Wie Stalin die Russische Revolution auslöschte
Lenin führte nicht einfach zu Stalin, wie so oft behauptet wird. Wer verstehen will, wie die demokratischste aller Revolutionen der Menschheit vom Oktober 1917 zur brutalen Diktatur Stalins (den Moskauer Schauprozessen, dem Hitler-Stalin-Pakt und der Niederschlagung der Arbeiteraufstände in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und Tschechien 1968) geführt hat, der muss sich ansehen, wie radikal der blutige Bürgerkrieg die gesellschaftliche Struktur in Russland veränderte.
Im Oktober 1917 war die Mehrheit der Arbeiter_innenklasse und der Bauernschaft für die Idee gewonnen, dass sie selbst als Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, die „Sowjets“, die Macht übernehmen und die Provisorische Regierung zum Teufel jagen sollten. Die Fortsetzung des Krieges, Hunger und die ungelöste Landfrage der Bauern trieb die Bevölkerung in das Lager der Bolschewiki, die am konsequentesten für ihre Wünsche und Sehnsüchte kämpften.
Arbeiterdemokratie
Die bürgerliche Regierung schwang bloß große Reden, wie wir es von heutigen Schwätzern kennen. Aber die Sowjets funktionierten völlig anders. Die Menschen wählten in Fabriken, Bezirken und Garnisonen ihre Delegierten, die ihnen direkt rechenschaftspflichtig waren und die sie jederzeit absetzen konnten. Der US-amerikanische Journalist John Reed beobachtete: „Noch nie wurde eine Körperschaft erfunden, die für den Willen der Bevölkerung dermaßen empfänglich und zugänglich war.“
Die Errungenschaften dieser Organe radikaler Selbstverwaltung in der ersten Phase der Revolution waren gewaltig. Angeführt vom Proletariat in den größten Städten Petrograd und Moskau leiteten sie das Ende des Ersten Weltkriegs ein, trafen unverzüglich Maßnahmen zur Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung, verteilten das Land der Großgrundbesitzer unter den Bauern und nahmen die Betriebe unter ihre demokratische Kontrolle. Eine neue Regierung, der „Rat der Volksbeauftragten“ wurde gebildet. Kultur und Literatur blühte auf.
Dieser mutige Versuch, eine völlig andere, radikal-demokratische Gesellschaft von unten aufzubauen, stand allerdings auf wackligen Beinen. Russland war ein extrem rückständiges Land und die Mehrheit waren Bäuerinnen und Bauern, die keinen langfristigen Nutzen an der Mitwirkung an einem sozialistischen, kollektiv geführten Staat sahen. Rosa Luxemburg prophezeite, dass sie, sobald sie ihr eigenes Land hatten, das sie bestellen könnten, der Revolution die Unterstützung entziehen würden.
Weltrevolution
Die Bolschewiki hatten dieses Problem nicht einfach „übersehen“. Lenin meinte, man könnte das kapitalistische Weltsystem, den Imperialismus, an seiner schwächsten Stelle brechen, und das war für ihn die „Peripherie“. Eine Revolution in Russland würde aber unmittelbare Auswirkungen für die entwickelteren kapitalistischen Länder haben (der globale Handel und die Investitionen hatten sie verbunden), und es könnte dort ebenfalls zu Aufständen und Revolutionen kommen.
So wie die verhältnismäßig kleine aber mächtige Arbeiterklasse in Russland die Mehrheit der Bauern benötigte, so brauchte die Arbeiterklasse in der Peripherie die Unterstützung der Arbeiterklassen in den entwickelteren Ländern. Die Lösung konnte nur lauten: internationale Revolution.
Sieben Monate vor der Oktoberrevolution schrieb Lenin: „Das russische Proletariat kann die sozialistische Revolution nicht allein mit seinen eigenen Kräften siegreich vollenden.“ Nur vier Monate nach dem Sieg der Oktoberrevolution wiederholte er: „Es ist eine absolute Wahrheit, dass wir ohne die deutsche Revolution verloren sind.“ Die Bolschewiki waren durch und durch Internationalisten. Rosa Luxemburg hob in Deutschland dieses herausragende Merkmal hervor: „Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen Ereignissen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.“
Panik unter Eliten
Für einen Augenblick sah es tatsächlich so aus, als könnte die internationale Revolution gewinnen. Im November 1918 stürzten Arbeiter_innen und Soldaten das deutsche Kaiserreich, die Revolution in Österreich-Ungarn brachte die Habsburger zu Fall, der Vielvölkerstaat brach auseinander. In Ungarn und Bayern überlebten für kurze Zeit Räterepubliken, in Italien erschütterte eine Welle von Fabriksbesetzungen die Städte, Frankreich und Spanien waren in Aufruhr.
