I, Daniel Blake

Viele Künstler_innen und Filmemacher_innen träumen davon, dass ihre Werke irgendeinen gesellschaftlichen „Impact“ haben, Diskussionen auslösen, womöglich gar politische Entscheidungen beeinflussen. Der dezidiert linke, britische Regisseur Ken Loach hat das immer wieder geschafft – aktuell mit „I, Daniel Blake“, seiner brennenden Anklage gegen den Umgang mit Arbeitslosen in England.
11. Dezember 2016 |

Politischer Film, wie jede politische Kunst, ist immer dann besonders stark, wenn er aus sozialen Bewegungen entspringt, sie reflektiert und verstärkt und nicht versucht, nur von ihnen zu profitieren. „I, Daniel Blake“ liefert nicht nur reale Fakten, er gibt den Kämpfen gegen Sozialabbau in Großbritannien eine Identifikationsfigur, eine wuchtige, emotionale Begründung ihrer Kämpfe.

So waren Gewerkschafter_innen und Aktivist_innen sozialer Bewegungen die ersten, die den Film sehen durften, noch vor der bürgerlichen Presse und dem Festivalpublikum – wie jenem in Cannes, wo der Film die Goldene Palme gewann.

Unmenschliche Bürokratie

Die Story, geschrieben von Loachs langjährigem Drehbuchautor Paul Laverty, erzählt vom Witwer Daniel Blake, der eine schwere Herzattacke erleidet. Daraufhin beginnt sein Kampf mit der unmenschlichen staatlichen Bürokratie. Der Tischler beantragt die „Employment Support Allowance“ (ESA) genannte Krankenunterstützung und muss feststellen, dass das gesamte System darauf ausgerichtet ist, ihm die überlebenswichtige Sozialleistung vorzuenthalten.

Blake, dem sein Arzt attestiert zu krank für die Arbeit zu sein, muss auf Anordnung des „Job-Coachs“ im Arbeitsamt 35 Stunden die Woche damit verbringen, sich für Stellen zu bewerben, die er nicht annehmen kann. Laut Gesetz müssen alle, die ESA beantragen in den verhassten „Work Capability Assessements“ beweisen, dass sie nicht arbeitsfähig sind. Loach zeigt, welche zerstörerische Wirkung, auch gesundheitlich, dieser Stress auf Menschen ausübt.

Sozialabbau tötet

Wenn festgestellt wird, dass jemand sich nicht genug um Arbeit bemüht, wird ihm oder ihr das Geld gestrichen – oft mit tödlichen Folgen. Tausende sind schon zu Tode gekommen, nachdem ihnen die Unterstützung gestrichen wurde. Es kommt zu Selbstmorden, andere sterben an den Folgen ihrer Erkrankungen. Diese Regelungen stürzen jedenfalls die Leben von Hunderttausenden ins Chaos, wie Ken Loach im Interview von seinen Recherchen berichtet.

Während der Titelheld im Film um seine Existenz kämpft, wächst die Freundschaft zwischen Blake und Katie, die sich alleine um ihre beiden Kinder kümmern muss. Nachdem sie zwei Jahre in einer Notschlafstelle in London gewohnt hat, wird sie nach Newcastle geschafft, weil es in der Hauptstadt angeblich keine Wohnmöglichkeit für sie und ihre Kinder gibt – einer Stadt, in der 10.000 Wohnungen leer stehen, wie der britische Guardian schreibt. Katie wurde vom Arbeitsamt „sanktioniert“ und muss ihre kleine Familie mit Schwarzarbeit durchbringen.

Solidarität

Ken Loach schafft wieder einmal, was Hollywood so selten gelingt, nämlich Leute aus der Arbeiter_innenklasse empathisch und solidarisch darzustellen – ohne Romantisierung oder Kitsch, aber eben glaubwürdig. Er hat das in Charakter-getriebenen Filmen wie „Kes“, „Riff-Raff“, „Sweet Sixteen“ oder „Bread and Roses“ bewiesen.

Loach gibt als Einflüsse auf seine eigene Arbeit „The Battle of Algiers“, einen Film über den Aufstand der Algerier_innen gegen die französische Kolonialherrschaft und Vittoria De Sicas „Fahrraddiebe“ an. Von De Sica, einem Vertreter des italienischen „Neorealismo“ hat er gelernt, dass „Kino von den normalen Leuten und ihren Dilemmas handeln kann. In ,Fahrraddiebe‘ ging es nicht um Stars, um Reiche oder um absurde Abenteuer.“

Die Würde des Menschen

Im realen Leben, nämlich bei den Dreharbeiten, ist Loach für seinen ungewöhnlichen Arbeitsstil bekannt. Im Gegensatz zu anderen Regie-Persönlichkeiten, die sich am Set gerne als kleine Diktatoren gerieren, behandelt Loach sein Team immer mit Respekt und Hochachtung. Seine Schauspielführung ist grandios.

Dave Johnes, von Beruf eigentlich Stand-Up-Comedian, wirkt als Daniel Blake unglaublich „echt“, was sich erst in der (selbst für Englisch-Sprechende schwer verständlichen) Originalversion so richtig bemerkbar macht. Auch verleiht er dem Film eine durchgehende Komik, fast könnte man die kafkaesken Zustände, die der Neoliberalismus mit seiner Spar-Ideologie erzeugt, für eine übertriebene Fantasie der Monthy Pythons halten. Doch leider ist dieser surreale Wahnsinn Realität für Hunderttausende.

Systemkritik

Der Film macht wirklich wütend, das ist seine größte Stärke. Er lässt einen an einem System zweifeln, in dem ein junger, gelackter Arbeitsamt-Mitarbeiter eine Machtstellung bekommt und einem Menschen, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, seine Würde genommen wird, weil er krank geworden ist. „I, Daniel Blake“ macht es einem unmöglich, nicht betroffen und zornig zu sein.

Land and Freedom

Land and Freedom

Er motiviert dazu, die Grausamkeiten des Kapitalismus zu bekämpfen. Eine britische Aktivistin meinte in einem Statement gegenüber dem britischen Socialist Worker: „Schau dir den Film an, werde wütend – und dann vereine deine Stimme mit unseren, damit es in Zukunft keine Daniel Blakes mehr gibt.“

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.