Für und wider die Gewalt

In jeder Protestbewegung, die sich gegen das System stellt, gibt es eine ernsthaft zu führende Diskussion, wann der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt ist. Wir brauchen eine Ethik der Gewalt in der Revolte.
20. März 2019 |

Wir diskutieren diese Frage, die Ethik der Gewalt, nicht aus irgendeiner abstrakten oder neutralen Position heraus, sondern als Kämpfer_innen für eine bessere Welt. Als solche haben wir ein Gegenüber, das Gewalt einsetzen „darf“, um den Status Quo aufrecht zu erhalten – den bürgerlichen Staat mit seinem Monopol auf Gewaltanwendung.

Als Sozialist_innen sind wir nicht nur momentan in Protestbewegungen aktiv, sondern bereiten uns auch ganz offen auf den Tag vor, an dem die unterdrückten Klassen daran gehen, das bestehende System zu stürzen. Deshalb brauchen wir eine Ethik der Gewalt, die darüber hinausgeht, Gewalt vonseiten der Unterdrückten als unvermeidliche Tatsache im Laufe von Revolten anzuerkennen.

Drei verschiedene Strömungen

In der Frage der Gewalt in der Revolte trifft man auf drei Hauptströmungen: Erstens sei eine Form des Liberalismus erwähnt, die den Einsatz von Gewalt dann legitimiert, wenn sie zur Verteidigung der liberalen Demokratie und der Werte, die üblicherweise damit assoziiert werden (Rede- und Versammlungsfreiheit, persönliche Freiheitsrechte etc.), eingesetzt wird. Das kann weiters auch so ausgelegt werden, dass Regierungen oder Institutionen, die als Verteidiger der liberalen Demokratie wahrgenommen werden, das Recht zugesprochen wird, Gewalt auch gegen linke Protestbewegungen einzusetzen und nicht nur gegen explizit antidemokratische Umstürzler.

Diese Kräfte sind unter Umständen auch für den Kampf gegen Faschismus mobilisierbar, deshalb müssen wir unsere Kräfte streckenweise bündeln. Aber während entscheidenden Phasen von Protestbewegungen werden wir uns auf verschiedenen Seiten der Frontlinien wiederfinden, weil sie Verteidiger des staatlichen Gewaltmonopols sind.

Als zweite Strömung treffen wir auf den Pazifismus, dessen Vertreter_innen argumentieren, dass im Kampf um Veränderungen und selbst im Kampf gegen Gewaltherrschaft der Einsatz von Gewalt nie legitimiert sein kann. Gewalt habe einen entmenschlichenden Effekt auf die Gewalt ausübenden Individuen und infolgedessen auch auf die resultierende Gesellschaftsform oder den gesellschaftlichen Kompromiss, der als Resultat auf den gewaltsamen Kampf folgt. Mahatma Gandhi ist der bekannteste Vertreter dieser Strömung, Martin Luther King hat diese Haltung aber mindestens genauso eloquent vertreten.

Martin Luther King und Malcolm X, zwei Größen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung © Wikimedia Commons (United States Library of Congress)


Die dritte Strömung ist die der revolutionären Sozialisten, die den Einsatz von Gewalt dann als legitimiert sehen, wenn sie von den Unterdrückten eingesetzt wird, einer gerechten Sache dient und zur Überwindung der Gegengewalt nützlich ist. Die bekanntesten Vertreter dieser Haltung sind sicherlich Marx und Engels, Lenin, Trotzki, bei vielen noch Frantz Fanon.

Taktischer Pazifismus

In der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre waren verschiedene Gesellschaftsschichten involviert. Für die afroamerikanische Bevölkerung der ärmeren Schichten war Gewaltverzicht eher eine taktische Frage. Gewalttätige Polizisten waren in den Wohnvierteln der afroamerikanischen Bevölkerung allgegenwärtig. Diese Menschen wussten, wozu der Staat imstande ist, und dass sie im Ernstfall auf sich alleine gestellt sein würden.

Eine gewalttätige Konfrontation hätte dem Staatsapparat den willkommenen Vorwand geliefert, die Bürgerrechtsbewegung zu zerschlagen – mit dem Schwerpunkt auf die arme Bevölkerung. Diese ständige Drohung mit Repressalien war ein Grund, warum sich der Bewegung unter der Führung von Martin Luther King (MLK) so viele Menschen anschlossen. Man wusste, dass unter dieser Führung der Polizei nicht so leicht ein Vorwand geboten wird, zu den Waffen zu greifen.

