Lenin und seine Ideen heute

„In dieser Zeit, in der Kapitalismus so in der Krise steckt, sind das Werk und das Leben des Revolutionärs Wladimir Lenin, der am 22. April vor 150 Jahren geboren wurde, immer noch entscheidend", schreibt Tomáš Tengely-Evans.
22. April 2020 |

Die kapitalistische Gesellschaft rast mit dem Klimawandel, dem globalen Wirtschaftszusammenbruch, den Pandemien und der Bedrohung durch Atomkriege auf die Katastrophe zu. Die Ideen von Wladimir Lenin, der in dieser Woche vor 150 Jahren geboren wurde, sind nach wie vor entscheidend für uns alle, die wir dieses verrottete System loswerden wollen.

Die meisten Menschen werden Karikaturen von Lenin gehört haben. Diese suggerieren, er sei ein Dogmatiker und Diktator gewesen, der in einem Putsch die Macht ergriffen und zu den Schrecken von Joseph Stalins Russland geführt hat. Das entspricht nicht der Realität. Lenins Politik entstand in einer anderen Epoche großer Krisen, in der die Missachtung des Systems für das Leben der einfachen Leute offenbar wurde. Er entwickelte neue Ideen, während er sich mit beispiellosen Problemen auseinandersetzte. Diese Ideen wurden in den Kämpfen gegen das System getestet – und trugen dazu bei, revolutionäre Veränderungen einzuleiten.

Den größten Teil seines politischen Lebens war Lenin Teil der sozialistischen Bewegung Europas. Aber Lenins bolschewistische Partei war die einzige, die 1917 in Russland eine erfolgreiche Arbeiterrevolution vollendete. Das war kein Zufall. Lenin entwickelte Ideen über Krieg, Imperialismus, den Staat und die Unterstützung für alle unterdrückten Menschen. Ganz entscheidend war sein Verständnis für die Unumgänglichkeit, eine revolutionäre Organisation aufzubauen, wenn wir Sozialist_innen die Welt verändern wollen. Der Konflikt zwischen Arbeiter_innenklasse und den Bossen ist fixer Bestandteil von Kapitalismus. Größere Aufstände und Revolutionen beginnen oft als spontane Kämpfe um ganz bestimmte Themen.

Die Februarrevolution in Russland im Jahr 1917 begann als Protest gegen die Brotknappheit. Die jüngste Revolte gegen den Neoliberalismus in Chile begann als Protest gegen die U-Bahn-Ticketpreise. Im Iran wurden die Treibstoffpreiserhöhungen zur Initialzündung.

Herausforderungen

Protestbewegungen können sich zu einer umfassenden Herausforderung für das System entwickeln. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass sie gewinnen. In jeder Bewegung gibt es eine Auseinandersetzung zwischen reformistischen Kräften, die Veränderungen auf die vorgegebenen Grenzen des Systems beschränken wollen, und denen, die revolutionäre Veränderungen anstreben. Eine revolutionäre Organisation nach dem von Lenin vertretenen Modell ist unerlässlich, um bessere Erfolgschancen zu haben.

Man konnte das während den weltweiten Aufständen vor dem Ausbruch der Coronapandemie beobachten. Zum Beispiel hat im Sudan eine Massenbewegung den Diktator Omar al-Bashir erfolgreich vertrieben. Die Massenbewegung versammelte sich auf den Straßen, und forderte ein Ende der Militärregierung. Und als sich die Massenbewegung vertiefte, begannen die einfachen Leute die gesamte Gesellschaftsordnung zu hinterfragen. Auf einigen Plätzen richteten die Menschen Revolutionskomitees ein, die einen Einblick in die Art und Weise gaben, wie die Gesellschaft von unten nach oben demokratisch geführt werden könnte.