Die russische Revolution inspirierte revolutionäre Massenbewegungen auf der ganzen Welt. Die österreichische Revolution stürzte am 12. November 1918 die Österreichisch-Ungarische Monarchie, Kaiser Karl I. floh aus der Hauptstadt Wien. Eine Massendemonstration stürmte die Parlamentsrampe und enthüllte das Transparent „Hoch die sozialistische Republik!“. Foto: VGA
Anfang 1919 meinte der britische Premierminister Lloyd George: „Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt. Die Arbeiter sind nicht nur von einem tiefen Gefühl der Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen, wie sie vor dem Krieg bestanden, ergriffen, sondern von Groll und Empörung. Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.“
Die Machthaber der Welt wussten, dass, wenn sie die rote Flut stoppen wollten, sie die Russische Revolution ausradieren mussten. 1918 zettelten sie mit den ehemaligen Generälen des zaristischen Staates einen mörderischen Bürgerkrieg gegen die junge Sowjetrepublik an. 14 Länder, darunter Deutschland, Frankreich, England, Japan und die USA, schickten Waffen, Munition und Soldaten für die konterrevolutionären „weißen“ Truppen.
Bürgerkrieg
Die Weißen hatten nie einen Hehl daraus gemacht, was sie mit der Revolution machen würden. General Kornilow erklärte: „Selbst wenn wir halb Russland niederbrennen und das Blut von drei Vierteln der Bevölkerung vergießen müssen, wir werden es tun.“ Sie richteten Pogrome in jüdischen Dörfern an und metzelten Tausende nieder. Mit der Unterstützung des Volkes, dem revolutionären Eifer und teilweise scheinbar mit bloßer Willensanstrengung konnte die Rote Armee, angeführt von Leo Trotzki, die Weißen zurückschlagen.
Rekrutinnen der Roten Armee zur Verteidigung Petrograds im Bürgerkrieg, 1918. Foto: Archiv
Lenin glaubte, dass ein isolierter russischer Arbeiterstaat unter dem bloßen Druck feindlicher Truppen aus dem Ausland zerbrechen würde. Die Bolschewiki gingen jedoch als Sieger hervor, aber mit enormen Kosten. Die Industrieproduktion betrug 1921 nur mehr 12 bis 16 Prozent des Vorkriegsniveaus. Fabriken mussten schließen. Die Arbeiterklasse war auf unter die Hälfte ihrer früheren Stärke dezimiert worden. Der Rest war entweder gefallen oder in die Dörfer zurückgekehrt, wo sie in mühsamer Heimarbeit Dinge im Austausch für Nahrungsmittel herstellten.
Klasse verwüstet
Das Proletariat hatte durch die furchtbare Verwüstung des Bürgerkriegs aufgehört als Klasse zu existieren – jene industrielle Klasse, die die Revolution 1917 angeführt hatte und von deren Aktivität und Energie die radikale Sowjetdemokratie lebte. Es war eine äußerst paradoxe Situation: Der Konterrevolution war es von außen gelungen die revolutionäre Arbeiterklasse zu zerschlagen, aber der neue Staatsapparat, den sie aufgebaut hatte, blieb erhalten.
Hinzu kam, dass die Bauern nach dem Sieg über die Weißen die gemeinsame Mission mit ihren verbündeten Arbeiter_innen verloren. Was sie jetzt zusammenhielt, war der Widerstand gegen die Steuern und die Zwangsablieferungen von Getreide für die Versorgung der Städte. Sie forderten die Regierung der Volkskommissare offen heraus – am bekanntesten, und zugleich tragischsten, ist der Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921, den die Bolschewiki niederschlagen mussten.
Bürokratisierung
Die Bolschewiki waren gezwungen, sich aus der Avantgarde der Arbeiterklasse in eine Art Jakobiner-Diktatur zu verwandeln, die stellvertretend für die Klasse handelte. Um die Funktionsfähigkeit des Staates aufrechtzuerhalten, mussten die Bolschewiki tausende alte zaristische Beamte in den Dienst zurücknehmen. Ende 1922 stellte Lenin zu seinem Unmut fest, dass der Staatsapparat „vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt“ sei.
Die Partei selbst blieb von diesem Einfluss nicht verschont. „Bürokraten gibt es bei uns nicht nur in den Sowjet-, sondern auch in den Parteiinstitutionen“, beklagte Lenin. Die Kontrollmechanismen (wie Fraktionsverbote), die ursprünglich gedacht waren, um sich vor bürokratischen Einflüssen zu schützen, arteten selbst bald in undemokratischen bürokratischen Wucher aus. Für Oppositionelle in der Partei wurde es immer schwieriger, Gehör und Platz zu finden.
