Novecento: 1900
Es ist in der heutigen Zeit kaum vorstellbar, welche kulturellen Auswirkungen die Bewegungen der 1960er und 1970er-Jahre hatten, auch im Kino. In den Jahren nach den Aufständen von 1968 bis in die 1980er waren Projekte möglich, die heute undenkbar wären. So gelang es der äußerst starken Regie-Persönlichkeit Bernardo Bertolucci 1976 seinen offen klassenkämpferischen, pro-kommunistischen Epos „1900“ („Novecento“) von gleich drei amerikanischen Studios, United Artists, Paramount und 20th Century Fox finanzieren zu lassen – und das Budget kräftig zu überziehen. Bertolucci betonte in Interviews, dass „1900“ ein „kommunistischer Film“ sei und er „die rote Fahne auch in die USA tragen“ wolle.
Die Basis dafür, dass Hollywood dem 35-jährigen Bertolucci derart viel (Einnahmen an der Kassa) zutraute, war der Erfolg seines Films „Der letzte Tango von Paris“ (1972) mit Marlon Brando, der vor allem durch seine explizite Darstellung von Sexualität Aufsehen erregt hatte, in einer Zeit, als sich sexuelle Befreiung und Pornografie nicht immer deutlich unterscheiden ließen. Wie die meisten Werke Bertoluccis hatte der Film Publikum und Presse in begeisterte Fans und wütende Gegner_innen gespalten. Von den Bildern her machte der Regisseur einen gewaltigen stilistischen Schritt.
Kollektivistisches Kino
Nach der engen, unangenehm intimen, fast klaustrophobischen Kamera im „letzten Tango“ ist „1900“ durch weite, gemäldeartige Aufnahmen und durchchoreografierte Massenszenen geprägt. „Kollektivistisches sozio-politisches Kino“ nannte man das.
Mit viel Gefühl für das Arbeiten mit natürlichem Licht wurden die Aufnahmen von Bertoluccis kongenialem Kameramann Vittorio Storaro komponiert, der übrigens 1981 bei Warren Beattys kommerziellerem Revolutionsdrama „Reds“ an der Kamera war. Ennio Morricone („Spiel mir das Lied vom Tod“) in Kombination mit Verdis revolutionärer Musik machen den bewegenden Soundtrack von „1900“ aus.
Verfilmter Klassenkampf
Der Plot von „1900“ dehnt sich von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und erzählt die Geschichte von Aufstieg und Fall des italienischen Faschismus. Wie wenige andere Filme macht „1900“ den Klassenkampf, die Rolle der Faschisten als Beschützer des Privatbesitzes und den trotzigen, revolutionären Mut der Proletarier erlebbar. Dazu beigetragen hat auch, dass „echte“ Dorfbewohner_innen als Komparsen verpflichtet worden waren.
Ein Landgut in der Gegend von Parma bildet den zentralen Handlungsort, wo reiche Großgrundbesitzer, arme Bauern und Bäuerinnen und Faschisten aufeinandertreffen. Bertoluccis Kunstgriff besteht darin, die verschiedenen sozialen Klassen in einzelnen Protagonist_innen zu verdichten und das Verhältnis zwischen diesen Klassen mit den Verhältnissen zwischen diesen Personen korrelieren zu lassen. Wie ein wunderschönes, episches Lehrstück mit unglaublicher Sympathie für die Landarbeiter_innen Italiens wirkt „1900“.
Freund und Feind
Der Cast des Films ist ein weiteres Glanzstück des Regisseurs. Ein damals schon berühmter Robert de Niro („Taxidriver“) spielt Alfredo, den Erben des Landguts. Sein Großvater, der patriarchale Gutsbesitzer wird tatsächlich von Burt Lancaster gespielt. Angeblich verzichtete die Hollywood-Legende auf jegliche Gage, weil er meinte, der arme Italiener Bertolucci könnte sich sein normales Salär niemals leisten.
Ein junger Gérard Depardieu (man vergesse bitte kurz seine Aktivitäten der jüngsten Zeit) spielt mit einer Mischung aus Naivität und Entschlossenheit die Rolle des Olmo, den Sohn eines Vorarbeiters, der später zum sozialistischen Anführer wird. Alfredo und Olmo sind als Buben so gute Freunde, dass die Beziehung fast homoerotische Züge hat. Im Laufe der Handlung werden die beiden an unterschiedliche Seiten einer sich verschärfenden Klassenauseinandersetzung getrieben.
Der Faschismus in „1900“ zeigt sich nicht nur durch brutale Gewalt und sexuelle Perversion, sondern durch das einprägsame Gesicht von Donald Sutherland, der die Rolle des Faschisten Attila (!) mit unglaublicher Intensität, immer am Rande des Wahnsinns, spielt. Als die Faschisten auf dem Landgut die Kontrolle übernehmen, verwandelt es sich in eine Art Lager. Die Szenen gemahnen an die „120 Tage von Sodom“ (1975) von Per Paolo Pasolini, dessen Assistent Bertolucci gewesen war. Bertolucci bezeichnete „1900“ selbst als „Dialog mit Pasolini“.
Ein Fels in der Filmgeschichte
Als „1900“ herauskam, wurde er sofort auch zum Ziel heftiger Kritik. Abgesehen von politischen Motiven warfen Kritiker_innen dem Film Überstilisierung und Kitsch vor. Besonders angefeindet wurde Bertolucci für die eindeutige Darstellung von Sexualität. Was aber wie ein Felsen in der Filmgeschichte steht, ist ein Streifen, der den Kampf des Proletariats gegen Kapitalismus und Faschismus nachvollziehbar und vor allem emotional begreifbar macht – in Szenen wie der, in der sich die Bäuerinnen vor den berittenen, auf sie zustürmenden Soldaten auf den Boden legen, während dahinter die Landarbeiter mit Prügeln bewaffnet warten. Als die Soldaten bedrohlich näher kommen, stimmen die Bauern „Bella Ciao“ an und bleiben todesmutig stehen. Die Soldaten müssen sich zurückziehen, der anwesende Grundbesitzer bekommt einen Wutanfall, beschimpft die Soldaten, nennt die Arbeiter „Bolschewiken“ und schießt mit der Schrotflinte selbst in die Menge.
Oder die Szene zu Beginn, in der arme Bauersfrauen 1945 einen noblen Herren mit Mistgabeln jagen. Eine Gewalt, deren Erklärung dann praktisch der ganze Film bildet. Zum Schluss wird der Faschismus militärisch besiegt, doch Bertolucci deutet an, dass der Kampf nicht vorbei ist. Die Geschichte, nicht nur Italiens, zeigt, wie recht er hatte.