Syrien: Blutbad gegen die Revolution
Im Jahr 2011 erschütterten Revolutionen den Nahen Osten. Millionen Menschen gingen gegen die herrschenden Diktaturen auf die Straße. Die Revolution gegen die Diktatur von Baschar al-Assad ging weiter: Der Diktator verlor die Kontrolle über große Teile des Landes.
Befreiten Zonen
In den „befreiten Zonen“ wurden Koordinierungsräte gebildet (arabisch: tansiqiyyat). Diese Koordinierungsräte entstanden „von unten“: Es waren die einfachen Menschen, die sie auf Eigeninitiative aufbauten. Angehörige unterschiedlicher religiöser und ethnischer Gruppen waren in ihnen vertreten. Die Organisation geschah entlang von Stadtvierteln. Die Räte erfüllten zwei Funktionen: Sie organisierten Proteste gegen Assad und kümmerten sich um die Versorgung der Bevölkerung. Krankenhäuser, Schulen, Frauenzentren, die Verpflegung mit Lebensmitteln – alles wurde in den „befreiten Zonen“ von den Räten organisiert. Das politische und kulturelle Leben blühte durch sie auf.
Der syrische Sozialist und Revolutionär Ghayath Naisse schätzt, dass es 2012 weit über 400 unterschiedliche Koordinierungsräte gab. Die Räte waren die größte Bedrohung für Assads Herrschaft. Gezielt bombardierten Assad und sein Verbündeter Russland Schulen und Krankenhäuser – die Einrichtungen der Räte in zivilen Wohngebieten weit abseits der Frontlinien. Alleine im Jahr 2018 wurden 18 Krankenhäuser bombardiert! Das brutale Vorgehen führte dazu, dass heute neben den kurdischen Gebieten nur noch drei bedeutende befreite Zonen überlebt haben, und zwar die Provinzen Daraa, Ghouta und Idlib.
Die größte Stärke dieser Räte, nämlich die Entstehung „von unten“, war zugleich auch eine ihrer Schwächen, denn sie blieben größtenteils regional organisiert, ohne einen einheitlichen Ausdruck der Bewegung. Dies führte dazu, dass der notwendige bewaffnete Kampf gegen Assad von anderen Organisationen geführt wurde.
Bewaffnete Gruppen
Es gibt weit über hundert Milizen in Syrien, zwei von ihnen sind besonders relevant. Die FSA (Freie Syrische Armee) entstand aus der Kooperation von desertierten syrischen Soldaten mit Zivilist_innen. Das Militärkommando der FSA war nicht mit der Räte-Bewegung verbunden. Manche FSA-Einheiten kooperieren mit den Räten. Die FSA als einheitliche Armee gibt es nicht mehr, unterschiedliche Gruppen verwenden das Label.
Aus verschiedenen Gründen, beispielsweise finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten oder Verzweiflung über Assads Terror, wurden im Laufe des Bürgerkriegs islamistische Gruppierungen stärker. Die mächtigste unabhängige Rebellengruppe ist die al-Nusra-Front, ein Ableger von Al-Qaida, welche heute mit anderen islamistischen Organisationen das Bündnis Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), übersetzt „Komitee zur Befreiung der Levante“, bildet. Das Verhältnis von HTS zu den Koordinierungsräten ist vielschichtig: In manchen Orten ermordeten sie die Vertreter_innen; in anderen übernahm HTS zwar die militärische Verteidigung, ließ die Räte aber die zivilen Angelegenheiten regeln.
Provinz Ghouta
Die Provinz Ghouta ist ein Vorort von Damaskus. Mehr als 400.000 Menschen leben hier. Es war eine der ersten Provinzen, die sich von Assads Herrschaft befreiten. Das bedeutete auch, die Schulen genauso wie die Krankenhäuser wurden nicht mehr finanziert. Trotzdem gelingt es den Räten seit sieben Jahren, die Infrastruktur am Laufen zu halten, und das trotz des Krieges gegen sie! Die Provinz ist der lebende Beweis, dass sich die Menschen in Syrien selbst regieren können. Deshalb setzte Assad schon im Jahr 2013 Giftgas (Sarin) in der Region ein. Am 13. Jänner 2018 kam es laut der NGO Syrians For Truth and Justice zu einem erneuten Giftgasangriff.
Die Untätigkeit des Westens verpasste Assad einen Freifahrtschein für Kriegsverbrechen. Zwischen 4. und 9. Februar wurden laut UN 230 Personen durch Luftschläge ermordet. Zivilist_innen sind das Nummer 1 Angriffsziel der Luftwaffe, genauso Ärzte, die versuchen zu helfen. Marwan Khoury, Vorstand der NGO BARADA Syrienhilfe e.V., erklärte in einem Interview: „Es wird bombardiert und dann (mit Drohnen) beobachtet, wo die Verletzten hingebracht werden. Damit werden die Krankenhäuser in der Gegend ausfindig gemacht und anschließend vernichtet“. Die Region leidet außerdem unter Hunger, Assads Soldaten lassen keine Lebensmittel in die Provinz.