Dennoch war eine prinzipiell feindselige Haltung gegenüber den US-amerikanischen Eliten permanent spürbar. Diese Bewegung konfrontierte das System, anstatt mit ihm zu kollaborieren. MLK selbst wurde mit der Zeit auch immer radikaler. Das ursprüngliche, bis heute nicht verwirklichte Ziel, war, die Bürgerrechte, die laut Verfassung allen US-Bürgern zustanden, allumfassend der schwarzen Bevölkerung zu garantieren. Aber, so MLK: „weil ich das Gefühl hatte, unsere Forderungen wären moderat, ging ich davon aus, dass wir sie ohne viel Aufsehen zugestanden bekommen würden … Ich musste herausfinden, dass niemand seine Privilegien ohne starkem Widerstand aufgibt.“

King änderte seine Taktik und seine Schwerpunkte. In den Monaten vor seinem Tod bereitete er einen „Marsch der Armen“ auf Washington vor, der die schwarze und weiße Arbeiter_innenklasse mobilisieren sollte. Die Darstellung der Bürgerrechtsbewegung als eine rein pazifistische, die ihre Erfolge mit den Mitteln der reinen Gewaltlosigkeit erzielt hat, stimmt so ganz einfach nicht. Die Drohung von Gewalt stand im Raum und sie war hilfreich. FBI-Chef J. Edgar Hoover nannte King „the most dangerous Negro in America“ (den gefährlichsten „Neger“).

King wandte sich vehement gegen den Vietnam-Krieg, nannte die US-Regierung den schlimmsten Urheber von Gewalt, attackierte Kapitalismus als rassistisches System und bekam zunehmend Unterstützung von radikalen Führern der Bewegung wie Malcolm X. Am 4. April 1966 wurde MLK ermordet und als Reaktion darauf brachen Aufstände in zahlreichen US-Städten aus, darunter New York City, Chicago, Baltimore, Detroit und Washington, D.C. Die Black Panther-Bewegung wurde im selben Jahr gegründet, mit dem Ansatz, der Polizeigewalt bewaffnet gegenüberzutreten, und gewann tausende Anhänger.

Gandhi

Mindestens so bekannt und für seinen Pazifismus vielleicht noch mythischer verehrt wird heute Gandhi, der bekannteste Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Martin Luther King glaubte, „dass Gandhi für die Menschheit unausweichlich sei, wenn sie fortschreiten wolle.“ Gandhis Beitrag zur Unabhängigkeitsbewegung hat dem Prinzip der Gewaltlosigkeit enormes Ansehen verliehen. Aber die Revolte gegen die britische Herrschaft war alles andere als gewaltlos, und das war vor allem dem brutalen Regime der Kolonialherren geschuldet. Mohandas Karamchand Gandhi übernahm 1921 die Führung über den Indischen Nationalkongress (INC) und machte ihn zur stärksten Partei Indiens.


Gandhi mit Textilarbeiterinnen in Darwen, Lancashire, 26. September 1931© Wikimedia Commons (unbekannt)


Gandhis Strategie basierte auf gewaltfreiem zivilen Ungehorsam. Er suchte bewusst die Akzeptanz der gehobenen Klassen Indiens: „Ich werde nie an der Enteignung der besitzenden Klassen Indiens teilhaben“, versprach er bei einer Gelegenheit. „Wir wollen das Kapital an unserer Seite schmieden. Es wäre eine Torheit, Streiks zu ermutigen.“ Weil er die Großgrundbesitzer unterstützte und versuchte, Bauern von ihren Kämpfen um mehr Rechte und Boden abzuhalten, verweigerte ihm 1947 dasselbe Dorf eine Mahlzeit, das ihn zuvor mit Blumengirlanden überschüttet hatte.

Im Kontrast zu King war Gandhis Gewaltverzicht ein Entgegenkommen und eine Beschwichtigung der reichen Inder. Sie sollten nach seiner Vorstellung die Führung des Landes übernehmen, wenn die Briten erst einmal das Land verlassen hätten. 1942 startete der INC die riesige „Quit India“-Bewegung (Verlasst Indien). Aber die Proteste wurden zumeist mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. In Bombay (Mumbai) alleine töteten die Briten 2.000 Menschen. Eine zweite Protestwelle brach 1946 los. Eine Meuterei von über 20.000 indischen Seeleuten auf 78 Schiffen brachte die Entscheidung herbei. Über 300.000 Arbeiter_innen in Mumbai streikten in Solidarität mit den Seeleuten.

Obwohl der Indische Nationalkongress Gandhis die Seeleute davon überzeugen konnte, die Meuterei zu beenden, waren die Briten jetzt zur Überzeugung gekommen, dass sie Indien nicht weiter halten konnten. Gandhis Massenbewegung war zweifellos ein wichtiger Faktor bei der Mobilisierung von Millionen, die so die Schwächen des britischen Imperiums erleben konnten, aber bei weitem nicht der einzige und auch nicht der entscheidende Faktor. Bevor sie abzogen, teilten die Briten das Land in ein mehrheitlich von Hindus bewohntes Indien und ein mehrheitlich muslimisches Pakistan. Unmittelbar nach der Teilung kamen eine Million Menschen bei den Unruhen ums Leben. Dabei zeigte der Unabhängigkeitskampf, dass es viel leichter gewesen wäre, „Hindus und Muslime an den Barrikaden zu vereinen, als danach an der konstitutionellen Front“, wie es ein Sozialist damals ausdrückte.

