Islam und Aufklärung
„Die Aufklärung ist an der islamischen Welt spurlos vorübergegangen“, schreibt Grünen-Politiker Efgani Dönmez. Im selben Ton äußert sich der FPÖ-Nationalratsabgeordnete Elmar Podgorschek: „Dazu kommt diese absolut archaische Religion. Ich halte diese Religion für rückständig“. Martina Salomon, stellvertretende Kurier-Chefredakteurin, schreibt: „200 Jahre Aufklärung müssen verteidigt werden“. Damit verteidigt sie einen Gastautoren, Theo Faulhaber, der nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo einen wirklich hetzerischen Artikel im Kurier veröffentlichen durfte. Darin war zu lesen: These 7: „Europa hat sich aus den Fängen eines falsch verstandenen Christentums und der Herrschaft der Kirche befreit, es hat sich durch die Aufklärung emanzipiert. Diese jahrhundertelange Entwicklung fehlt dem Islam. Er ist im Mittelalter stecken geblieben. Wer verlangt, der Islam möge die Aufklärung nachvollziehen, verlangt auch, dass Moslems aufhören, den Koran als Gottes Wort anzusehen“. Aber auch Menschen, die sich gegen Rassismus stellen, wie die Abgeordnete der Grünen, Alev Korun, greifen zum selben Grundargument: „Es ist nicht nur möglich, sondern genau jetzt notwendig, gegen antimuslimische Ressentiments anzukämpfen und eine islamische Aufklärung anzugehen.“
Krieg gegen Kirche und Staat
Die meisten „Islamkritiker_innen“ würden der Beobachtung zustimmen, dass sich die europäische Aufklärung zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert gegen den Widerstand der katholischen Kirche durchsetzen musste, und nicht in einem friedlichen Dialog zwischen den großen Denkern der Aufklärung und dem Establishment entstanden ist. Trotzdem hält sich die Behauptung, dass die Aufklärung untrennbar mit der judeo-christlichen Tradition Europas verbunden sei. Bekanntlich haben die christlichen Kirchen (katholische und protestantische) neue bahnbrechende Erkenntnisse meist zuerst unterdrückt. Berühmtestes Beispiel dafür ist wohl die Hinrichtung Giordano Brunos am Scheiterhaufen für seine Erkenntnis, das Weltall müsse unendlich groß und die Sterne ähnlich unserer Sonne sein.
An dieser Stelle wird dann meist auf die fortschrittliche Rolle der protestantischen Kirche hingewiesen. Gerne wird dabei vergessen, dass der Reformator Calvin 1553 in Genf den Wissenschafter, Arzt und Theologen Michael Servetus wegen Ketzerei am Scheiterhaufen hinrichten ließ. Servetus hatte Studien über den kleinen Blutkreislauf zwischen Lunge und Herz veröffentlicht, er gab eine neue „Geographike Hyphegesis“ (Atlas) des Ptolemäus heraus und zweifelte die Dreifaltigkeitslehre an.
Ibn al-Nafis, ein bedeutender syrischer Gelehrter und Arzt des 13. Jahrhunderts, schrieb 300 Jahre vor Servetus über den kleinen Blutkreislauf, und starb unbehelligt von islamischen Autoritäten im Alter von vermutlich 80 Jahren. Solche Fakten widersprechen der gängigen Kritik, in der islamischen Welt seien dieselben Erkenntnisprozesse, die im Westen Europas vor rund 300 Jahren zum Durchbruch kamen, nicht möglich gewesen. Im Gegenteil wären die römischen, griechischen und persischen Errungenschaften ohne die islamischen Bibliotheken und Gelehrten großteils verloren gegangen. Und ohne diese ist die Aufklärung kaum vorstellbar.
Fortschrittlicher Islam
Der Aufklärung wird die Überwindung des kritiklosen Gottesglaubens zugeschrieben. Die westeuropäischen Gesellschaften hätten ausgerüstet mit den Lehren der Aufklärung die Überreste mittelalterlichen Denkens, die Herrschaft der Kirche und des Adels überwunden und so den Siegeszug der Vernunft feiern können. Der Triumph der Wissenschaft und die Errichtung demokratischer Gesellschaften seien das Resultat der Aufklärung. Und natürlich impliziert die Gegenüberstellung der islamischen Tradition mit der christlich-jüdischen, dass letztere die Aufklärung erst ermöglicht habe.
