Ist die Millî Görüş-Bewegung faschistisch?
Wegen ihrer Religion und ihrer Bindung zu ihrem Heimatland wird Millî Görüş nicht nur von rechts angegriffen, sondern auch von linken Politiker_innen, wie zum Beispiel dem Grünen Efgani Dönmez. Millî Görüş existiert in Österreich zwar nicht als offiziell eingetragener Verein wie in Deutschland, doch die Islamische Föderation gilt im Wesentlichen als der österreichische Ableger von Millî Görüş.
In der Auseinandersetzung mit anderen Linken hört man häufig, dass sie eine faschistische Organisation sei. Durch solche Standpunkte entfernt man sich von deren Massenbasis, großteils Gastarbeiter_innen, auf die man als Linker eigentlich zugehen und denen unsere bedingungslose Solidarität gegen jede Form von rassistischen Angriffen gewiss sein sollte.
Millî Görüş wird eine strenge Auslegung des Korans vorgeworfen, die Bewegung würde die Integration von Muslim_innen in die österreichische Gesellschaft verhindern. Durch ihr religiöses Selbstbewusstsein würde sie eine elitäre Haltung gegenüber anderen Lebensweisen annehmen. Ein weiteres Argument für ihre faschistische Haltung sei ihr Nationalismus.
Identitätssuche
Wer sich damit auseinandersetzen will, ob die Millî Görüş faschistisch ist, muss sich zuerst die Umstände anschauen, unter denen sie gegründet wurde. Sie entstand in den 1970er-Jahren in deutschen Großstädten. Ihre Mitglieder waren türkische Arbeitsmigrant_innen aus großteils ländlichen Gebieten. Anfangs war es eine religiöse Bewegung, Zuwanderer trafen sich in Lokalen mit kleinen Gebetsräumen, um gemeinsam zu beten und sich auszutauschen. Aus diesen unorganisierten Treffen wurde bald eine religiöse Gemeinschaft, die einen gewissen Zusammenhalt bot.
Um die Anziehungskraft von Millî Görüş zu verstehen, muss man sich die Zuwanderungsgeschichte ihrer Mitglieder anschauen. Sie kamen aus ländlichen Regionen, mit dementsprechend festen sozialen Bindungen, sprich kleinen Orten, wo man einander unterstützte.
Sie fanden eine Kultur vor, die ihnen nicht nur fremd war, sondern die sie sogar ablehnte.
In den europäischen Großstädten half man sich, Fuß zu fassen. Sie fanden eine Kultur vor, die ihnen nicht nur fremd war, sondern die sie sogar ablehnte. Dazu kam noch, dass man Gastarbeiter_innen nicht als dauerhafte Mitbürger_innen betrachtete.
Bei den Immigrant_innen machte sich ein starkes Gefühl von Selbstverlust und Selbstaufgabe breit. Millî Görüş war die Art kleine Gemeinde, die ihnen aus ihrer Heimat vertraut war, man kannte sich untereinander, man betete gemeinsam, ging gemeinsam zu Hochzeiten, half sich gegenseitig bei Arbeits- oder Wohnungssuche.
Wandel
Millî Görüş war immer eine vielschichtige Bewegung. In der Türkei ist sie eine politische Partei, in Deutschland eine religiöse Bewegung. Das führte immer wieder zu Differenzen, zum Beispiel wurde ein Prediger, der aus der Türkei nach Deutschland gereist war, dafür kritisiert, dass er einen Anzug trug. Nach Vorstellung von Millî Görüş-Mitglieder widersprach das der muslimischen Lehre. In der Geschichte von Millî Görüş gab es mehrere ideologische Kursänderungen. Anfangs richtete sie sich primär an der Türkei aus. Im Schatten der Iranischen Revolution 1979 bekam sie eine internationale Ausrichtung.
Ideologisch beriefen sie sich auf den dritten (islamischen) Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Sie lehnten die parlamentarische Demokratie ab und wollten eine Revolution nach iranischem Vorbild. Doch mit der zweiten Generation, die mit der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt und von der einige den sozialen Aufstieg schafften, richtete sie sich Ende der 1990er-Jahre wieder neu aus.
Bildungsaufstieg
Wichtig für den sozialen Aufstieg waren auch die von der Millî Görüş eigens eingerichteten Nachhilfeinstitute, dadurch erreichten viele junge Mitglieder höhere Bildungsabschlüsse. Ein gutes Beispiel dafür ist der Medizinstudent Sabri Erbakan, er kannte sowohl die Kultur der deutschen Intellektuellen als auch die der türkischen Arbeiter_innen, das machte ihn zur perfekten Führungsfigur. 1999 wurde er Vorsitzender von Millî Görüş. Er forderte Mitglieder dazu auf, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Die Aufgabe der Millî Görüş sah Erbakan in einer Vermittlerrolle zwischen dem Nahen Osten und Europa. Die Muslim_innen in Europa waren für ihn in der privilegierten Situation, in einer parlamentarischen Demokratie zu leben, von hier aus sollte man die Entwicklung im Nahen Osten unterstützen, zum Beispiel durch die Beteiligung an Entwicklungshilfeprojekten. Dazu sollte man den Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen voranbringen. An diesem Kurs hält Millî Görüş theoretisch immer noch fest.
Diskriminierung bekämpfen
Millî Görüş ist nicht aus dem Ausland oder von ein paar fanatischen Islamisten gegründet worden, wie oft behauptet wird, sondern entstand von unten, aus den Bedürfnissen nach sozialer Bindung. Diese Eigenschaft behielt sie sich auch bis heute. Sowohl die türkische Partei Saadet Partisi als auch der europäische Dachverband der Millî Görüş, die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş, hält sich im Wesentlichen aus den internen Angelegenheiten der einzelnen Millî Görüş-Gruppen heraus, etwa werden die meisten Imame von den jeweiligen Gruppen bezahlt, nicht von der Führung.
Diese laxe Organisationsstruktur lässt sich nicht mit faschistischen Bewegungen vergleichen. Die soziale Basis der Millî Görüş ist die Arbeiter_innenklasse. Faschistische Parteien hingegen bauten immer auf das Kleinbürgertum als Fundament ihrer Bewegung auf. Auch der Begriff von Rasse kommt bei Millî Görüş nicht vor.
Die Distanz von Millî Görüş zu anderen Volksgruppen beruht auf religiösen Differenzen. Ihre strenge Auslegung des Korans ist als Reaktion auf die erfahrene Diskriminierung und den Verlust ihrer gesellschaftlichen Normen mit ihrer Immigration nach Westeuropa zu verstehen. Kurzum, der Erfolg von Millî Görüş ist das Ergebnis von Entwicklungen – Rassismus, Ausgrenzung, Wirtschaftskrisen und mehr – die wir Linken bekämpfen sollten, und mit deren Opfer wir uns solidarisieren müssen.