Malcolm X – Der Weg zur Revolution
In einer Rede im Jänner 1965, einen Monat vor seiner Ermordung, prophezeite Malcolm X soziale Erhebungen und eine weltweite Revolution in naher Zukunft: „Ein Zusammenstoß zwischen den Unterdrückten und jenen, die die Unterdrückung zu verantworten haben, ist in meinen Augen unausweichlich. Ich glaube, dass es zu einem Zusammenstoß kommen wird zwischen jenen, die Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit für alle wollen, und jenen, die das Ausbeutungssystem aufrechterhalten wollen … Es ist falsch, die Rebellion des Negers („Negro“ im Original, Anm.) einfach als Rassenkonflikt zwischen Schwarzen und Weißen oder als ein rein amerikanisches Problem zu betrachten. Was wir heute erleben, ist vielmehr eine globale Rebellion der Unterdrückten gegen den Unterdrücker, der Ausgebeuteten gegen den Ausbeuter.“
Malcolms Fähigkeit so viele Menschen ansprechen zu können, war es, was ihn als Redner, Aktivist und Revolutionär ausgemacht hat. Sein kompromissloser Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit brachte ihm den Respekt von radikalisierten Menschen auf der ganzen Welt ein – in einer Zeit, die durch antikoloniale Aufstände geprägt war. Seine revolutionären Ideen waren ihm allerdings nicht angeboren. Sie formten sich Hand in Hand mit seinen persönlichen Erfahrungen und im Schoß einer Bewegung, die reale materielle Verbesserungen, Demokratie und Gleichheit einforderte.
Klima rassistischer Gewalt
Geboren als Malcolm Little im Jahr 1925 in Omaha, im Staat Nebraska, wuchs er in einem Klima rassistischer Gewalt auf. Seine Eltern wurden wegen ihrer Unterstützung für Marcus Garveys Universal Negro Improvement Association (UNIA), die für eine Verbesserung der Lage der Schwarzen weltweit eintrat, regelmäßig von rassistischen Mobs angegriffen.
Nachdem sein Vater tot aufgefunden wurde (wahrscheinlich wurde er von Rassisten ermordet), erlitt Malcolms Mutter einen Nervenzusammenbruch. Der junge Malcolm wanderte durch mehrere Institutionen, bevor er schließlich bei seiner Schwester in Harlem, New York einzog. Mit Anfang Zwanzig betätigte er sich als Kleinkrimineller, bis er wegen Einbruchs ins Gefängnis kam. Dort geriet er unter den Einfluss der Nation of Islam. Diese Erfahrungen prägten seine Ansichten über Rassismus und das Wesen der amerikanischen Gesellschaft.
Die Nation of Islam war eine ausschließlich schwarze Organisation ohne Anbindung an die Hauptströmungen des Islam. Sie vertrat die Meinung, die Weißen seien das Produkt eines genetischen Experiments und ihre Zeit auf Erden neige sich dem Ende zu. Die Schwarzen hätten die Pflicht, sich von der weißen Gesellschaft abzusondern und sich auf das Jüngste Gericht vorzubereiten – und in der Zwischenzeit schwarze Unternehmen zu gründen.
Ein Netzwerk, das Unterstützung bietet
Die Nation übte enormen Reiz auf verfolgte und marginalisierte Menschen aus. Sie bestand aus einem Netzwerk von Moscheen und Geschäften, das den Opfern des rassistischen Systems Zuflucht und Unterstützung bot. Malcolm X war 14 Jahre lang Mitglied der Nation of Islam. Dank seinem politischen Scharfsinn und seiner intellektuellen Schlagfertigkeit erklomm er schnell die Leiter der Organisation und wurde 1963 vom Anführer Elijah Muhammed zum Sprecher der Organisation ernannt. Während er die „Schwarze Muslimbewegung“, wie er sie nannte, von innen umkrempelte, wurde die US-Gesellschaft draußen von einer aufsteigenden Flut erfasst.
Es begann im Juni 1953 mit einem Boykott der örtlichen Busgesellschaft von Baton Rouge, einer segregierten Stadt im Südstaat Louisiana, wegen der dort praktizierten Trennung von weißen und schwarzen Passagieren. Diese Aktion war der Zündfunke für weitere niedrigschwellige Kampagnen gegen die so genannten Jim Crow-Gesetze, die die Rassendiskriminierung zementierten.
