Warum haben die Alliierten die Gleise nach Auschwitz nicht bombardiert?

Jedes Jahr, wenn am 8. Mai die Kapitulation der deutschen Wehrmacht gefeiert wird, kommt die Frage auf, warum die Alliierten die Todesfabriken nicht unmittelbarer angegriffen haben.
8. Mai 2016 |

Am 27. Jänner erreichten russische Soldaten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Was sie dort vorfanden, hat die ganze Welt erschüttert. Die Nazis hatten das Lager zwischen 17. und 23. Jänner evakuiert und 60.000 Häftlinge auf Todesmärschen Richtung Westen getrieben. Die Russen fanden die zurückgelassenen 7.500 Gefangenen vor – völlig entkräftet, abgemagert und krank starben viele von ihnen noch nach ihrer Befreiung.

Es drängt sich die Frage auf: Hätten die Alliierten den Betrieb des Konzentrationslagers früher stören und damit hunderttausende Leben retten können?

Holocaust war bekannt

Schon 1941 erfuhren die Briten, durch die Entschlüsselung von Geheimnachrichten, von Massenerschießungen polnischer Juden. Spätestens im Jahre 1942 war es dank des heroischen Einsatzes verschiedener Einzelpersonen, etwa des polnischen Diplomaten Jan Karski, die Vernichtungsmaschinerie der Nazis innerhalb der alliierten Führungsriege allgemein bekannt. Die Berichte stießen auf eine Mischung aus Unglauben über die Geschehnisse und Ignoranz.

Im April 1944 gelang Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler die Flucht aus Auschwitz. Ihre Berichte erreichten Juden in den Ghettos, die noch nicht in KZs deportiert worden waren, und die alliierten Regierungen. Einzelne britische und amerikanische Diplomaten empfahlen daraufhin ihren Regierungen die Bombardierung der Vernichtungslager und lieferten genaue Pläne der Gleise sowie der involvierten deutschen Dienststellen. Die Nazis wussten von diesen Plänen und setzten die Deportationen in die Todesfabriken dennoch fort. Die Empfehlungen wurden nie umgesetzt.

Zerstörte Mythen

Historiker rechtfertigen bis heute das Nicht-Eingreifen mit technischen Argumenten: Die Gleise wären außerhalb der Reichweite alliierter Bomber gewesen, die Nazis hätten sie schnell wieder reparieren können und Bomben hätten Unschuldige getötet.

Dagegen sprechen einige Fakten. Laut dem amerikanischen Historiker David Wyman lag das 15. Regiment der US-Luftwaffe, das in Italien stationiert war, seit Mai 1944 in Reichweite von Auschwitz. Der General der amerikanischen Luftstreitkräfte im Mittelmeergebiet Ira C. Eaker schickte im Juli 1944 Flugzeuge in die direkte Umgebung von Auschwitz und ließ eine Öl-Raffinerie der IG Farben bombardieren.

Die Alliierten waren geübt, Bomben auf Zuggleise abzuwerfen. Es gab hunderte Angriffe auf Bahnstrecken und es wäre eine Leichtigkeit gewesen, die Strecken nach Auschwitz zu zerstören und so die Vernichtungsmaschinerie der Nazis ins Stocken zu bringen. Auch eine direkte Bombardierung der Gaskammern, der Mauern oder der Baracken der Wärter wäre möglich gewesen. Die Alliierten verfügten spätestens seit April 1944 über Aufnahmen des Vernichtungslagers in Auschwitz.

Es war schon damals technisch möglich präzise Luftschläge durchzuführen, auch wenn manchmal das Gegenteil behauptet wird. Ein Beispiel ist die „Operation Jericho“: Am 18. Februar 1944 bombardierte die englische Luftwaffe ein deutsches Gefängnis für französische Widerstandskämpfer. Die Mauern und die Baracken der Wärter wurden getroffen und mehr als 200 Gefangene konnten fliehen.

Die politische Wirkung

Im April 1943 kam es im Warschauer Ghetto zu einem beeindruckenden Aufstandsversuch. Hunderte Juden hatten sich Waffen besorgt und bekämpften die Nazis. Diese konnten den Aufstand nur beenden, indem sie das Ghetto vollständig niederbrannten.
Im April 1943 kam es im Warschauer
Ghetto zu einem beeindruckenden
Aufstandsversuch. Die Nazis konnten den Aufstand nur beenden, indem sie das Ghetto vollständig niederbrannten.

Wie sehr man die Opfer der Nazis mit der Bombardierung der Lager hätte unterstützen können, wird erst klar, wenn man die Geschichte des Widerstands kennt, der sich in den Lagern entwickelt hatte. Im Lager Treblinka kam es zu einem Aufstand, nach welchem die SS das Lager nicht weiter betreiben konnte.

Am 2. August 1943 um genau 16 Uhr explodierten mehrere Handgranaten mitten im Lager, einige Wärter und SS-ler wurden getötet und um die 250 Gefangenen gelang die Flucht. Das Lager und sein grausamer Zweck konnte nicht mehr geheim gehalten werden. Zwei Monate später gab es auch im Vernichtungslager Sobibor einen Aufstand. Genau wie in Treblinka wurde auch dieses Lager kurz nach dem Aufstand geschlossen und zerstört.

Die Fortsetzung der Massenvernichtung im Osten konnte nur funktionieren, solange sich die Opfer über ihr Schicksal nicht völlig im Klaren waren. Die Nazis waren darauf angewiesen, dass in den Ghettos möglichst wenig Widerstand gegen die Massendeportation in die KZs geleistet wurde. Wo es wie im Warschauer Ghetto zu Aufständen kam, kämpften die Menschen Monate lang und niemand ließ sich mehr freiwillig in die Waggons verladen.

Ein anderer Kriegsverlauf

Genau diese Wirkung hätte ein Bombardement der Gleise nach Auschwitz und des Lagers haben können. Bomben hätte vermutlich auch Unschuldige getötet, aber wie zu anderen Gelegenheiten hätten die Insassen das Chaos genutzt um gegen die SS vorzugehen und um zu fliehen. Solche Bomben hätten den Jüdinnen und Juden des Ghettos in Budapest klar gemacht, welches Schicksal sie erwartet. Es darf bezweifelt werden, dass die Nazis das Ghetto dann noch widerstandslos hätten räumen können.

Aufstand in Auschwitz

Aufstand in Auschwitz

Die Entscheidung, Auschwitz nicht zu bombardieren, geschah aus taktischen Erwägungen. Man hätte damit das Kriegsgeschehen verlagert, vielleicht auch den Krieg verlängert, aber vor allem hätte die einfache Bevölkerung, die Opfer der Nazis, eine wichtigere Rolle im Krieg bekommen. Man hätte mit ihnen nach dem Krieg auf Augenhöhe verhandeln müssen. Zahlreiche Beispiele, wie die britischen Bomben auf griechische Partisanen oder die Inhaftierung von Widerstandskämpfern in Stalins Gefängnissen, zeigen, dass Befreiungen von unten mit den Kriegszielen der Alliierten nicht kompatibel waren.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.