Sozialdemokratie und Nationalitätenfrage im Habsburgerreich

Das Habsburgerreich beruhte auf der Unterdrückung elf unterschiedlicher Nationalitäten. Die Frage der richtigen Positionierung zur „nationalen Unterdrückung“ war von zentraler Bedeutung für die Arbeiter_innenbewegung. Die österreichischen Sozialdemokraten vertraten dabei zuerst eine fortschrittliche Haltung und versagten erst später mit einem staatserhaltenden Standpunkt komplett.
29. März 2018 |

Der Neudörfler Parteitag von 1874 war der Gründungsparteitag der österreichischen Sozialdemokratie (SDAP). Das Programm, welches am Parteitag mit 69 zu 5 Stimmen beschlossen wurde, war ein Meilenstein der revolutionären Arbeiter_innenbewegung. Nicht nur bürgerliche Freiheiten wie Wahlrecht, Pressefreiheit usw. wurden zum Parteiprinzip erhoben, sondern auch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und vor allem „das Selbstbestimmungsrecht der Völker“.

Damit forderten die Delegierten die Auflösung des „Völkergefängnisses“ Österreich-Ungarns. Die Sozialdemokratie konstituierte sich als multinationale – das gesamte Habsburgerreich umfassende – Partei mit nationalen Fraktionen. Karl Marx feierte das Programm in einem Brief an Friedrich Adolphe als „großen Fortschritt, der trotz schwierigster Umstände erreicht wurde“. Die SDAP hätte es geschafft, „die slawischen Arbeiter in Prag und anderswo zu gemeinsamer Tätigkeit mit den deutschen Arbeitern (=deutsch-österreichische) zu bestimmen“.

Einigungsparteitag Hainfeld

Andreas Scheu: der Kopf hinter dem Neudörfler Programm. Nach dem Parteitag wurde er des Landes verwiesen

Im Jahrzehnt nach dem Neudörfler Parteitag verhinderten politische Streitigkeiten über die richtige Ausrichtung der Partei und eine ökonomische Krise das Anwachsen der Organisation zur Massenpartei. Am Hainfelder Parteitag von 1889 sollte die gespaltene Partei wiedervereint werden. Es gelang Victor Adler und seinen Anhängern jedwede inhaltliche Debatte im Keim zu ersticken.

Die Nationalitätenfrage wurde bewusst aus den Diskussionen und dem abschließenden Programm ausgeklammert. Der Einigungsparteitag in Hainfeld war ein erster Schritt von Victor Adler, die Sozialdemokratie zu einer staats- und kaisertreuen Partei umzugestalten.

Begünstigt durch eine rasante wirtschaftliche Entwicklung wurde Prag neben Wien zum industriellen Zentrum des Habsburgerreiches. Gestärkt durch diese Entwicklungen forderten die Tschechen nationale Autonomie. Ähnlich wie die Ungarn während des Österreichisch-Ungarischen Ausgleiches 1867 wollten auch sie Selbstverwaltungsrechte.

Nachdem die Versuche der Habsburger, den Konflikt zu befrieden, 1897 endgültig scheiterten und die tschechische Arbeiter_innenbewegung immer mächtiger wurde, mussten Adler und Co. zum Nationalitätenkonflikt Stellung beziehen.

Nationalitätenprogramm 1899

Victor Adler erarbeitete im Jahr 1899 das Brünner Nationalitätenprogramm. In diesem wird die Umwandlung des Habsburgerreiches in einen „demokratischen Nationalstaatenbund“ und die Anerkennung der „nationalen Kultur“ gefordert, jedoch wird den unterdrückten Nationen kein Selbstbestimmungsrecht zugestanden.

Der Sozialdemokrat Benedikt Kautsky kritisierte das Nationalitätenprogramm Adlers in seiner Schrift Geistige Strömungen im Österreichischen Sozialismus als eine: „Interessensgemeinschaft zwischen der Krone und Sozialdemokratie, die beide den Bestand des Staates gegen die zentrifugalen Kräfte der nationalen Parteien verteidigten.“

Rassismus

Etwa 10% der Wiener Bevölkerung waren zugewanderte Tschech_innen. Sie organisierten sich nicht innerhalb der österreichischen Fraktion der SDAP, sondern in der tschechischen Fraktion, welche eigene Parteistrukturen in Wien hatte. Die Löhne der tschechischen Arbeiter_innen waren im Durchschnitt ein Fünftel niedriger als die der Österreicher_innen.

Rassistische Attacken durch Deutschnationale standen auf der Tagesordnung, beispielsweise in der Auseinandersetzung um die tschechische Komensky-Schule. Der leidenschaftliche Antisemit und Bürgermeister Karl Lueger verlangte die Schließung der Schule. Die SDAP beteiligte sich nicht an den Angriffen, trotzdem stimmte sie im Gemeinderat wiederholt gegen Anträge der tschechischen Sozialdemokratie auf Förderung der Schule. Die SDAP wollte die Assimilation der tschechischen Arbeiter_innen.

Verschlimmert und gerechtfertigt wurde dieses Vorgehen dadurch, dass sich in Texten der Sozialdemokratie eine durch marxistische Phrasen versteckte Verachtung für die slawischen Völker finden lässt. Den Tiefpunkt stellte Otto Bauers 1907 geschriebene Broschüre Sozialdemokratie und Deutschtum dar – er war der Kopf des linken austromarxistischen Flügels. Er warnte darin vor zu hohen Geburtenraten der Tschechen!

