Wann ist es legitim geworden, Parolen der NS-Zeit zu skandieren?
2015. Ich traue meinen Ohren nicht. Rufen die gerade tatsächlich „Lügenpresse“ und „Volksverräter“?! Wann ist es legitim geworden, Parolen der NS-Zeit zu skandieren?! Spätestens genau in dem Moment, 2015. Das, was ich und viele andere Menschen jahrelang subtil im Alltag erfahren haben, bekommt ein Gesicht und geht auf die Straße. Nachbarn, Bekannte, ArbeitskollegInnen. Menschen in Jeans und Sneakers, nicht in Springerstiefeln. Einen Vorteil hat das Ganze: Jetzt merken endlich alle, dass Muslime bzw. Muslimas und auch andere Minderheiten seit Jahren benachteiligt werden. Dass die genervten Blicke in der Straßenbahn keine Einbildung und der Spruch über mein Kopftuch sicher kein Kompliment waren. Die Demonstrationen und Proteste verbreiten sich rasant. 25.000 DemonstrantInnen in Dresden, der Einzug der AfD in die Landtage, der Einzug in den Bundestag.
2018. Die AfD überwindet überall die Fünf-Prozent-Hürde, DemonstrantInnen machen den Hitlergruß und ein gewisser Hans-Georg Maaßen zweifelt die Jagd auf vermutliche „AusländerInnen“ in Chemnitz an. Okay, stopp! Das geht zu schnell. Ich wünsche mich in die Zeit zurück, als ich mich noch über genervtes Augenverdrehen und die Frage nach meiner „tatsächlichen Herkunft“ aufgeregt habe. Ja, jetzt kann jede/r den Rassismus offen sehen. Leider kann jede/r den Rassismus offen sehen.
Denn es scheint in Ordnung zu sein. Er richte sich nicht gegen Juden und Jüdinnen, also könne man kein/e RassistIn sein. Dieselben Leute, die vor einigen Jahren noch den Holocaust gutgeheißen haben, sprechen heute vom „christlich-jüdischen Abendland“. Sie sehen sich als VerteidigerInnen der Juden und Jüdinnen. Ja, sogar der Frauen und Tiere. Scheinheiligkeit in seiner reinsten Form. Als wäre die deutsche Gesellschaft vor der GastarbeiterInnenanwerbung und der zunehmenden Aufnahme von Geflüchteten 2012 das Paradies auf Erden gewesen. Ein Vakuum, frei von schlechten Einflüssen.
Es scheint in Ordnung zu sein. Es richte sich nicht gegen Rassen, also könne man kein/e RassistIn sein. Es geht bloß gegen das Festhalten an einer Religion, gegen die Umsetzung im Alltag, gegen die vielen Moscheen und die leeren Kirchen, gegen die hohe Geburtenzahl unter Muslimen und Muslimas und die niedrigen unter ChristInnen. Doch, dabei handelt es sich eindeutig um Rassismus! Was sagt das aber über die eigenen Vorstellungen aus? Über den eigenen Glauben? Über die eigene Persönlichkeit? Ist der befürchtete „Untergang des Abendlandes“ tatsächlich das Problem oder liegt es nicht eher an der eigenen Unzufriedenheit?
Die meisten Muslime und Muslimas haben doch ähnliche Sorgen wie ihre nicht-muslimischen MitbürgerInnen und ärgern sich über ähnliches. Wir sorgen uns um unsere Erde, unsere einzige Erde. Stören uns an dem immer noch unzureichenden Umwelt- und Tierschutz, den schlechten Löhnen vieler ArbeiterInnen und den gleichzeitig zu hohen vieler ManagerInnen. Wir können manchmal ebenso schlecht einschlafen, weil wir uns Gedanken um die Zukunft machen. Können morgens manchmal ebenso schlecht aufstehen. Ich behaupte, viele Muslime und Muslimas teilen die Sorgen und Ängste vieler AfD-WählerInnen. Der gravierende Unterschied besteht aber in der potenziellen Lösung all dieser Probleme. Wir brauchen keine AfD, die uns aufhetzt und die Probleme bloß verlagert, ja gar verschlimmert. Wir brauchen klare und praxisnahe Lösungsvorschläge. Wir brauchen Menschen, die aufeinander zugehen. Menschen, die Liebe verbreiten.
von Sinem Eker