Reform oder Revolution?

Braucht es wirklich eine Revolution, um eine neue, gerechte und nachhaltige Gesellschaft zu errichten? Die meisten Arbeiter_innen würden auf eine weichere Strategie setzen. Sie würden Gewalt mehrheitlich verhindern wollen und hoffen auf positive Veränderungen mittels kleiner Schritte – diese Tendenz nennt sich Reformismus!
5. Oktober 2018 |

Reform oder Revolution? Während Reformisten vor 150 Jahren selten offen zu ihrer Überzeugung standen, gelten Revolutionäre heute als die Exoten im Lager der Arbeiter_innenbewegung. Dazu hat vor allem die Geschichte der Russischen Revolution geführt, die von Stalin derart verraten wurde, dass Sozialismus heute nur mehr für Diktatur und Verrat an allen sozialistischen Idealen steht.

Aber der Missbrauch einer Idee macht sie nicht falsch, er muss allerdings eine Warnung sein, solchen Missbrauch nicht noch einmal zuzulassen. Und die Hochkonjunktur für Reformismus bedeutet nicht, dass er die zielführende Politik darstellt. Wenn die „Reformist_innen“ einen ehrlichen Blick auf ihre Erfolge wagen, müssen sie zu einem nicht sehr glorreichen Resümee kommen. Denn wir erleben weltweit keinen Kampf um graduelle Verbesserungen durch die sozialdemokratischen Parteien, sie sind maximal darum bemüht, Verschlechterungen zu verhindern oder abzufedern.

Die sozialdemokratischen Bewegungen in den Industriegesellschaften durchlaufen einen „Reformismus ohne Reformen“, mit all den negativen Auswirkungen, den das für ihre Basis hat.

Frühe Reformisten

Natürlich tendierte auch schon zu Karl Marx‘ Lebzeiten ein Teil des sozialdemokratischen Lagers zu Reformismus, aber rein rhetorisch waren die frühen Sozialist_innen dem Sturz des Kapitalismus verpflichtet. Bei der Entstehung der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ („Erste Internationale“) im Jahr 1865 wurde in deren Gründungstext festgestellt: „In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; … dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, d.h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zugrunde liegt – allem gesellschaftlichen Elend, aller geistigen Verkümmerung und politischen Abhängigkeit; dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der große Endzweck ist, dem jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen ist.“

Zu dieser Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Sozialist_innen der erst aufkommenden Gewerkschaftsbewegung gegenüber skeptisch bis verständnislos und feindselig eingestellt. Kämpfe um höhere Löhne seien eine Ablenkung vom eigentlichen Ziel, dem Sturz der kapitalistischen Ordnung. John Weston, ein Mitglied des Generalrates der Ersten Internationale wollte die Haltung durchsetzen, dass es für Arbeiter_innen nutzlos oder sogar schädlich wäre, für höhere Löhne zu kämpfen, weil Lohnerhöhungen nur höhere Preise bewirkten oder zu niedrigeren Löhnen in anderen Wirtschaftszweigen führten.

Ohne Kampf um kleine und große Reformen hätten wir noch dieselben brutalen Zustände © AdsD

 

Marx argumentierte dagegen, dass Löhne zulasten der Profite erhöht werden können. Der Lohn als Wert der Ware Arbeitskraft umfasst nicht einfach das physische Existenzminimum, sondern enthält auch ein historisches und gesellschaftliches Element. Marx widersprach Weston in Form einer Rede, die heute als die Broschüre „Lohn, Preis, Profit“ im Umlauf ist.

Für gewerkschaftliche Kämpfe

Aber Marx betont auch die „Abschaffung des Lohnsystems“, also den Sturz des Kapitalismus, als eigentliches Ziel der organisierten Arbeiterbewegung. Denn die Kapitalisten können auf Profit nicht verzichten und werden deshalb immer wieder versuchen, Löhne zu senken und Arbeitszeit zu verlängern.

Marx antwortet John Weston, dass der Kampf für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten zwar eine Sisyphusarbeit sei, aber notwendig, um über die „Minimalgrenze“ des Lohns zu kommen. Zudem sei dieser Kampf eine Schule für die Arbeiterklasse, unter dem Banner „Nieder mit dem Lohnsystem“.

Kräfteverhältnisse immer mehr zu Gunsten des Kapitals verschieben, „besagt das etwa, dass die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen? Täte sie das, sie würde degradiert zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter, armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. … Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“

Anders gesagt: Würden Arbeiter_innen nicht den kollektiven Streik, ihre stärkste Waffe, nutzen, um für bessere Löhne, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, dann würden sie erst recht niemals für das Ende ihrer Ausbeutung kämpfen.

Krieg im roten Lager

Rosa Luxemburg war die erste marxistische Denkerin, die sich konzentriert mit der Tendenz zu passivem Abwarten innerhalb der sozialdemokratischen Parteien auseinandergesetzt hat. 1899 schrieb sie das Pamphlet „Sozialreform oder Revolution“.

Rosa Luxemburg hat fast ihr gesamtes politisches Leben dem Kampf gegen den rechten Flügel der SPD gewidmet © Commons

 

Ihre Partei, die SPD, war formell noch immer der Revolution verpflichtet, aber in der Praxis neigte die SPD zur Passivität und zu Kompromissen mit dem Kaiserreich. Beides passte überhaupt nicht zu einer offiziell revolutionären Partei, für die die Selbstaktivität ihrer Mitglieder und der ganzen Arbeiterklasse im Kampf gegen die herrschende Ordnung ein zentraler Bestandteil ihrer täglichen Praxis sein müsste. Und die Tendenz der SPD zur Passivität hatte auch einen eigenen Theoretiker hervorgebracht – Eduard Bernstein! An seinem Buch von 1899 „Die Voraussetzung des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ arbeitet sie sich in ihrem Pamphlet ab.