Gruppen organisierter Arbeiter_innen hatten bei der sudanesischen Revolte eine wichtige Rolle gespielt. Der logische nächste Schritt hätte die Einrichtung von Arbeiter_innenräten sein können, was die Macht des Regimes hätte brechen können. Die Financial Times berichtete: „Man kann nicht mit Sicherheit wissen, wie sich Russland 1917 anfühlte, als der Zar gestürzt wurde. Aber es muss sich so ähnlich angefühlt haben, wie die Hauptstadt des Sudans Khartum im April 2019“. Aber im Sudan haben die Arbeiter_innen nicht wie in Russland 1917 die Macht erobert. Die Führung der Massenbewegung wurde von politischen Kräften dominiert, die nicht bereit waren, den Weg zu Ende zu gehen. Sie unterzeichneten einen schäbigen Deal mit dem Regime, welcher von diesem genutzt wurde, um gegen seine Gegner vorzugehen. Es gab keine revolutionäre sozialistische Organisation im Sudan, die gegen Kompromisse und für die Vertiefung der Revolution hätte argumentieren können.

Die Gegner Lenins argumentieren, dass die revolutionäre Partei eine autoritäre oder elitäre Idee sei. Als Beweis dafür verwenden sie das Pamphlet Was tun? – aus dem Jahr 1902. Darin diskutiert Lenin die Frage, wie sozialistische Parteien organisiert werden sollten. Er schreibt, dass „politisches  Klassenbewusstsein nur von außen zu den Arbeitern gebracht werden kann“. Das kann sich so anhören, als sollten Sozialist_innen einfach dem Rest der Bewegung sagen, was sie zu tun haben, oder ihre Vorstellungen der Arbeiter_innenklasse aufzwingen. Aber das war nicht Lenins Argument. Viele seiner Werke sind Polemiken, die während eines bestimmten Streits geschrieben wurden, der in der Bewegung aufgekommen war. Als Lenin „Was tun?“ schrieb, bekämpfte er die „Ökonomisten“.

Die „Ökonomisten“ dachten, dass sich die Kämpfe der Arbeiter_innen um Brot-und-Butter-Themen, zum Beispiel um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen, automatisch zum Kampf um Sozialismus ausweiten würden. Lenin sagte, dass ihr „Ökonomismus die Arbeiterbewegung systematisch darauf beschränkt, nur ihre partiellen Interessen zu verteidigen“. Für Lenin mussten revolutionäre Sozialist_innen „Tribune der Unterdrückten“ und nicht nur „Gewerkschaftsfunktionäre“ sein. An anderer Stelle in „Was tun“ schreibt er, dass Sozialist_innen in der Lage sein müssen, „ auf jede konkrete Erscheinung von Tyrannei und Unterdrückung zu reagieren“ und „aus alle diesen Erscheinungen zu verallgemeinern“, um anderen Arbeiter_innen zeigen zu können, wie das System Ausbeutung und Unterdrückung produziert.

Aktivist_innen

Bei einer revolutionären Partei geht es nicht darum, von der Arbeiter_innenklasse oder den Massenbewegungen getrennt zu agieren. Es geht darum, eine Organisation von Kämpfer_innen der Arbeiter_innenklasse aufzubauen, die die punktuellen Kämpfe zu einem großen Kampf gegen das System als Ganzes zusammenführt. Die genaue Art und Weise, wie sich eine revolutionäre Partei organisiert, hängt von den politischen Umständen ab, und Lenin war hinsichtlich der spezifischen Merkmale flexibel. Aber ob in einer parlamentarischen Demokratie oder in einem autoritären Staat, die Notwendigkeit einer revolutionären Partei bleibt bestehen.

Die Notwendigkeit rührt daher, dass die Ideen der Arbeiter_innen uneinheitlich sind. Einige wollen dem Kapitalismus den Kopf abreißen, andere sind Reaktionäre, die sich ins System einkaufen. Die Mehrheit sitzt irgendwo dazwischen mit fortschrittlichen und rückständigen Ideen. Eine reformistische Partei – wie die Labour Party in England (oder die SPÖ in Österreich) verleibt sich all diese Widersprüche ein, und lässt am Ende die rückständigen Ideen triumphieren. Eine revolutionäre Partei organisiert die kämpferischsten Aktivist_innen.