Unter Jim Crow waren Schwarze von der Politik ausgeschlossen und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Jobs, Wohnungen und das Stimmrecht wurden ihnen vorenthalten. Und sie wurden regelmäßig von weißen Rassistenmobs gelyncht, sobald sie „aufmüpften“. White Power-Organisationen wie der Klu Klux Klan (KKK) bekämpften erbittert jeden Integrationsschritt. Systematischer Terror war ihr Mittel der Wahl, um den Schwarzen in den Südstaaten Angst einzuflößen.
Im Ghetto
In den Nordstaaten, in denen die Sklaverei 1863 durch die Emanzipations-Proklamation abgeschafft worden war, hatten es die Schwarzen leichter. Zwischen 1910 und 1970 zogen mehr als 6,6 Millionen Schwarze vom Süden in den industrialisierten Norden auf der Suche nach Arbeit und einem Leben ohne Rassismus. Dort angekommen landeten sie allerdings in Ghettos und wurden in herabwürdigende und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gedrängt, in denen sie weniger als ihre weißen Kollegen verdienten. Die formale Segregation war zwar abgeschafft, aber der Rassismus und die rassistische Gewalt grassierten auch hier.
Im Dezember 1955 wurde Rosa Parks, eine junge Schwarze aus Montgommery, Alabama, verhaftet, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizugeben. Mit ihrem couragierten Akt begann eine bescheidene Kampagne, die binnen eines Jahres zu einer bundesweiten, millionenstarken Bewegung heranwuchs.
Taktik der Gewaltlosigkeit
Während der Bürgerrechtsbewegung spielten die schwarzen Kirchen der Südstaaten und Geistliche wie Martin Luther King eine zentrale Rolle. Von der Kanzel zitierten sie biblische Schilderungen von unendlichem Leid, die an die Erfahrungen ihrer Zuhörer mit der Rassentrennung anknüpften. Die christliche Lehre, man solle „die andere Wange hinhalten“, und die Begeisterung für Freiheitskämpfer wie Gandhi prägten die Strategie der Gewaltlosigkeit. Mit dieser auf mehr Legitimität zielenden Taktik der Gewaltlosigkeit konnte die Bewegung weit in die Gesellschaft ausgreifen.
Die Ablehnung von Gewalt machte es leichter für Schwarze, die die KKK, Lynchmobs und eine rassistische Polizei konfrontieren mussten, sich in die Bürgerrechtsbewegung einzubringen, denn sie bot ihnen ein sichereres Kanal, ihren Protest kundzutun, und eine verminderte Gefahr gewalttätiger Vergeltung. Die Bilder friedlich protestierender Schwarzer, die von Südstaaten-Cops mit grausamer Gewalt traktiert werden, zeugen vom Mut der Bürgerrechtler. 1964 sah sich der US-Kongress schließlich gezwungen, das Bürgerrechtsgesetz zu verabschieden, das rassistische Diskriminierung und die Jim Crow-Segregation ächtete. Es änderte aber nichts am Alltagsrassismus, der die Mehrheit der schwarzen Menschen marterte.
„Der Hass, der Hass hervorrief“
Diese Sackgasse bildete den Hintergrund für Diskussionen über die richtige Strategie. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), das die jüngeren Elemente der Bürgerrechtsbewegung zusammenfasste, radikalisierte sich zusehends. Die Black Panther Party wurde gegründet, die für bewaffneten Widerstand gegen den Polizeirassismus eintrat. Trotz des Aufschwungs der Bürgerrechtsbewegung verordnete die Nation of Islam ihren Mitgliedern, sie konsequent zu meiden, weil sie vom Endziel einer getrennten schwarzen Gesellschaft ablenke. Malcolm X war der wortgewandteste Vertreter dieser Absonderung.