Kurdistan
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches (1918) wurde den Kurd_innen von den Kolonialherren (England und Frankreich) das Recht auf nationale Selbstbestimmung verweigert. Die Kurd_innen leben seitdem in unterschiedlichen Staaten; auch im Norden Syriens gibt es Gebiete, in denen Kurd_innen die Mehrheit stellen. Im Jahr 2004 kam es in der kurdisch geprägten Stadt Kamischli zu Massenprotesten gegen das Assad Regime. Die Proteste wurden niedergeschossen. Die Gründung der kurdischen YPG, übersetzt „Volksverteidigungseinheiten“, war eine Reaktion auf diese Gewalt. Die YPG steht der Widerstandsgruppe PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) nahe.
Im Zuge der syrischen Revolution gingen auch in den kurdisch geprägten Regionen Hunderttausende auf die Straße. Assad musste seine Truppen aus den Gebieten abziehen, und die YPG übernahm die Kontrolle. Sie verfolgt das Ziel, in den kurdischen Gebieten, bekannt als Rojava, einen eigenen Staat zu errichten. Die syrische Opposition beging den Fehler, die Autonomie nicht zu unterstützen. Im Jahr 2013 wurde die YPG aus dem syrischen Nationalrat, der eng mit Teilen der FSA zusammenarbeitete, ausgeschlossen. Dies geschah auf Bestreben der Türkei. Seitdem ist die YPG zu einem rücksichtslosen Pragmatismus gezwungen.
Im Jahr 2016 besetzte die YPG die Castello Road, welche nach Aleppo führt. So versuchte sie die Provinz Afrin mit dem im Osten gelegenen Teil von Rojava zu verbinden. Das half Assad dabei, Aleppo auszuhungern, und machte die YPG sehr unbeliebt. Der syrische Revolutionär Yassin-Kassab fasst die Lage in seinem Buch Burning Country zusammen: „Es geht zu weit die YPG als Agenten des Regimes zu bezeichnen. Vielmehr verwendet sie einen rücksichtslosen Pragmatismus. Die Kooperation mit dem Regime hat kurdische Gebiete vor Bombardierung geschützt. Die Skepsis der YPG gegenüber der arabischen Opposition ist gerechtfertigt, solange sich die Opposition weigert den Kurd_innen Autonomie zu garantieren“.
Erdogan nützt Spaltung
Der türkische Präsident Erdogan will einen kurdischen Staat an der Grenze zur Türkei verhindern. Durch die Operation „Euphrat Schild“ im Jahr 2017 wurde der Zusammenschluss von Afrin mit dem Rest von Rojava verhindert. Am 20. Jänner 2018 begann die türkische Invasion in der Provinz Afrin. Afrin grenzt an die „befreite Zone“ Idlib. Überreste der FSA kämpfen auf Seiten Erdogans gegen die YPG, anstatt Idlib gegen Assad zu verteidigen. Sie hoffen darauf, dass Erdogan sie nach dem Erfolg in Afrin gegen Assad und Russland verteidigen oder zumindest bewaffnen wird. Eine falsche Hoffnung.
Ende Dezember 2017 berieten Russland, Iran und die Türkei über die Zukunft Syriens. Die Tatsache, dass Russland einhundert Militärpolizisten aus Afrin abzog, als die türkische Invasion begann, deutet darauf hin, dass es einen Deal zwischen Russland und der Türkei gibt. Dieser könnte in etwa so lauten: Die Türkei darf Afrin erobern und Russland greift nicht ein, dafür bekommt Assad die Provinz Idlib.
Erfolgreicher Widerstand
Erfreulicherweise verzeichneten bis Mitte Februar weder Assad noch Erdogan durchschlagende Erfolge. Der Widerstand der YPG brachte die türkische Offensive schon kurz hinter der syrischen Grenze zum Halten. Die Türkei erlitt schwere Verluste. Auch Assads Offensive in Idlib kam kaum voran. Am 4. Februar gelang es der HTS erstmals, ein russisches Flugzeug abzuschießen.
Was als Revolution anfing, verwandelte sich in ein imperialistisches Schachspiel um Machtausbau, mit Millionen Menschenleben als Spielfiguren. Doch trotz des Krieges existieren die Räte und die „befreiten Zonen“ noch immer! Ghayath Naisse stellte in einem Interview mit der Neuen Linkswende 2016 fest: „Flüchtlinge sind die Zukunft der syrischen Revolution.“ Wenn wir die syrische Revolution in Österreich unterstützen wollen, müssen wir uns zumindest mit allen Menschen, die vor der Brutalität Assads fliehen, solidarisch zeigen.