Bernstein, wie beinahe alle Sozialisten seiner Zeit, hielt ja an dem Ziel des Sozialismus für die Arbeiterbewegung fest, und behauptete, es ginge ihm vor allem darum, nicht vorzeitig die Macht zu ergreifen, sondern über die Einführung zahlreicher gesetzlicher und staatlicher Reformen den Boden zu bereiten und die Gemüter der Genoss_innen reifen zu lassen. Aber das Festhalten am Ziel des Sozialismus war schon damals nur vorgeschoben, wie Rosa Luxemburg in ihrer Anklage des Reformismus feststellte.

Diejenigen, die für Reform und den Weg der Verhandlungen anstelle des Kampfs eintraten, die wollten gar nicht mehr Sozialismus erreichen, sie wollten ihren Platz an der Sonne des bestehenden Systems.

Sie schrieb: „Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.

Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten des Revisionismus zu demselben Schluss, wie von seinen ökonomischen Theorien: dass sie im Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen.“

Wie sehr sie Recht hatte, ist eine der größten Tragödien der Geschichte. Luxemburg wurde am 15. Jänner 1919 auf Befehl von Männern aus der SPD-Spitze grausam ermordet, um der deutschen Revolution, mit der damals jederzeit zu rechnen war, den Kopf abzuschlagen.

Rosa Luxemburg traf mit ihrer Kritik ins Schwarze, denn der Kampf um die „Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse“ ist tatsächlich das Maximalprogramm von Reformisten heute.

Heute beschränken sich reformistische Kämpfe meist darauf, Verschlechterungen zu verhindern © Foto: SPÖ Presse und Kommunikation (CC BY-SA 2.0)

 

Meist, und ganz sicher im Fall der österreichischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, beschränken sich reformistische Themen auf das „Halten der Stellung.“ Wobei man hier einen deutlichen Unterschied zwischen Partei und Gewerkschaften machen muss und zwischen reformistischer Politik und gewerkschaftlichen Kämpfen.

Den reformistischen Parteien geht es vor allem um genügend Stimmen und Rückhalt aus der Arbeiter_innenbewegung, um als Verhandlungspartner des Kapitals unverzichtbar zu sein – aber die Reformen an sich sind Nebensache! So verstärken sie Abgleiten in die Passivität und unsolidarische Haltungen ihrer Basis.

Gewerkschaften dagegen, obwohl sie reformistischen Zielen verpflichtet sind, treten in direkte Auseinandersetzungen mit ihrem Klassengegner. Früher oder später mobilisieren sie ihre Mitglieder. Sie ermutigen sie so zum entscheidenden Element von Selbstaktivität, wo Arbeiter_innen selbst Erfahrungen mit Sieg und Niederlage machen und mit den Veränderungen, die sie selbst und ihre Kolleg_innen durchmachen.

Gegenteiliges Bewusstsein

Auf dieses Element der Selbstaktivität hat Marx so viel Wert legt, weil Kampferfahrung eine wichtige Schule und eine unersetzliche Grundlage für erfolgreiche revolutionäre Kämpfe bildet. Wenn wir als Kollektiv aktiv werden und uns einem ernst zu nehmenden Gegner stellen, dann machen wir Erfahrungen, die alt hergebrachtes Denken konterkariert und rasante Entwicklungen möglich macht.

Reformistische Parteien haben sich nicht wegen erfolgreicher Verschwörungen gegen uns Revolutionäre durchgesetzt, sondern weil die Massen selbst zu Reformismus neigen, wenn sie erstmals Widerstand leisten. In jeder Gesellschaftsform, nicht nur im Kapitalismus, nehmen wir die Gesellschaft als gegeben an. Wir denken, dass die Verhältnisse immer so waren und immer so sein werden, wie wir sie erlebt haben: dass es Reiche und Arme gibt, Bosse und Arbeiter_innen, Polizei und Justiz, etc.

Deshalb verlangen Menschen, wenn sie erstmals aktiv werden, nach einer Verbesserung des Bestehenden, nach einem gerechterem Boss, einem höheren Lohn, mehr Geld für den Sozialstaat. Wir gehen normalerweise nicht mit einer Idee einer anderen Gesellschaft in die Kämpfe.

Echte Opposition ist antirassistisch

Echte Opposition ist antirassistisch

Aber die Erfahrungen, die wir machen, öffnen uns für die Vorstellung, dass wir uns demokratisch organisieren können, dass wir keine Bosse brauchen, keine Polizei und keine Herrscher! Selbstaktivität führt also zu einem höheren Bewusstsein über sich selbst und über die Rolle, die man in der breiteren Gesellschaft spielen kann.

Marx war sich völlig im Klaren, dass Erfahrungen aus Selbstaktivität alleine nicht ausreichen, um gemeinsam zum Sieg über die herrschende Ordnung zu schreiten. Die Arbeiter_innen müssen auch dafür vorbereitet sein, über eine revolutionäre Organisation verfügen, die ihre Kämpfe koordiniert, ihre Erfahrungen verallgemeinert und den Kampf landesweit zum Sieg führen kann.

Während großflächiger Klassenkämpfe, wie sie in tiefgehenden sozialen und politischen Krisen unausweichlich sind, wird die kapitalistische Ideologie immer stärker hinterfragt und das Potential für Massenaktion – unabhängig von der Führung der Reformisten – wird immer wahrscheinlicher und damit auch das Potential für die Entwicklung von großen revolutionären Parteien. Den Kern dafür muss man heute schon setzen!