Bei seinem Auftritt in der TV-Doku „Hate That Hate Produced“ („Der Hass, der Hass hervorrief“) sagte er: „Wenn jemand mir ein Messer neun Zoll tief in den Rücken stößt, um es danach wieder sechs Zoll wieder raus zu ziehen, tut er mir doch keinen Gefallen. Er hätte mich gar nicht erst abstechen dürfen … In der Epoche der Sklaverei haben sie uns 310 lange Jahre äußerst bestialisch misshandelt, um unseren Willen zu brechen, und dann zaubern sie so eine Emanzipationserklärung hervor … Und heute läuft der weiße Mann herum und bildet sich tatsächlich ein, er würde den Schwarzen einen Gefallen tun.“
Für das Recht auf Selbstverteidigung
Malcolm missbilligte die Taktik der Gewaltlosigkeit und trat für das Recht auf Selbstverteidigung ein. „Bleib friedlich, sei artig, achte das Gesetz, zeige vor jedem Respekt, aber wenn jemand Hand an dich legt, befördere ihn ins Grab … Wenn wir auf weißen Rassismus gewaltsam reagieren, ist das in meinen Augen kein schwarzer Rassismus. Wenn du mir einen Strick um den Hals legst und ich erhänge dich dafür, ist das für mein Dafürhalten kein Rassismus. Dein Tun ist Rassismus, aber meine Reaktion darauf hat nichts mit Rassismus zu tun.“
Sein Kampfgeist und sein beharrliches Insistieren auf dem Standpunkt, dass alle weißen Menschen »Teufel« seien, sonderten ihn von der Bürgerrechtsbewegung in ihren Anfangsjahren ab. In dem Maße aber, wie die neue radikalisierte Generation sich von ihrer pazifistischen Führung immer mehr entfremdete, gewann er immer mehr Anhänger für seine Ideen. Malcolm wurde zur radikalen Stimme der Kampagne gegen Polizeigewalt, Slumlords und Ausbeuterbetriebe im Norden wie auch gegen den institutionellen Rassismus im Süden. Auf unzähligen Veranstaltungen und in zig Interviews artikulierte er die Wut und die Entfremdung der Schwarzen.
Die Profiteure des Rassismus
Als die Bewegung auf immer mehr Sympathie und Unterstützung auch unter Weißen stieß, entbrannte eine Diskussion über das Wesen des Rassismus und darüber, wer Teil des Kampfs dagegen sein könne. Je mehr junge weiße Aktivisten von der Bewegung angezogen wurden, desto fraglicher erschien die Strategie der Nation of Islam.
Die Politik der Absonderung basierte auf der Annahme, dass die Unterdrückung der Schwarzen den gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnissen geschuldet war, in denen alle Weißen Agenten des Rassismus seien – ob in Gestalt von rassistischen Sprüchen in der Öffentlichkeit, von Richtern und Polizeibeamten, die Schwarze als Kriminelle behandelten, von Misshandlung und Gewalt durch Individuen oder durch White Power-Organisationen.
Diese Analyse ist nachvollziehbar, berücksichtigt aber nicht, wer vom Rassismus profitiert. Weiße Arbeiter werden zu der rassistischen Einstellung fehlgeleitet, sie hätten mehr mit ihren weißen Bossen gemein als mit ihren schwarzen Kollegen und Kolleginnen. Der Kapitalismus beruht jedoch auf der Ausbeutung von Arbeitern aller Farben. Arbeiter und Arbeiterinnen haben das Potenzial, die Kapitalisten in die Knie zu zwingen, indem sie die Produktion zum Stillstand bringen. Als Klasse werden sie aber zugleich unter ein ideologisches Trommelfeuer genommen, um ihre Einheit zu brechen und mit immer neuen Spaltungen die Unterdrückung aufrechtzuerhalten.
Bruch mit der Nation of Islam
Malcolm war sich bewusst, dass die schwarzen Muslims in den Augen vieler Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung zwar viel von Widerstand redeten aber vom realen Kampf für schwarze Rechte abseits standen. Malcolms Bruch mit der Nation geht spätestens auf das Jahr 1963 zurück. Der letzte Schritt war seine öffentliche Missachtung der Organisationslinie anlässlich der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy. „Chickens came home to roost (was so viel bedeutet wie „die vergangenen Fehler haben sich gerächt“, Anm.), und als ehemaliger Farmjunge kann ich nur sagen, heimkehrende Hühner haben mich niemals traurig gemacht, sie haben mich immer glücklich gemacht.“ Wegen dieses Kommentars wurde seine Mitgliedschaft in der Nation für 90 Tage ausgesetzt.