Um effektiv zu sein, kann eine revolutionäre Organisation nicht einfach während einer Revolution gegründet werden. Lenins bolschewistische Partei wurde vor 1905 und 1917 unter schwierigen Bedingungen aufgebaut. Sie hatte Ideen erprobt, Fehler gemacht, Lektionen gelernt und sich in der Arbeiter_innenbewegung Respekt verschafft. Sie hatte auch aus den Kämpfen der Arbeiter_innenbewegung gelernt. Während der Revolutionen von 1905 und 1917 gründeten russische Arbeiter_innen spontan die Sowjets (Arbeiterräte). Lenin erkannte in ihnen „Organe der revolutionären Herrschaft“. Und als er im Oktober 1917 begriff, dass sie die Grundlage eines neuen Arbeiterstaates sind, erhob er die Losung: „Alle Macht den Sowjets“.

Ein Grund, warum Lenin konsequent für eine Revolution eintrat, ist sein Verständnis für die Rolle des Staates in der kapitalistischen Gesellschaft. In seiner Schrift Staat und Revolution argumentierte Lenin gegen die Vorstellung, dass der Staat ein neutrales Organ sei. „Der Staat ist ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ für die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere“, schrieb er. „Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen Staat geben“. Wahlen und Parlament geben ein gewisses Maß an eingeschränkter Demokratie. Aber der kapitalistische Staat wird von einer riesigen, nicht gewählten Bürokratie aus Beamten, Richtern, Generälen und Spionen geführt. Unterstützt werden sie von der Polizei und der Armee und deren Androhung von Gewalt – was Lenin als „besondere Formationen bewaffneter Menschen“ bezeichnete.

Sie kümmern sich um die Interessen der Konzerne, die alle wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen. Deshalb können Arbeiter_innen den bestehenden Staat nicht für sich nutzen, um damit die Gesellschaft zu verändern. Sie müssen ihre eigenen demokratischen Organisationen gründen und in einer sozialistischen Revolution die politische Macht für sich selbst übernehmen. Seit Lenin schrieb, hat sich der Staat verändert, aber seine repressive Funktion bleibt bestehen.

Die Russische Revolution von 1917 war eine echte sozialistische Revolution, in der die Arbeiter_innen die Macht ergriffen haben und die Gesellschaft kurzzeitig alleine regierten. Lenin war sich immer darüber im Klaren gewesen, dass sich die Revolution auf andere weiter entwickelte Länder ausbreiten müsste oder „wir gehen unter“. Die revolutionäre Welle in Europa war nicht erfolgreich, wodurch die Russische Revolution isoliert blieb. Vierzehn imperialistische Armeen marschierten ein, um Kräfte zu unterstützen, die eine Rückkehr zur alten Ordnung wollten. Der Bürgerkrieg verwüstete die Arbeiter_innenklasse, die die Revolution gemacht hatte, und höhlte die Sowjets aus und untergrub dadurch die Basis der Arbeiter_innenmacht.

Die Bolschewiki blieben an der Spitze einer riesigen Bürokratie und versuchten verzweifelt, einige der Errungenschaften der Revolution zu verteidigen. Doch Joseph Stalin verkörperte einen konterrevolutionären Bruch. Alle sozialen Errungenschaften – Abtreibung, Scheidung, Legalisierung der Homosexualität – wurden rückgängig gemacht. Die letzten Überreste der Arbeiter_innenkontrolle wurden abgeschafft. Bis 1930 hatte die von Stalin geführte Bürokratie ihre eigenen Klasseninteressen entwickelt. Russland wurde zu einem staatskapitalistischen Land, das Arbeiter_innen ausbeutete und mit Rivalen im Westen konkurrierte. Das war keine unvermeidliche Folge von Lenins Ideen oder von diktatorischen Bestrebungen. Seine Ideen können immer noch helfen, gegen ein brutales System zu kämpfen.