen Namen: Romano Prodi. Wir alle wissen, was unter Prodi passiert ist (Prodi war italienischer Ministerpräsident, der mit Unterstützung der Rifondazione Comunista die Spar- und Kriegspolitik Berlusconis nach den Wahlen 2006 weitergeführt hat. Die Rifondazione löste sich danach praktisch auf. Anm.). Die Koalition erwartet, dass sich ein Teil der sozialdemokratischen PASOK abspalten wird. Aber nicht etwa kämpferische Leute wie Fotopoulos, sondern alteingesessene Teile.
In der antikapitalistischen Linken gibt es noch weitere Teile, die von den großen Parteien, der „offiziellen“ Linken (KKE und Koalition, Anm.), beeinflusst werden. Sie meinen, die Arbeitsklasse habe bereits alles Mögliche versucht: Sie hat besetzt, demonstriert, gestreikt, die Polizei konfrontiert und kann jetzt nicht mehr weiter. Sie hat ihre Pflicht getan, aber jetzt muss die Linke auf den Plan treten. Diese Leute wollen die Arbeiterbewegung als Sprungbrett benutzen. Am Ende wollen sie eine reformistische, politische Lösung von oben.
Wie geht es weiter? Wie agiert ihr?
Am 17. Dezember ist der nächste Generalstreik. Doch das ist nicht alles. Wir sagen: Das Wichtigste ist die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Das ist das Nächste, was die Arbeiterbewegung vertiefen kann. Trotzki hat in den 1930er Jahren darüber geschrieben, weil es damals eine ähnliche Debatte in der Linken gab: Arbeiterkontrolle sei nicht etwas, was man immer erreichen könnte. Unter normalen Umständen kann es nur zu einer Kollaboration zwischen den Bossen und den Arbeitern kommen: es entsteht Bürokratie. Aber in Zeiten der Krise hauen die Bosse ab oder nehmen alles weg, verkaufen die alten Maschinen, usw. Das sehen wir jetzt in Griechenland. Die Arbeiter sind sehr verärgert und diskutieren diese Frage in den Betrieben.
Die Bosse brauchen die Produktion für die Profite. Aber wir brauchen die Produktion auch um zu leben. Jeder Streik stoppt die Produktion für beide Seiten. Der Ausweg daraus ist: Arbeiterkontrolle. Das heißt: Wir entscheiden, was wie produziert wird.
Welche Perspektiven siehst du für Revolutionen in Europa?
Was gerade in Europa passiert, ist sehr gefährlich für die herrschenden Klassen, weil es – im Gegensatz zu Ägypten – keinen echten Ausweg gibt. Sie sind sehr erschrocken.
Griechenland ist eine Botschaft der Hoffnung, eine permanente Revolution ist möglich. Ob es der antikapitalistischen Linken gelingt, den Kampf in dieser Periode für sich zu entscheiden? Wer weiß. Die Zukunft hängt von uns ab. Selten bietet die Geschichte solche Chancen für uns.
Sotiris Kontogiannis ist führendes Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SEK) in Griechenland.