Tatsache ist, dass die islamische Welt nicht nur eine moderne Wissenschaft hervorbrachte, ihre Philosophen diskutierten auch die soziale Rolle von Religion in der Gesellschaft. Der marxistische Philosoph und Historiker Maxime Rodinson (Verfasser von „Islam und Kapitalismus“ und „Die Faszination des Islam“) hat wiederholt hervorgehoben, dass Religionskritik und Gesellschaftskritik in mittelalterlichen islamischen Gesellschaften weniger gefährlich war als in Europa. So schrieb schon der persische Philosoph Rhazes/Rāzī (864-925 unserer Zeitrechnung), dass Religion die Ursache für Kriege und Feindseligkeit gegenüber der Philosophie und der Wissenschaft sei. Er schätzte Plato, Aristoteles und Hippokrates viel höher ein als die Heiligen Schriften. Ähnliche Positionen wurden sogar von Persönlichkeiten in den höchsten Staatsämtern vertreten.
Berühmt sind die Veröffentlichungen des bedeutendsten Mogulherrschers Indiens, Akbar (1542-1605 UZR), der den Weg der Vernunft über das Vertrauen auf die Tradition stellte. Sein Sprecher beschwerte sich über die Beschränkungen welche die wissenschaftlichen Entdeckungen durch religiösen Obskurantismus erlitten. Es ist kaum vorstellbar, dass eine prominente Persönlichkeit in Europa solche Ansichten hätte äußern können, ohne dafür verfolgt oder hingerichtet zu werden. Deshalb ist die Frage wichtig, weshalb die Erkenntnisse von Servetus in Europa bald zum Mainstream-Denken in der Medizin wurden, während die Lehre Ibn al-Nafis kaum Einfluss auf die Medizin in der muslimischen Welt hatte. Entscheidend ist das politische und wirtschaftliche Umfeld in dem sich die fortschrittlichen Ideen der Aufklärung durchsetzen konnten.
Kein Fortschritt ohne Kampf
Dieselbe Frage beschäftigt spätestens seit dem „Vater“ der modernen Soziologie Max Weber (1864-1920) die sozialen Theoretiker: warum konnte sich die bürgerliche Klasse in Westeuropa durchsetzen, bzw. ist hier ihre spezifische Produktionsform, der Kapitalismus, entstanden, und nicht in den damals kulturell und technologisch fortgeschritteneren Hochkulturen Chinas oder der islamischen Welt? Nach Weber ist die Ethik des Protestantismus eine entscheidende Voraussetzung dafür gewesen. Diese zeichne sich durch die Ablehnung von Müßiggang aus, durch Bescheidenheit, Profitstreben und die Dominanz der Vernunft.
Dass eine enge Beziehung zwischen Protestantismus und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise besteht, ist offensichtlich; seine Geburtsstätten waren protestantische Städte, wie Rotterdam oder Manchester. Und die Reformation war schließlich eine Rebellion gegen die katholische Kirche, die sich ganz und gar der Erhaltung der feudalen Ordnung verschrieben hatte.
Vor allem aber war die Reformation mehr als ein abstraktes theologisches Gebilde, wie es Weber präsentierte, sondern eine mächtige gesellschaftliche Bewegung, die religiöse, soziale und politische Forderungen verschmolz. Es war die Bewegung der neuen bürgerlichen Klasse, welche die Befreiung von den Einschränkungen durch das alte System erkämpfen musste, wenn sie nicht unterdrückt und zerschlagen werden wollte.
Chaotisches Mittelalter
Genau das war das Schicksal der aufkommenden bürgerlichen Klassen in China und der islamischen Welt. Weber liefert aber keine Erklärung dafür, warum die Ideen der Reformation solches Gehör fanden und sich durchsetzen konnten. Luthers Ideen wurden schon 100 Jahre vor ihm durch die Bewegung der Hussiten ab 1400 verbreitet, aber sie wurden niedergeschlagen. Der Unterschied lag in der Ausbreitung der Städte als Zentren einer nicht-feudalen Produktionsweise innerhalb der feudalen Gesellschaft Europas.
Im Mittelalter waren staatliche Strukturen schwach ausgebildet. Die Macht lag bei kleinen feudalen Herrschern (Adeligen und Klöstern), die am Land über Kleinbauern und Leibeigene herrschten und vor allem von landwirtschaftlicher Produktion abhingen. Zwischen ihren nur locker kontrollierten Territorien entstanden die Städte als Inseln auf denen neue Produktionsweisen ausprobiert werden konnten. Die Aufteilung des Arbeitsprozesses in immer größeren Werkstätten führte dazu, dass die Städte zu wirtschaftlichen und politischen Herausforderern des ländlichen Adels wurden. Im Jahre 1200 gab es nur ungefähr 50 Städte in Europa, um 1500 waren es schon 4.000.
