Ursula Krechel: Geisterbahn
Gibt es für die Opfer ein unbeschadetes Ankommen nach einer so tiefgreifenden Zäsur wie dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg? Wie bei einem Karussell, das wieder am Anfang zu stehen kommt? Geisterbahn ist nach Shanghai fern von wo (2008) und Landgericht (2012) bereits der dritte Roman von Ursula Krechel, der sich mit der düsteren Nachkriegszeit beschäftigt.
Im Zentrum dieses unglaublich breiten Panoramas mit unzähligen Figuren, das sich fast über ein ganzes Jahrhundert erstreckt, stehen zwei Familien aus Trier, dem Geburtsort von Karl Marx: die kommunistische Eisenbahnerfamilie Torgau und die Sinti-Familie Dorn – im Besonderen Aurelia Torgau, die später unter dem Namen Orli Reichert-Wald, dem „Engel von Auschwitz“ bekannt geworden ist, und die fiktive Sintiza Kathi Dorn, die von den Nazis zwangssterilisiert wurde. So einfach, wie bei der Fahrt in einer Geisterbahn, in der die Kinder „Sieger sind, wenn sie wieder im Tageslicht auftauchen“, wenn sie „Schreckliches erlebt und überwunden“ haben, ist es nicht. Aurelia und Kathi zerbrechen beide an der Brutalität der Nachkriegsgesellschaft.
Krechel, selbst Teilnehmerin der 68er-Bewegung, sucht nach Wiedergutmachung, nach Sühne, nach Rache. Wenn etwa die Kinder einer Klasse, die kurz nach dem Krieg geboren wurden (Krechel, Jahrgang 1947, könnte selbst unter ihnen sein), sich kollektiv gegen einen Lehrer auflehnen, der die Schüler das rassistische Lied „Drei Zigeuner“ singen lässt, und die Mutter eines Sinti-Mädchens demselben danach mehrfach in die Rippen boxt, werden Rachegefühle befriedigt – wie in der Schlussszene in Heinrich Bölls bahnbrechendem Roman Billard um halb zehn (1959), als Johanna auf den mit den Nazis sympathisierenden Minister schießt.
Der verlorenen Heimat, dem Umgang mit Folter, Exil und dem unsäglichen Leid ging bereits der österreichische Essayist und Holocaustüberlebende Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne (1966) nach. „Therapie“ hätte nach Améry nur die deutsche Revolution, also der radikale Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft und die damit verbundene schonungslose Entnazifizierung sein können. „Aber die Revolution fand nicht statt, und unsere Wiederkehr war für die Heimat nichts als eine Verlegenheit.“
Geisterbahn trifft nicht nur einen verdammt wunden Punkt unserer Vergangenheit. Auf der Frankfurter Buchmesse bezog sich Krechel explizit auf die Gegenwart: „Der Stoff war mir wichtig, weil die Diskriminierung von Andersaussehenden, Andersdenkenden im Augenblick wieder sehr wichtig geworden ist“. Ein Roman der aufwühlt, verstört, hart ins Gericht geht und Mut macht.