Zu den vehementen Kritikern der bürokratischen Auswüchse und des Mangels innerparteilicher Diskussion gehörte Trotzki. Er dachte allerdings nicht, dass die Bürokratie stark genug wäre, eine neue herrschende Klasse zu bilden – doch genau das passierte. Die wirkliche Macht im Staat wanderte von den demokratisch gewählten Arbeiterorganen in die Hände kommunistischer Parteifunktionäre. Stalin, seit 1922 Parteisekretär, stand dieser bürokratischen Konterrevolution vor, die nunmehr die Wirtschaft und den Staat kontrollierte.
Konterrevolution
Stalin kehrte der proletarischen Weltrevolution den Rücken und argumentierte für den „Sozialismus in einem Land“ und die Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes“. Um international konkurrenzfähig zu sein, um militärisch mit dem Westen und insbesondere später mit Hitlerdeutschland mithalten zu können, zog Stalin eine brutale Industrialisierung durch, verbot Streiks und unterdrückte jeden Widerstand von Werktätigen. 1931 meinte er: „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt.“
Stalin ermordete nicht nur die gesamte Führungsriege der Oktoberrevolution, er ließ die Erinnerungen daran auch bildlich vernichten. Kamenew und Trotzki wurden im berühmten Bild von Lenins Rede vor dem Bolschoi-Theater 1920 in Moskau einfach wegretuschiert. Der Fotograf, Grigori Petrowitsch Goldstein, wird während der stalinistischen Säuberungen verhaftet. Foto: Archiv
Die Abkehr vom Internationalismus ging Hand in Hand mit der Abkehr von der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse. Arbeiter_innen waren nicht länger das Subjekt für Selbstbefreiung, sondern Mittel zum Zweck kapitalistischer Akkumulation. Die nunmehr von Stalins Bürokratie kontrollierte Kommunistische Internationale (Komintern) handelte nicht mehr als eine „revolutionäre Internationale“ (Lenin), sondern als bloßes außenpolitisches Instrument Moskaus. Stalin benötigte stabile Beziehungen zum Westen, keine Revolutionen.
Die Komintern verriet 1926 den englischen Generalstreik, in dem sie sich auf die Seite der reformistischen Gewerkschaftsführung gegen die Basisaktivität der Lohnabhängigen schlug. In der Chinesischen Revolution von 1925-27 trieb die Komintern die Kommunistische Partei (KP) in ein tödliches Bündnis mit der bürgerlichen Kuomintang-Partei. Nachdem die Kuomintang die Kontrolle über die Aufstandsbewegung wiedererlangt hatte, merzte sie die KP, Gewerkschaften und jede Spur von Arbeiterorganisation einfach aus.
Verrat am Marxismus
Die selbstmörderische Haltung der Komintern zur deutschen Sozialdemokratie, die Stalin als den „gemäßigten Flügel des Faschismus“ bezeichnete, verhinderte einen gemeinsamen Kampf der Werktätigen gegen Hitler und beförderte tausende kommunistische Parteimitglieder in Konzentrationslager. 1934 wehrten in Frankreich Basisinitiativen von Arbeiter_innen eine Offensive der Faschisten ab, aber anstatt diese selbstorganisierten Zellen auszubauen und selbst in die Offensive zu gehen, schloss die Kommunistische Partei auf Weisung Moskaus eine „Volksfront“ mit der sozialdemokratischen SFIO und republikanischen Radikalen.
1939 feiern die russische Generalität und Stalin mit der deutschen Gesandtschaft in Moskau die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes. Foto: Archiv
Wenig später vereitelte die Komintern in Spanien die nächste revolutionäre Gelegenheit: 1936 putsche General Franco gegen eine Volksfront-Regierung, doch überall in Katalonien schossen spontan militante antifaschistische Komitees aus dem Boden und Arbeiter_innen besetzten Fabriken. Anstatt die Komitees mit Waffen zu versorgen und die Revolution auf ganz Spanien auszuweiten, versuchte Stalin die Bewegung einzudämmen und ließ wenig später die Polizei auf die Anarchisten und Trotzkisten los. Stalin wollte stabile Beziehungen zu Frankreich, das riesige Angst vor einer siegreichen Revolution im Nachbarland hatte. Der Pakt mit Hitler 1939 setzte der Perversion die Krone auf.
Wenn wir 2017 das hundertjährige Jubiläum der Russischen Oktoberrevolution feiern, dann tun wir das stolz in der trotzkistischen Tradition, die den Internationalismus und die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse hochhält.
Der Autor spricht am antikapitalistischen Kongress Marx is Muss im Wiener Amerlinghaus zur Russischen Revolution (Freitag, 5. Mai um 17:15 Uhr). Das gesamte Programm findest du hier.