Die Städter_innen überholten den Adel in Produktivität und ihre Eliten verfügten über immensen Reichtum, aber sie waren immer noch der politischen Macht des bewaffneten Adels ausgeliefert. Luther und Calvin geißelten die Gebräuche und Traditionen der katholischen Kirche, den Pomp und die Bestechlichkeit der Bischöfe und des Papstes, die in solch krassem Gegensatz zur Sparsamkeit der aufkommenden bürgerlichen Klasse stand. Die Habsburger bekämpften im Dreißigjährigen Krieg die Unabhängigkeit des protestantischen Bürgertums und dieses konnte sich nur durchsetzen, weil es in seiner Rebellion gegen den Feudalismus auch militärisch Siege erlangte. Die Unabhängigkeit der Niederlande war so ein Sieg des Bürgertums und ermöglichte die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zur dominanten Produktionsweise.
Schwacher Staat und Fortschritt
Zusammenfassend kann man sagen, die Gedanken der Aufklärung kamen nicht zufällig in derselben Epoche zum Durchbruch, in der die alte feudale Gesellschaft Westeuropas umgestürzt wurde. Vielmehr war die Aufklärung die begleitende Theorie und Ideologie der erneuernden Bewegungen. Neue Ideen, egal wie brillant sie auch sein mögen, sind alleine niemals imstande den Gang der Welt zu verändern, sondern es braucht dazu soziale und politische Bewegungen, die einen Konflikt entscheiden können.
Neue Ideen, egal wie brillant sie auch sein mögen, sind alleine niemals imstande den Gang der Welt zu verändern, sondern es braucht dazu soziale und politische Bewegungen, die einen Konflikt entscheiden können.
Warum geschah ein ähnlicher Prozess nicht in China oder in islamischen Gesellschaften? Man kann in all diesen Regionen das Entstehen von kapitalistischen Keimzonen feststellen. In China gab es schon im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Massenproduktion von Gusseisen, also gut 1400 Jahre bevor es in Europa dazu kam. In der islamischen Welt entstand fabrikähnliche Massenproduktion von Textilien, Porzellan und vielem mehr ab dem achten Jahrhundert. In beiden Gesellschaften war die Wissenschaft weit fortgeschritten, aber auch das Banken- und Kreditwesen, der Handel und vieles mehr, das wir für typisch kapitalistisch halten.
Dennoch setzte sich die kapitalistische Produktionsweise dort nicht als dominante Wirtschaftsform durch, eben weil die kapitalistische Klasse, die Unternehmer, bzw. das Bürgertum sich nicht zur dominanten gesellschaftlichen Klasse aufschwingen konnten. Der wichtigste Unterschied zu Westeuropa ist das ausgedehnte Staatswesen in China und der islamischen Welt. Europa war im Mittelalter, entstanden aus dem Chaos, das dem Zusammenbruch des Römischen Reichs folgte, bei aller Rückständigkeit eine ziemlich anarchische und damit sehr dynamische Region, in der die zentrale Staatsmacht nur beschränkt Kontrolle ausüben konnte.
Starker Zentralstaat wurde Hemmschuh
In China und der islamischen Welt dagegen war ein starker zentralisierter Staat unabdingbar für die Kontrolle der immensen Wasser- und Verkehrswege. Sowohl die Kleinbauern als auch die Händler oder der Landadel waren davon abhängig, dass Dämme instand gehalten und Kanäle ausgehoben, Schleusen zur richtigen Zeit geöffnet und geschlossen wurden. Der Kaiser oder der Kalif waren vehemente Verteidiger dieser Ordnung und Historiker finden viele Beispiele dafür, wie sie die aufkommende bürgerliche Klasse wiederholt und blutig unterdrückten.
Neue herrschende Klassen wie die Feudalherren, können anfangs Entwicklungen ermöglichen, die Fortschritt für die ganze Gesellschaft bringen. Kurz darauf werden sie, indem sie die Grundlagen für ihre Herrschaft verteidigen müssen zum Hemmnis für weiteren Fortschritt. So beschreibt Karl Marx die Gesetzmäßigkeit menschlicher Geschichte. Im Westen Europas konnte die kapitalistische Klasse in einzelnen bürgerlichen Revolutionen siegen und schließlich breiteten sie die neue Produktionsweise auf den gesamten Globus aus. Wie uns heute sehr bewusst ist, geschah das mit unfassbarer Grausamkeit, und nichts erinnert dabei an die Ideale der Aufklärung „Vernunft, Ordnung, Freiheit und Gleichheit“.
Die Aufklärung hat dabei versagt, ihr Versprechen von der Befreiung des Menschen wahr zu machen, weil die bürgerlichen Revolutionen eine neue ausbeuterische Klasse an die Macht gebracht haben, die in ihrem eigenen Interesse handelt. So betrachtet ist der Vorwurf, dass die im Laufe der vergangenen 200 Jahre unterworfenen Gesellschaften, die Ideologie der Eroberer nicht mit offenen Armen angenommen haben, ziemlich unangebracht.