Es ist wichtig festzuhalten, dass sich Bauers Text klar gegen die Deutschnationalen richtete, trotzdem betonte er eine grundsätzliche geistige und moralische Überlegenheit der Deutschen (= Österreicher). Victor Adler war kaum besser und äußerte in einem Brief an Karl Kautsky seine Sorge vor der „Slovenisierung oder Czechisierung von deutschen Kindern“.

Kongress der sozialistischen Internationalen 1910 in Kopenhagen. Links hinter Victor Adler (zweite Reihe, 3. von links) steht der russische Revolutionär Leo Trotzki. Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges löste sich die Internationale auf © Verein zur Geschichte der Arbeiterbewegung

Zerfall des Reiches

Die Mischung aus Identifikation mit dem Staat und Verachtung für die Unterdrückten brachten das Projekt einer geeinigten Sozialdemokratie im Habsburgerreich zum Kollabieren. 1911 gründeten die Tschechen, etwas später die Süd-Slawen, dann die Südtiroler, eigene Parteien.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ausgelöst durch das Attentat eines serbischen Freiheitskämpfers auf den zukünftigen Herrscher des Habsburgerreiches, Franz Ferdinand, verblieb die SDAP in kompletter Orientierungslosigkeit. Sie versuchte nicht, eine Antikriegsbewegung für den Zerfall des Reiches aufzubauen, sondern stellte sich bedingungslos auf die Seite der Krone.

Ende 1917 war der Zerfall des Habsburgerreiches schon in vollem Gange. Aufstände von ehemaligen Kriegsgefangenen und Soldaten der unterdrückten Nationen stellten die Herrscher vor eine schwere Probe. Durch die Ausbreitung des Jännerstreiks, von Wien bis in die Ukraine, wurde klar, dass der Zerfall des Habsburgerreichs nur mehr eine Frage der Zeit war.

Am 20. Jänner 1918 forderte Otto Bauer mit dem Nationalitätenprogramm der Linken plötzlich doch das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Dieses Programm war ein letzter Versuch, das Reich zu retten. Bauer hoffte, dadurch, dass man den Unterdrückten gnädig das „Selbstbestimmungsrecht“ gewährte, könnte er die Nationalen Befreiungsbewegungen zum Einlenken bringen. Der Versuch scheiterte, die unterdrückten Völker lösten sich los und sorgten für das Ende der 600-jährigen Terrorherrschaft der Habsburger.

Scheitern der SDAP

Die Frage der Positionierung zu nationaler Unterdrückung ist heute genauso bedeutsam wie damals. Der Marxist Roman Rosdolsky lieferte in seiner Schrift Das Problem der geschichtslosen Völker bei K. Marx und Fr. Engels eine treffende Kritik der klassischen marxistischen Position zur Nationalitätenfrage. Schon Marx und Engels begingen in ihren Schriften aus der 1848er Revolution und auch später den Fehler, den slawischen Nationalismus als durchwegs reaktionär und „geschichtslos“ einzuschätzen.

Otto Bauer rückte zwar von der Idee der „geschichtslosen Völker“ stellenweise ab, beispielsweise argumentierte er, die Tschechen seien, begünstigt durch die kapitalistische Entwicklung, zu einer echten Nation geworden. Trotzdem tat er die Forderung nach dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in seinem Werk Nationalitätenfrage und Sozialdemokratie als „naiver Kosmopolitismus“ ab.

Der russische Revolutionär Lenin entwickelte die überzeugendste Position. Im Gegensatz zu Otto Bauer ging er das Problem der nationalen Unterdrückung nicht kulturell sondern politisch an. Er wusste, um die herrschende Klasse zu besiegen, müsste man alle Konflikte, welche die kapitalistische Ordnung zwangsläufig mit sich bringt, gegen sie verwenden.

Emmy Rosdolsky

Emmy Rosdolsky

Deshalb müssten Sozialist_innen grundsätzlich auf der Seite der unterdrückten Völker stehen und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker kämpfen. So schwächen sie einerseits die herrschende Klasse der unterdrückenden Nation und andererseits eröffnet es ihnen die Möglichkeit, eine Einheit der Arbeiter_innenbewegung in der unterdrückten und der unterdrückenden Nation herzustellen.

Den Völkern des zaristischen Reichs wurde nach der Revolution konsequent das Recht auf Selbstbestimmung eingeräumt. Die meisten entschieden sich freiwillig, in einem Staatenbund mit Russland zu bleiben.

Behält man Lenins Position im Hinterkopf, wird klar, wie verheerend die Rücknahme des Neudörfl-Programmes war. Eine SDAP, die sich – ähnlich wie Lenin in Russland – ohne Abstriche eingesetzt hätte für das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, hätte eine Einheit aus österreichischen Arbeiter_innen und unterdrückten Völkern herstellen können.

Gemeinsam wäre eine Revolution möglich gewesen. Anstatt sich mit den Kapitalisten auf ein Programm zur Rettung der Heimat einzulassen, hätte man in den unterschiedlichen Ländern des Habsburgerreiches den Sozialismus aufbauen können.