Guerillakampf

Che Guevara ist bis heute der Inbegriff eines Revolutionärs und er wird, trotzdem er unumwunden den Einsatz von Gewalt im revolutionären Kampf gutheißt, ikonisch verehrt. Allerdings hat die Geschichte gezeigt, dass Guerillakampf in den seltensten Fällen den Sturz eines Regimes so einfach bewerkstelligen kann, wie das in Kuba 1958 der Fall war. Kubas Regime unter Fulgencio Batista war bei der Bevölkerung verhasst und war am Zerbröseln, als der Guerillakampf die Entscheidung herbeiführte. Es waren relativ kleine Guerillaeinheiten, die Ende Dezember 1958 in die kubanischen Städte Santa Clara und Havanna einmarschierten. Und das ist das größere Problem, das Marxist_innen mit der Guerillastrategie haben – sie schließt die Massen von einer aktiven Rolle in der Veränderung der Gesellschaft aus.

Was Marx anvisiert, wenn er von der kommunistischen Gesellschaft spricht, ist eine friedliche Gesellschaft, in der die Klassen selbst aufgehoben sind, und damit die Herrschaft einer Klasse über die anderen Klassen. Um die Klassen aber aufzuheben, muss die Arbeiter_innenklasse nicht nur das bestehende System stürzen, sondern „zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst (ist) eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann“. Bewaffneter Kampf von Guerillaeinheiten ist im Kontrast dazu eine elitäre Sache, die nicht zuletzt aus Misstrauen gegenüber den Massen, den Kampf und die Waffen auf eine kleine Gruppe von Guerillakämpfern oder Attentätern begrenzt.

Selbstemanzipation

Das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen, ist ein unerlässlicher Schritt in der Bewusstseinsbildung der Massen. Nehmen wir eine Streikbewegung, die mit Gewalt konfrontiert ist, sei es durch Streikbrecher, sei es durch Polizei oder Armee. Wenn diese Bewegung aus Gründen des Prinzips auf Gegenwehr verzichtet, dann muss der Zeitpunkt, an dem sie mit Gewalt konfrontiert wird, notgedrungen auch der Moment des Rückzugs und damit der Niederlage sein.

Kämpfe am 28. März 1848 in Berlin in der Breiten Straße. Marx’ und Engels’ Werdegang war stark von der Revolution 1848 geprägt © Gemeinfrei


Tatsächlich ist es entscheidend, dass die Masse der Ausgebeuteten aktiv an Konfrontationen teilnimmt. Es sind diese Momente, wo wir erstens lernen, auf die Solidarität untereinander zu vertrauen und Vorurteile überwinden, wo wir auf die Fähigkeiten, die Kraft und die Kreativität der eigenen Klasse vertrauen lernen. Und erst in den großen Auseinandersetzungen, die von den Massen selbst geführt werden, überwinden wir nicht nur individuell sondern als Kollektiv die Illusionen in die Institutionen der herrschenden Klasse, sondern wir hinterfragen auch die neutrale Stellung von Polizei, Justiz und dem Beamtenapparat und das Gewaltmonopol des Staats. Rosa Luxemburg, die gerne fälschlich als Pazifistin dargestellt wird, hat das wunderbar in ihrem Werk über die 1905er-Revolution in Russland beschrieben.

Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg

Selbst, wenn es tatsächlich zu einer entschlossenen Konfrontation des Staats durch die Massen kommt, ist der Ausgang davon nicht zwingend erfolgreich. Schließlich hatte der Staat bis zu diesem Zeitpunkt ein Monopol auf die Gewalt und verfügt nicht nur über ein gewaltiges Arsenal an Waffen, sondern auch über eine effiziente, disziplinierte Armee von Soldaten, Polizisten und Beamten. Die Revolutionen am Ende des Ersten Weltkriegs in Russland oder auch in Österreich und Ungarn haben deshalb so schnell die herrschenden Regime gestürzt, weil die Soldaten ohne große Hindernisse in das Lager der Revolution übergelaufen sind.

Damit darf man aber nicht rechnen, das ist keinesfalls in jeder Revolution der Fall, wie wir etwa in der ägyptischen Revolution erleben mussten. Dort waren unter anderem zwei Faktoren entscheidend für die Niederlage der Revolution: Die Armee ist intakt geblieben, und die Arbeiterklasse hat sich nur zurückhaltend an der Revolution beteiligt. So beeindruckend und inspirierend die Straßenschlachten waren, die Konterrevolution konnte sich formieren und die Revolution zuerst ins Leere laufen lassen, um sie danach zu zerschmettern.

Daraus folgt, dass wir in revolutionären Kämpfen Strategien entwickeln müssen, um Teile der Armee zum Überlaufen zu bringen. Ob wir in einer bestimmten Situation auf Gewaltlosigkeit vertrauen oder auf entschlossensten Kampf, kann deshalb keine Frage des Prinzips, sondern nur der Taktik sein. Dagegen ist Selbstemanzipation sehr wohl eine Frage des Prinzips – keine Befreiung von oben oder durch Stellvertreter kann die Entwicklung ersetzen, welche die Masse der Werktätigen durchleben muss, wenn sie daran geht, sich von der Herrschaft der Minderheit der Kapitalisten zu befreien.