Im März 1964 verkündete Malcom dann seinen formellen Bruch mit der Nation. Fortan warf er sich mit seinen ganzen Energien in die Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegung, mit dem festen Vorsatz, den äußerst radikalen Flügel zu stärken. Ihm war bewusst, dass sie für mehr als nur gesetzliche Veränderungen kämpfen musste.
„Ich werde ihnen auch sagen, dass die so genannte Negro Revolution in den USA ein Täuschungsmanöver ist, denn sie brauchen nur das Versagen dieser vermeintlichen Revolution, irgendwelche konkreten Verbesserungen im letzten Jahr zustande zu bringen, in den Augenschein zu nehmen. Ich werde ihnen sagen, was eine wirkliche Revolution ist: die Französische Revolution, die Amerikanische Revolution, Algerien, um nur einige zu nennen. Es kann keine Revolution ohne Blutvergießen geben, und es ist einfach Nonsens, die Bürgerrechtsbewegung der USA als Revolution zu bezeichnen.“
Radikalisierung
Malcolms Ideen unterlagen einem Wandel, und radikalisierten sich weiter mit seinem Beitritt zum sunnitischen Islam und seiner Wallfahrt nach Mekka. Was er dort erlebte, erschütterte seinen Glauben an den „weißen Teufel“: „Ich sprach mit dem algerischen Botschafter, ein wahrer Kämpfer und Revolutionär … er war Afrikaner, zugleich aber Algerier, und nach seinem Äußeren ein Weißer.“
Er hatte Begegnungen mit afrikanischen Revolutionären, die unter dem Banner der nationalen Selbstbefreiung gegen den Kolonialismus gekämpft hatten. Ihm gefiel der Umgang mit einer neuen Generation von politischen Führern wie Kwame Nkrumah in Ghana und Gamal Abdel Nasser in Ägypten. Es war während seines Besuchs in Algerien, das seine Unabhängigkeit von Frankreich in einem erbitterten Krieg errungen hatte, dass er seinen Begriff von Revolution entwickelte.
Die nationalen Befreiungsbewegungen, die zu jener Zeit in allen Weltteilen aufkamen, waren gekennzeichnet durch Massenaufstände und Guerillakrieg, oft unter der Führung von Mittelschichten und mit dem Ziel staatlicher Unabhängigkeit und eines Endes der Kolonialherrschaft. Das schiere Ausmaß dieser Bewegungen war ein Beleg für das Bedürfnis nach einer anderen Gesellschaft. Das von den neugegründeten Staaten verwaltete System unterschied sich jedoch nicht wesentlich vom alten. Daher blieb Malcolms Analyse des Staats und was es erfordert, die Macht zu übernehmen und zu behalten, fragmentarisch.
Überwindung des Imperialismus
Malcolm begegnete Menschen aller sozialen Schichten, die das gemeinsame Ziel der Überwindung des Imperialismus vereinte. Diese Erfahrung erschwerte die Identifizierung jener Klasse mit dem Potenzial zur wirklichen Veränderung nicht nur in Afrika, sondern weltweit. Nach seiner Rückkehr in die USA gründete Malcolm die Organisation für Afro-Amerikanische Einheit (OAAU) mit dem Ziel, alle Menschen afrikanischer Herkunft zu vereinen. In seinem letzten Lebensjahr predigte Malcolm regelmäßig revolutionäre Praxis und den Kampf für eine bessere Welt.
Das machte ihn zusehends verdächtig in den Augen des Staats. Während seiner Zeit in der Nation of Islam, als er noch Rassentrennung predigte, erschien er diesem Staat bloß als eine Randfigur und er ließ ihn frei gewähren. Tragischerweise wurde Malcolm ermordet, bevor er seine Vorstellung von Revolution weiterentwickeln konnte. Die Jahre nach seiner Ermordung waren eine Zeit Aufständen – auch in den nördlichen Ghettos – die Malcolm hatte kommen sehen. Malcolm X’ Vermächtnis besteht in der Erkenntnis, dass der Kampf gegen den Rassismus den Kampf gegen das ihn hervorrufende System einschließen muss.
Artikel ist zuerst auf www.socialistreview.org.uk/399/malcolm-x-road-revolution erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von Dave Paenson.